30 Jahre INF-Vertrag – Vereinbarung ohne Zukunft?
von Otfried Nassauer
Vor 30 Jahren, am 8.Dezember 1987, unterzeichneten der
damalige US-Präsident Ronald Reagan und Michail Gorbatschow,
damals Generalssekretär der Kommunistischen Partei in der
Sowjetunion, den sogenannten INF-Vertrag. Dieser verpflichtete die USA
und die UdSSR, alle landgestützten atomaren Mittelstreckenwaffen
zu vernichten und in Zukunft auf den Bau und die Stationierung solcher
Waffen zu verzichten. Bereits drei Jahre später war dieses
Abkommen nicht nur in Kraft, sondern bereits vollständig umgesetzt
worden. Rund 2700 atomare Trägersysteme in Europa wurden in der
Folge abgerüstet.
Der INF-Vertrag war der erste atomare Abrüstungsvertrag
weltweit. Die Zahl atomarer Trägersysteme wurde durch dieses
Abkommen nicht nur begrenzt, sondern tatsächlich reduziert. Zwei
ganze Kategorien nuklearer Waffen wurden verboten. Landgestützte
Atomwaffen mit 500-1.000 Kilometer Reichweite und solche mit
1.000-5.500 Kilometer Reichweite. Teil des Abkommens waren zudem
umfassende Überprüfungsregeln, die beiden Vertragsparteien
Inspektionen auf dem Territorium der jeweils anderen Seite erlaubten.
Auch das war neu.
Die Verifikationsregeln machen eine weitere Funktion des
Abkommens deutlich. Der Vertrag selbst und seine problemlose Umsetzung
stellten eine wirksame transparenz- und vertrauensbildende
Maßnahme dar. Zusammen mit dem Ende des Kalten Krieges
erleichterte der Vertrag das Zustandekommen weiterer
Abrüstungsabkommen, die in den Folgejahren geschlossen wurden: Den
ersten und zweiten START-Vertrag über die Reduzierung der
strategischen Atomwaffen, den Vertrag über das Verbot chemischer
Waffen und die Vereinbarungen über Konventionelle
Streitkräfte in Europa. US-Präsident Ronald Reagan
formulierte diese Hoffnung bereits bei der Unterzeichnung des
INF-Vertrages:
O-Ton Reagan:
“Wir können nur hoffen, dass dieses historische Abkommen
keinen Schlußpunkt darstellt, sondern den Anfang einer
Arbeitsbeziehung, die es uns erlaubt, die anderen dringenden Aufgaben
anzugehen, die vor uns liegen: die strategischen Nuklearwaffen die
Kräftebalance der konventionellen Streitkräfte in Europa und
die tragischen und destruktiven Regionalkonflikte, die so viele Teile
unseres Globus plagen.“
Die vertrauensbildende Wirkung des Vertrages zeigte sich auch
bei einem weiteren atomaren Abrüstungsschritt. 1990 und 1991
kündigten die USA und die Sowjetunion jeweils an, einseitig und
ohne Verhandlungen Tausende von atomaren Kurzstreckenwaffen aus Europa
und von ihren Kriegsschiffen abzuziehen. Diese sogenannten
Präsidenteninititaiven waren ein Abrüstungschritt, der
zahlenmäßig noch deutlich über den INF-Vertrag
hinausging.
Der INF-Vertrag leitete eine Trendwende zur Denuklearisierung
der Sicherheitspolitik in Europa und eine Reduzierung der Rolle
atomarer Waffen ein. Heute unterhalten die USA nur noch etwa 150
Atomwaffen in Europa, nicht mehr Tausende.
Allerdings: Dieser Tage steht wohl eine erneute Kehrtwende
bevor. Auf die Denuklearisierung der Sicherheit Europas könnte
eine Renuklearisierung folgen. Die Bedeutung nuklearer Waffen
wird voraussichtlich wieder zunehmen. Die Zahl solcher Waffen
könnte erneut wachsen.
Auch dabei spielt der INF-Vertrag eine wichtige Rolle.
Über Jahre lautete die wichtigste Kritik an dem Abkommen, dass es
ausschließlich den USA und Russland den Besitz von
Mittelstreckenwaffen verbiete. Das diskrimminiere diese beiden
Länder im Vergleich zu anderen Staaten, die solche Waffen bauen
dürfen wie Indien oder Pakistan. Der Vertrag müsse daher
entweder mehr Mitglieder bekommen oder gekündigt werden. Beides
geschah nicht.
In den vergangenen zehn Jahren wurde jedoch noch ein
weiterer Kritikpunkt entwickelt. Washington argumentierte jetzt,
Russland habe 2008 erstmals ein landgestütztes
Marschflugkörpersystem getestet, das aufgrund seiner Reichweite
gegen den INF-Vertrag verstoße. Seit Anfang des Jahres
kommt der Vorwurf hinzu, Moskau habe begonnen, diese Waffe zu
stationieren. Washington bezeichnete das System als SSC-8. Man habe
Moskau detaillierte Hinweise vorgelegt, um das System zu
identifizieren. Für die Öffentlichkeit stellt sich das anders
dar: Es ist nicht nachvollziehbar, welches Marschflugkörpersystem
genau gemeint sein soll. Denn Washington will nicht konkret werden und
keine Einzelheiten mitteilen. Man kann dem US-Vorwurf also nur glauben,
ihn aber nicht unabhängig überprüfen oder diskutieren.
