Streitkräfte und Strategien - NDR info
 28. November 2015


Unterstützung für die Rüstungsindustrie? - Bundesregierung will Schlüsselfähigkeiten fördern

von Otfried Nassauer


Die wehrtechnische Industrie in Deutschland hat ein Problem. Sie ist zu groß und gleichzeitig zu klein: Viel zu groß, um allein von den Aufträgen der Bundeswehr zu leben und deutlich zu klein, um all das herzustellen, was die Bundeswehr braucht. Während die Bundeswehr einen Teil ihrer finanziellen Mittel für Einkäufe im Ausland ausgeben muss, verdient die deutsche Rüstungsindustrie den Löwenanteil ihres Geldes in fremden Landen. 

Das ist kein neues Phänomen. Schon lange werden die Kapazitäten der deutschen Rüstungsbetriebe überwiegend durch den Export ausgelastet. Viele Firmen machen mehr als 60 Prozent ihres Umsatzes im Ausland, manche sogar mehr. Die Kapazitäten der wehrtechnischen Industrie in Deutschland sind überwiegend Exportkapazitäten. Der Rüstungsexport ist das Standbein, nicht das Spielbein des Industriezweigs. Besonders gut verkaufen sich gepanzerte Fahrzeuge, U-Boote, kleinere Kriegsschiffe, Kleinwaffen und hochwertige Bauteile für im Ausland produzierte Rüstungsgüter. 

Waffenexporte sind in vielen Fällen ethisch problematisch und umstritten. Sie widersprechen häufig offensichtlich der betont werteorientierten Außenpolitik der Bundesregierung. Deutsche Kleinwaffen als Öl im Feuer der Kriege dieser Welt? Panzer für Länder im Mittleren Osten, die schon bald zu Kriegsparteien werden könnten? Überwachungstechnik für repressive Regime, die die Menschenrechte mit Füßen treten? All das kann aus Deutschland nicht ohne öffentlichen Widerspruch geliefert werden. Das ist gut so. Viele Rüstungsexporte sind nicht zu rechtfertigen, es sei denn mit politischen oder finanziellen Eigeninteressen. Sie sollten also nicht genehmigt werden. Egal, ob das Empfängerland ein verbündetes Land oder ein sogenannter Drittstaat ist. Doppelstandards sind ethisch kaum zu rechtfertigen.

In unserem Wirtschaftssystem hat das jedoch ein Problem zur Folge. Wachstum ist in der Marktwirtschaft ein entscheidendes Erfolgskriterium. Auch für die Rüstungsindustrie. Eingeklemmt zwischen dem geringeren Bedarf der Bundeswehr und dem Wunsch der Bevölkerungsmehrheit nach einer möglichst restriktiven Rüstungsexportpolitik steckt die wehrtechnische Industrie in einem Dilemma: Sie muss wachsen, kann das aber nur dauerhaft, wenn die Bundeswehr wieder mehr bestellt oder wenn noch mehr exportiert wird. Das ist kein Entweder – Oder. Langfristig wäre beides nötig. 

Peter Wilke, ein Hamburger Beratungsunternehmer, hat die Situation der deutschen Rüstungsindustrie für die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung untersucht. Er fasst seine Ergebnisse so zusammen: 

O-Ton Wilke
„Die Kernaussage der Studie ist, dass wir in Deutschland gemessen an den absehbaren Bedarfen und an dem, was wir als Export überhaupt politisch legitimieren wollen und können, im Grunde Überkapazitäten in der Industrie haben, die sich, wenn wir ein bisschen weiterblicken, auch noch doppeln mit Kapazitäten, die andere befreundete europäische Staaten haben, so dass es eigentlich rational wäre, darüber nachzudenken, wie viel braucht man eigentlich in Europa und diese Kapazitäten anzupassen.“ 

Mehr noch: Die oft beschworene europäische Alternative rückt derzeit auch aus einem anderen Grund in größere Ferne: Der europäische Rüstungsmarkt mit gemeinsamen Beschaffungsvorhaben bleibt bisher auf Großvorhaben beschränkt, die sich kein Staat alleine leisten kann. Die Hoffnung, dass Kosten gespart werden können, wenn man gemeinsam beim besten und günstigsten Anbieter in Europa einkauft, bleibt eine Zukunftshoffnung. Die europäische Option leidet zunehmend unter der Maxime „Breite vor Tiefe“. D.h. die EU hat immer mehr Mitglieder aufgenommen und diese driften mit Blick auf ihre wirtschaftlichen, politischen und sicherheitspolitischen Interessen weiter auseinander. Jeder will große Teile seiner Rüstungsindustrie möglichst erhalten. Darunter leidet allerdings das Ziel, die europäische Integration zu vertiefen. Und damit die Chance, dass schon bald eine transnationale europäische Rüstungsindustrie entsteht. 

