Vorbereitungen für den NATO-Gipfel – Bündnis auf Kollisionskurs
von Otfried Nassauer
Der NATO-Gipfel in Warschau wirft seine Schatten voraus
– viele und lange Schatten. Lautstark warnen Polen und Balten vor
der Bedrohung durch Russland. Ebenso laut tragen sie ihre Forderung
nach einer möglichst umfangreichen und dauerhaften Stationierung
ausländischer NATO-Truppen auf ihrem Territorium vor. Ein
Manöver in Polen und im Baltikum jagt das andere. In den letzten
drei Monaten waren es Übungen wie Ramstein Alloy, Flaming Sword,
Brilliant Jump Deploy, Swift Response, Iron Wolf, Saber Strike,
Anakonda und das Marinemanöver Baltops. Auf vielerlei Weise
demonstriert die NATO, dass sie es ernst meint mit der erweiterten
Verteidigungsplanung für Polen und die baltischen Republiken, die
sie bereits 2010 beschlossen hatte. Auf dem NATO-Gipfel in Wales 2014
wurde schließlich nachgelegt und weitere militärische
Maßnahmen zur Rückversicherung dieser Länder
vereinbart.
Und dann das: Frank-Walter Steinmeier, der deutsche
Außenminister, sagte der Bild am Sonntag in einem Interview
– Zitat:
„Was wir
jetzt allerdings nicht tun sollten, ist durch lautes Säbelrasseln
und Kriegsgeheul die Lage weiter anzuheizen. Wer glaubt, mit
symbolischen Panzerparaden an der Ostgrenze des Bündnisses mehr
Sicherheit zu schaffen, der irrt. Wir sind gut beraten, keine
Vorwände für eine neue, alte Konfrontation frei Haus zu
liefern. Es wäre fatal, jetzt den Blick auf das Militärische
zu verengen und allein in einer Abschreckungspolitik das Heil zu
suchen.“
Ein Paukenschlag? Kurz vor dem Gipfel scharfe Kritik an
NATO-Manövern? Schnell stellte sich heraus, dass die Zeitung das
Zitat aus dem Kontext gerissen hatte. Der Minister hatte erklärt,
er halte das Vorgehen der NATO für richtig und erst dann vor
weiterem Säbelrasseln und Kriegsgeheul gewarnt. In Luxemburg
stellte er tags darauf klar:
O-Ton Steinmeier
„Mein Hinweis bezieht sich darauf, dass nach all unserer
Erfahrung, jedenfalls meiner, Abschreckung am Ende nicht ausreichen
wird, wenn man nicht gleichzeitig, der Tradition der NATO folgend,
neben das Thema Abschreckung auch den Austausch, den Dialog setzt. Und
mir scheint es im Augenblick so zu sein, als würden wir diese
zweite Säule völlig vergessen. Und dies war eine Erinnerung
daran, dass wir uns deshalb nicht allein auf militärische
Stärke verlassen können. (...) Das ist ein nicht weniger
wichtiger Beitrag zur europäischen Sicherheit als der, den andere
gegenwärtig betonen und öffentlich zeigen.“
Steinmeier wollte also das Harmel-Konzept der NATO aus dem
Kalten Krieg in Erinnerung rufen, das auf zwei gleichwertigen Pfleilern
ruhte: Der militärischen Abschreckung und der Bereitschaft zum
Dialog mit der anderen Seite. Beide gemeinsam sollten den Ausbruch
eines Krieges in Europa verhindern.
Eine durchaus sinnvolle Erinnerung. Die oft sehr konfrontative
Russland-Rhetorik aus Polen, den baltischen Staaten und den USA kann
das Risiko vergrößern, dass aus der behaupteten russische
Bedrohung eine reale Bedrohung wird. Diese Gefahr
heraufzubeschwören und dann größere militärische
Kräfte dauerhaft an der Nordostflanke der NATO zu stationieren,
liegt aber keinesfalls im Interesse der meisten NATO-Mitglieder, auch
nicht der USA.
Die Bereitschaft der anderen NATO-Staaten, den Forderungen aus Polen
und dem Baltikum nachzukommen, hat deshalb bislang Grenzen. Das
Bündnis will nicht offen gegen Zusagen verstoßen, die es
Moskau in der NATO-Russland-Grundakte 1997 gemacht hat. Damals wollte
das Bündnis erreichen, dass Moskau die erste Runde der
NATO-Osterweiterung akzeptiert. Die Grundakte ist kein rechtlich
bindender Vertrag, aber ein politisch verbindliches Dokument. Zwei
dieser Zusagen sind hier besonders wichtig:
Zum einen versprach die NATO Moskau damals, dass sie keine
substanziellen Kampftruppen dauerhaft in den neuen Mitgliedstaaten
stationieren werde. Zum anderen wird in der Grundakte wörtlich
festgehalten - Zitat:
„Die
Mitgliedstaaten der NATO wiederholen, dass sie nicht die Absicht, keine
Pläne und auch keinen Anlass haben, nukleare Waffen im
Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren, und auch nicht die
Notwendigkeit sehen, das Nukleardispositiv oder die Nuklearpolitik der
NATO in irgendeinem Punkt zu verändern.“
Auch in Zukunft sehe man dazu „keinerlei Notwendigkeit“.
Diese Grundakte will die Mehrheit der NATO-Staaten nicht
aufkündigen, auch wenn konservative polnische Politiker das
gelegentlich fordern.
Auf dem Warschauer Gipfel soll beschlossen werden, künftig je ein
NATO-Bataillon in Polen und in den baltischen Republiken zu
stationieren. Das Personal dieser Verbände soll
regelmäßig ausgetauscht werden. Die NATO geht davon aus,
dass sie damit den ersten Teil ihrer Zusage weiter einhält.
Etwas komplizierter verhält es sich möglicherweise
mit dem zweiten Teil, also der nuklearen Abschreckung. Die NATO hat
zwar ihre Zusage, auf dem Territorium der neuen Mitglieder keine
Atomwaffen zu stationieren, bislang eingehalten. Polnische Forderungen,
diese Möglichkeit offenzuhalten, sind bislang zurückgewiesen
worden. Strittig könnte dagegen sein, ob die NATO sich weiter an
die Zusage hält, keine Änderungen an ihrer Nuklearpolitik
vorzunehmen. Das ist in der Tat schwer zu beurteilen, weil die NATO
sich zu nuklearen Fragen seit einigen Jahren nur noch schmallippig oder
wolkig äußert. Jens Stoltenberg, der
NATO-Generalsekretär, auf die Frage, was die Sitzung der Nuklearen
Planungsgruppe im vergangenen Monat ergeben habe:
O-Ton Stoltenberg (overvoice)
„Die Nukleare Planungsgruppe hat gestern getagt und der
Hauptzweck war, sicherzustellen, dass wir weiter eine sichere und gut
abgesicherte nukleare Abschreckung aufrecht erhalten. Die NATO bleibt
eine nukleare Allianz. Wir gehen konkret und bedachtsam an all unsere
Arbeit in diesem Bereich heran. Ich werde nicht auf Details eingehen,
aber ich kann mitteilen, dass wir unsere Politik und Fähigkeiten
immer wieder überprüfen - und das in einer vorsichtigen und
maßvollen Weise.“
Seit vielen Jahren plädieren vor allem die neuen
Mitglieder der NATO dafür, die Nuklearwaffen in Europa
beizubehalten und deren Rolle wieder zu stärken. 2010 vollzog sich
in den USA und in der NATO eine Trendwende. Wurde in den Jahren zuvor
eher darüber diskutiert, ob das in Europa stationierte
Atomwaffenpotenzial der USA ein Auslaufmodell werden sollte, so gab
US-Präsident Obama im April 2010 mit seinem Nuclear Posture Review
eine deutlich andere Entwicklungsrichtung vor. Die USA leiteten ein
umfassendes Modernisierungsprogramm für ihre atomarfähigen
Trägersysteme und ihre nuklearen Sprengköpfe ein. Die
zeitlich ersten Projekte waren dabei die Einführung eines neuen
Trägerflugzeugs für nichtstrategische Nuklearwaffen, des
Joint Strike Fighters, und die Modernisierung jenes Atombomben-Typs,
der auch in Europa stationiert ist, der B61. Zu den Argumenten für
dieses Modernisierungsvorhaben gehörte ausdrücklich die
nukleare Abschreckung in Europa als Ausdruck der
Bündnissolidarität Washingtons. Die damalige
Außenministerin, Hillary Clinton, formulierte einen zentralen
Satz, der auch das 2010 verabschiedete und bis heutige gültige
Strategische Konzept der NATO prägt: Die NATO werde eine nukleare
Allianz bleiben, solange es Nuklearwaffen gibt.
Zwei Jahre später, 2012, verabschiedete das Bündnis ein neues
militärstrategisches Konzept. In dem geheimen Dokument MC400/3
wurde die Rolle nuklearer Waffen genauer ausformuliert. Ein weiteres
Dokument enthält neue Richtlinien für nukleare Konsultationen
im Bündnis.
In der Folge konnten sich die neuen NATO-Mitglieder auch an praktischen
Aufgaben im Rahmen der atomaren Abschreckung beteiligen. Polen, die
Tschechische Republik, Ungarn und Rumänien interessierten sich
dafür, mit konventionellen Mitteln an nuklearen Operationen der
NATO teilzunehmen, also an dem Programm Snowcat mitzuwirken.
Jagdflugzeuge aus diesen Ländern können nun zum Beispiel
Begleitschutz für die Trägerflugzeuge der Atomwaffen fliegen.
An den jährlichen Manövern zur Überprüfung des
Ausbildungsstandes der nuklearen NATO-Einheiten nahm Polen 2014
erstmals teil. 2015 war Polen in Büchel erneut dabei, tschechische
Flugzeuge übten gleichzeitig einige Tage im benachbarten
Nörvenich.
Der NATO-Gipfel in Warschau wird voraussichtlich noch nicht
endgültig entscheiden, ob und wie sich die Rolle nuklearer Waffen
ändern soll. Wahrscheinlich ist, dass die Staats- und
Regierungschefs die Arbeitsebene des Bündnisses anweisen, die
Optionen für das künftige Vorgehen der Allianz gründlich
auszuloten. Zahlreiche Vorschläge für solche Optionen sind
auf politischer und wissenschaftlicher Ebene bereits vor diesem Gipfel
gemacht worden.
Und aufgeschoben heißt nicht aufgehoben. Die NATO wird
sich schon bald erneut mit der nuklearen Abschreckung befassen
müssen. Sie muss entscheiden, wie viele modernisierte,
leistungsfähigere US-Atombomben, in Europa stationiert werden
sollen und welche Rolle ihnen zukommen soll. Das Ringen geht also
weiter.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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