Moskau bestreitet eine Vertragsverletzung und dreht den
Spieß um, wirft seinerseits Washington vor, den INF-Vertrag
zu verletzen: Russland moniert, dass die USA in Rumänien und Polen
für ihr europäisches landgestütztes Raketenabwehrsystem
Startgeräte des Typs MK41 an Land stationieren, die auf Schiffen
genutzt werden, um Marschflugkörper vom Typs Tomahawk zu
starten. Washington argumentiert, dazu seien die Startgeräte an
Land nicht fähig, weil für den Start von
Marschflugkörpern weitere Technik erforderlich seien, die nicht
stationiert werde. Die USA räumen aber ein, dass man den
Unterschied zwischen beiden Versionen von außen nicht erkennen
kann.
Die Verschärfung dieser Debatte hat natürlich mit
der Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Rusland und dem
Westen durch die Krisen um Georgien und die Ukraine zu tun. Sie wird
auch von dem innenpolitischen Streit in den USA über die
Russland-Politik von US-Präsident Trump geprägt. Der Streit
um den INF-Vertrag ist heute ein wesentlicher Aspekt der Debatte
über die künftige Rolle nuklearer Waffen in Europa und einen
drohenden neuen Kalten Krieg.
Bereits vor sieben Jahren deutete sich diese Entwicklung an.
Damals weckte US-Präsident Barak Obama Hoffnungen auf einer Welt
ohne Atomwaffen, sagte aber im gleichen Atemzug:
O-Ton Barak Obama:
„Täuschen Sie sich nicht: So lange es diese Waffen gibt,
werden die Vereinigten Staaten ein sicheres und wirksames Arsenal zur
Abschreckung potenzieller Feinde aufrechterhalten und die Verteidigung
unserer Verbündeten garantieren.“
Kurz darauf veröffentlichten die USA mit dem Nuclear
Posture Review 2010 ein Dokument, das eine umfassende Renovierung und
Modernisierung des Nuklearwaffenpotenzials der USA vorsah. Man werde
alle atomaren Trägersysteme und fünf Atomsprengkopftypen
modernisieren, damit die USA bis weit in die 2. Hälfte des 21.
Jahrhunderts über ein leistungsfähiges Atomwaffenpotenzial
verfügen. Den Anfang sollte die Modernisierung jener Atombomben
machen, die in Europa gelagert werden. Wenig später erteilte die
NATO Forderungen, die letzten US-Atomwaffen aus Europa abzuziehen, eine
Absage.
Inzwischen geht es um mehr: Anfang 2018 muss Präsident
Trump dem Kongress seinen Nuclear Posture Review vorlegen. In
diesem Bericht muss sich Trump auch zur Zukunft der atomaren
US-Waffen in Europa äußern. Wird deren Rolle
gestärkt? Kommt es zu einer Renuklearisierung der
Sicherheitspolitik in Europa? Auswirkungen auf die NATO sind
wahrscheinlich.
Konservative Kreise fordern Trump auf, Moskau nicht nur diplomatisch
auf die Einhaltung des INF-Vertrages zu drängen, sondern
militärische Gegenmaßnahmen vorzubereiten und
einzuleiten. Der aktuelle Entwurf des Haushaltsgesetzes für das
Pentagon sieht zum Beispiel einen zweistelligen Millionenbetrag vor,
mit dem die Entwicklung eines landgestützten
Marschflugkörpersystems großer Reichweite angestoßen
werden kann, das später in Europa stationiert werden könnte.
Hans Kristensen, ein führender Analytiker der
Nuklearpolitik in Washington, glaubt nicht, dass das Militär ein
solches Vorgehen befürworten würde, macht aber darauf
aufmerksam, dass sich das Weiße Haus widersprüchlich
geäußert hat:
O-Ton Kristensen:
„Das Weiße Haus hat kürzlich ein Statement zum neuen
Verteidigungshaushaltsgesetz veröffentlicht, das besagt, man wolle
nicht auf ein spezifisches Waffensystem festgelegt werden, aber man sei
dafür – also eine Art Widerspruch in sich.“
Sigmar Gabriel, der deutsche Außenminister reagierte
kürzlich alarmiert . In der Bild am Sonntag sagte er Anfang
November - Zitat: „Neue atomare Mittelstreckenraketen mitten in
Europa – das ist leider mehr als wahrscheinlich“. Und dann
fügte er noch hinzu: Europa sei gerade –so wörtlich
– mit „der Zerstörung all der Erfolge bei
Rüstungskontrolle und Abrüstung konfrontiert, die in den 80er
und 90er Jahren erreicht wurden.“
Das genau ist die drohende Entwicklung, die den 30. Geburtstag
des INF-Vertrags überschattet: Es droht nicht nur eine
Renuklearisierung der Sicherheitspolitik in Europa. Auch mit einer
Aufgabe der Rüstungskontrolle als wesentlicher Teil der
Sicherheitspolitik der NATO ist zu rechnen.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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