Der Bundesregierung ist dieses Problem bekannt. Sie macht sich schon länger Gedanken um die Zukunft der deutschen Rüstungsindustrie und die verzögerte Entwicklung in Europa. Das Verteidigungsministerium warf deshalb im vergangenen Jahr die Frage auf, welche Schlüsseltechnologien die deutsche Wehrtechnik-Industrie künftig beherrschen müsse. Es forderte das Wirtschaftsministerium auf, an der Lösung mitzuarbeiten. Der Bendler-Block gab zugleich erste Antworten: Man plane, die Verschlüsselungs- und Informationstechnologie sowie die Sensorik und den Bereich der Schutztechnologien künftig verstärkt zu fördern. Ganz bewusst offen ließ Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, ob gepanzerte Kampffahrzeuge, U-Boote, kleinere Kriegsschiffe oder Kleinwaffen ebenfalls als Schlüsseltechnologien gelten sollen, deren Weiterentwicklung staatlich gefördert werden müsse. 

Das politische Attentat war leicht zu erkennen. Das für Exportgenehmigungen zuständige Wirtschaftministerium wurde vor die Frage gestellt, ob es die arbeitsplatzintensiven und exportabhängigen Systemfirmen, also jene Firmen, die komplette Waffensysteme für das Heer und die Marine planen und bauen können, mit einer großzügigen Genehmigungspraxis für Exporte unterstützen und so am Leben erhalten solle. Anders ausgedrückt lautete das Argument: Die deutsche U-Boot-Industrie konnte von großzügigen Exportgenehmigungen in den vergangenen Jahrzehnten so gut leben, dass sie ihren Status als Weltmarktführer halten konnte. Das Verteidigungsministerium musste kaum Forschungs- und Entwicklungsgelder einsetzen. Geht das nicht auch bei Kampfpanzern und anderen Gefechtsfahrzeugen? 

Inzwischen liegt das Ergebnis der Diskussion zwischen beiden Ministerien vor. Es überrascht. Die Stoßrichtung hat sich geändert. In dem im Sommer vorgelegten Papier ist nunmehr vom „Erhalt verteidigungsindustrieller Schlüsseltechnologien“ die Rede, die sich – so wörtlich – „aus dem militärischen Bedarf der Bundeswehr, den außen-, sicherheits- und europapolitischen Interessen, unseren Bündnisverpflichtungen sowie der Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland“ ableiten.  

Im Kern haben sich beide Ministerien offenbar darauf geeinigt, dass die deutsche Rüstungsindustrie auch künftig die Bereiche Führungssysteme, Aufklärungssysteme, gepanzerte Plattformen, U-Boote und Schutztechnologien eigenständig beherrschen und dabei wo immer möglich die Fähigkeit behalten soll, komplette Waffensysteme zu entwickeln und zu bauen. 

Das gemeinsame Strategiepapier fragt nicht mehr, auf welchen Technologiefeldern die wehrtechnische Industrie in Deutschland sich vorrangig weiterentwickeln soll, sondern welche Fähigkeiten zur Produktion von Kriegswaffen und Rüstungsgütern auf nationaler Ebene erhalten bleiben sollen. Die Ministerien haben ihre Wünsche addiert. 

Die Konsequenzen sind absehbar: Höhere nationale Rüstungsausgaben sollen den notwendigen Kapazitätsabbau in der deutschen Rüstungsindustrie vertagen. Absehbar ist aber auch, dass dabei wieder neue Kapazitäten entstehen können, die über kurz oder lang nur durch zusätzliche Rüstungsexporte ausgelastet werden können. Zum Beispiel durch die Entwicklung leistungsfähiger Drohnen oder weitreichender Luftabwehrsysteme. 

Peter Wilke, der Hamburger Gewerkschaftsberater, empfiehlt dagegen, lieber rechtzeitig über eine Anpassung, bzw. Reduzierung der Kapazitäten nachzudenken: 

O-Ton Wilke
„Lieber jetzt anpassen, als in ungewollte Anpassungsprozesse zu laufen, die der Markt fordert.“ 

Wilke könnte recht haben, denn das beschäftigungspolitische Umfeld ist derzeit ausgesprochen günstig: Hochqualifizierte Facharbeiter und Ingenieure, wie sie in der Rüstungsindustrie beschäftigt werden, sind derzeit Mangelware und in anderen Wirtschaftsbereichen sehr gefragt. Ansätze, die Rüstungsproduktion auf die Herstellung ziviler Güter umzustellen oder vorhandene Produktionskapazitäten auch für nicht-militärische Güter zu nutzen, könnten die notwendige Umstrukturierung in der Wehrindustrie heute viel leichter ergänzen, als in den Jahren kurz nach dem Ende des Kalten Krieges, als hohe Arbeitslosigkeit herrschte und die Bewältigung der Folgen der deutschen Einheit Vorrang hatte. In der Rüstungsbranche treffen solche Überlegungen jedoch weiterhin auf keine Gegenliebe. Dort erwartet man weiterhin, dass die Politik mit Steuergeld und Exportgenehmigungen zu Hilfe kommt.  


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS