Streitkräfte und Strategien - NDR info
 30. Juni 2018


Vor dem NATO-Gipfel – US-Präsident als größte Herausforderung?

von Otfried Nassauer


Am 11. und 12. Juli ist es wieder soweit: Zwei Jahre nach Warschau steht der nächste turnusmäßige NATO-Gipfel an. Ein Arbeitsgipfel. 18 Monate nach dem Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident wünschen sich viele in der NATO „Business as usual", also einen normalen, geschäftsmäßigen Ablauf, bei dem die Allianz Beschlüsse fasst, wie sie weiter vorgehen will. Zudem gibt es den Wunsch,  dass von dem Treffen in Brüssel ein Signal der Geschlossenheit ausgeht. Erwartet wird das jedoch nur von wenigen. Im Gegenteil: Viele befürchten, es könne ähnlich wie beim G-7-Gipfel in Kanada zu einem Eklat kommen, Präsident Trump werde auch diesem Gipfel seinen Stempel aufdrücken. 

Wolfgang Ischinger, Chef der Münchener Sicherheitskonferenz artikulierte diese Sorge bei einem Gespräch der Körber-Stiftung kürzlich so:

O-Ton Ischinger (overvoice)
„Ich habe die schlimmsten Befürchtungen, richtig schlechte Träume, wenn ich an den bevorstehenden NATO-Gipfel denke und welche Art von Botschaft von diesem Gipfel ausgeht, wenn er so endet wie der G7-Gipfel. Was wäre das für eine Botschaft für unsere russischen Freunde. Es scheint so, als sei derzeit nichts so, wie es einmal war oder sogar wie es eigentlich sein sollte."

Beamte und Militärs in Brüssel haben die Gipfelbeschlüsse wie immer professionell vorbereitet. Wo Konsens unter den Bündnismitgliedern herrscht, wurde dieser formuliert. Zum Beispiel bei der verbesserten Zusammenarbeit zwischen NATO und EU, bei der Erhöhung der Einsatzbereitschaft oder bei der Reform der Nachschubfähigkeiten des Bündnisses. Hoch kontroverse und strittige Themen sollen dagegen ausgeklammert werden, zum Beispiel die Zukunft des Atomabkommens mit dem Iran. Bei überbrückbaren Differenzen sucht man Formelkompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Darin hat man in Brüssel jahrzehntelange Übung.

Genauso wie darin, offensichtliche Kontroversen auch zu benennen und so das sichtbare Konfliktpotenzial im Bündnis auf bereits Bekanntes und eventuell Nützliches zu begrenzen. Donald Trump werde weiter darauf bestehen, dass jedes NATO-Mitglied bis 2024 zwei Prozent seines Bruttoinlandproduktes für die Verteidigung ausgebe. Deutschland müsse sich bei diesem Thema warm anziehen, heißt es. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen habe sich bislang nur bereit erklärt, bis 2025 1,5 Prozent anzustreben. Trump sei das nicht genug.

Diese Kontroverse wäre für von der Leyen sogar nützlich. Sie fordert schon lange deutlich mehr Geld für die Bundeswehr als bislang trotz aller geplanten Steigerungen eingeplant ist. Druck aus Washington und Brüssel stärkt ihr den Rücken in der Innenpolitik. Ob dagegen zusätzliches Geld von der Bundeswehr auch effizient ausgegeben und auf der Zeitachse kosteneffektiv in zusätzliche militärische Fähigkeiten umgesetzt werden kann, spielt dabei zunächst keine Rolle.

Im Kontext der gültigen NATO-Streitkräfteplanung hat Deutschland zugesagt, bis 2032 68 konkrete Maßnahmen umzusetzen und in die nationale Streitkräfteplanung zu überführen. Das ist geschehen. Eines dieser Ziele sieht vor, dass die Bundeswehr der NATO dann drei einsatzbereite Heeresdivisionen mit je drei Brigaden zur Verfügung stellen kann. Allein dafür kalkuliert die Bundeswehr mit einem zusätzlichen Finanzbedarf von fünf Milliarden Euro jährlich.

Washington hat dagegen bereits nachgelegt. Die Verteidigungsminister der NATO haben bei ihrer Sitzung im April eine neue Initiative in ihre Beschlusslage aufgenommen. Sie wurde in dieser Woche noch einmal von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bekräftigt:

O-Ton Stoltenberg (overvoice)
„Wir werden während des NATO-Gipfels eine Initiative beschließen, die den Bereitschaftsgrad der NATO-Kräfte weiter erhöht, die wir ‚Vier mal Dreißig-Initiative‘ nennen. Geplant sind 30 Bataillone, 30 Luftwaffenstaffeln und 30 Kampfschiffe, die in 30 oder weniger Tagen einsatzbereit sind."

Bis 2020 sollen die NATO-Staaten diese Truppen bereitstellen. In der deutschen Planung zur Umsetzung der NATO-Streitkräfteplanung ist dieses Ziel bislang jedoch gar nicht abgebildet. Der für die deutsche Planung zuständige Offizier, Brigadegeneral Gerald Funke, räumte dies Anfang dieser Woche bei einer Veranstaltung der Deutschen Atlantischen Gesellschaft ein: 

O-Ton Funke
„Das, was jetzt die vier thirties betrifft, also in 30 Tagen 30 Bataillone, 30 Staffeln und 30 schwimmende Einheiten in der Größe von Fregatten verfügbar zu haben, ist eine neue Qualität, die wir bisher nicht akzeptiert haben, die nicht Teil des NATO-Planungsprozesses ist. Insofern können wir auch nicht sagen, wie wir das erreichen."

Auch wenn die Bundeswehr dazu nur etwa zehn Prozent beitragen müsse, sei diese US-Forderung zu kurzfristig und könne mit dem derzeitig geplanten Fähigkeitsprofil der Bundeswehr nicht umgesetzt werden. Diese Forderung könne erst Bestandteil der nächsten Runde des NATO-Streitkräfteplanungsprozesses 2019 werden und dann – so der Streitkräfteplaner des Verteidigungsministeriums wörtlich – „werden wir sehen, was wir davon akzeptieren können und wollen".

Zu anderen wichtigen und kontroversen Themen ist bislang erstaunlich wenig zu hören. Dazu gehören die Zukunft der nuklearen Abschreckung in Europa, die der Rüstungskontrolle und die Zukunft des NATO-Russland-Verhältnisses. Zwar wird immer wieder betont, dass die Politik der Allianz gegenüber Moskau aus Abschreckung und Dialog bestehe. Das Schwergewicht liegt aber offenbar derzeit vor allem bei der Stärkung der militärischen Abschreckung. Über kooperative sicherheitspolitische Instrumente, wie Vertrauensbildung und Rüstungskontrolle, wird vor allem in Form von Anforderungen an die russische Seite gesprochen. Es heißt: Natürlich befürworte die NATO, den Gesprächsfaden mit Russland im NATO-Russlandrat beizubehalten. Natürlich wünsche man mehr Transparenz mit Blick auf das russische Manövergeschehen und strebe einen verbesserten Informationsaustausch hierüber an. Europa sei selbstverständlich daran interessiert, dass der INF-Vertrag, der landgestützte atomare Mittelstreckenwaffen verbietet, erhalten bleibe. Gerade deshalb fordere man ja, dass Moskau die Zweifel an seiner Vertragstreue möglichst schnell ausräumen müsse. 

Eigene Initiativen kooperativer Sicherheit gegenüber Russland will die NATO dagegen derzeit anscheinend nicht ergreifen. Das „Dialog-Element" in der Politik des Bündnisses erschöpft sich offenbar darin, noch vorhandene Gesprächsfäden nicht abreißen zu lassen.

Mit Blick auf den NATO-Gipfel dominiert jedoch letztlich die Ungewissheit. Diese hat jedoch weniger mit Moskau als mit US-Präsident Trump zu tun. Die Frage ist: Lässt Trump in Brüssel erneut eine Bombe platzen und wenn ja welche? Bleibt es bei der Kontroverse um die europäischen Rüstungsausgaben oder kommen noch zusätzliche neue Differenzen auf den Tisch? Zum Beispiel beim Thema Iran: Washington hat den multilateralen Vertrag über die Begrenzung des iranischen Atomprogramms einseitig aufgekündigt und will die Sanktionen gegen Teheran verschärfen. Alle anderen Vertragsparteien - der Iran, Russland, China und die NATO-Staaten Frankreich, Großbritannien und Deutschland - wollen dagegen an dem Vertrag festhalten. Nun will Washington offenbar allen Ländern, die gegen Ende dieses Jahres noch Öl aus dem Iran beziehen, mit Sanktionen drohen. Den Verkauf iranischen Öls zu erleichtern ist jedoch eine vertragliche Verpflichtung aus dem Iran-Abkommen, aus dem Washington ausgestiegen ist und an dem die drei großen europäischen NATO-Staaten festhalten wollen.

Und dann ist da noch Wladimir Putin, Russlands Präsident. Auch mit ihm will sich Trump im Umfeld des Gipfels treffen. Manch einer befürchtet bereits, Trump könne Putin gegen den Willen der NATO-Verbündeten Zugeständnisse machen. So wie bei Nordkorea, dem Trump zusagte, auf etliche Manöver in Südkorea zu verzichten. -  ohne sich vorher mit den Verbündeten in Südkorea abzusprechen. Selbst das Pentagon wurde davon überrascht. 

Die Ungewissheit, ob der US-Präsident letztlich als verlässlicher Partner agiert, befeuert sogar die Diskussion darüber, ob ein „Ende des Westens" droht, dessen Opfer letztlich auch die NATO werden könne.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS