Streitkräfte und Strategien - NDR info
03. Juni 2006


Präventiver Einsatz der Bundeswehr?
Der Streit um das Weißbuch

von Otfried Nassauer

Im Kern plädiert Minister Jung für eine deutliche Erweiterung des Verteidigungsbegriffs bzw. eine Neufassung des Begriffs "Verteidigungsfall". Der steht im Grundgesetz und deshalb ist auch zu hören, Jung wolle eine Grundgesetzänderung. Der Ursprung dieser Forderung liegt in dem Wunsch der CDU/CSU, größere Einsatzmöglichkeiten für die Bundeswehr bei der Terrorabwehr und der Inneren Sicherheit zu schaffen. Neue Aufgaben helfen bekanntlich, mehr Personal und damit die Wehrpflicht zu rechtfertigen. Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht im Februar das rot-grüne Luftsicherheitsgesetz gekippt hat. Die Bundesregierung muss also nach einem Weg suchen, wie sie möglichen Terrorangriffen aus der Luft und von See her begegnen will. Als Beispiele dienen zumeist entführte Flugzeuge im Anflug auf ein WM-Stadion oder Frachter mit schmutzigen radioaktiven Waffen auf dem Weg in deutsche Häfen. Im Weißbuch-Entwurf wird festgehalten: "Infolge der neuartigen Qualität des internationalen Terrorismus sind heute Anschläge Realität geworden, die sich nach Art, Zielsetzung und Intensität mit dem herkömmlichen Begriff des Verteidigungsfalls gleichsetzen lassen." Solche Extremsituationen seien heute in Betracht zu ziehen, wenn geprüft werde, ob und inwieweit es verfassungsrechtlichen Änderungsbedarf gebe. Die Bundeswehr müsse "immer dann zum Einsatz kommen können wenn nur sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügt, um den Schutz der Bevölkerung oder kritischer Infrastruktur zu gewährleisten".

Wer so argumentiert, will militärische Mittel nicht nur zur Eindämmung der Folgen eines katastrophalen Terroranschlages einsetzen. Ihm geht es darum, solche Anschläge bereits im Vorfeld verhindern zu können – notfalls auch mit militärischen Mitteln. Dem aber stehen zurzeit auch die zeitlichen und formalen Hürden einer Ausrufung des Verteidigungsfalls im Wege, die wiederum das Grundgesetz formuliert. Zum Beispiel die geforderte Zweidrittelmehrheit im Bundestag und die Zustimmung des Bundesrates. Auch in diesem Punkt entstünde verfassungsrechtlicher Handlungsbedarf, damit die Exekutive, also Regierung und Behörden, flexibel und schnell genug handeln könnten. Das ginge nur, wenn das Parlament nicht erst gefragt werden müsste. Konkret: Der Abschied von der Bundeswehr als Parlamentsarmee müsste eingeleitet werden.

Die SPD sagt zu derart weitgehenden Überlegungen Nein und schlägt einen anderen Weg vor: Ein großer Terroranschlag sei kein kriegerischer Akt, sondern eine große Katastrophe, ein Akt schwerster Kriminalität, bei deren Bekämpfung die Bundeswehr schon heute nach Artikel 35 des Grundgesetzes und notfalls im Rahmen der Notstandsgesetzgebung gemäß Art 87a und 91 des Grundgesetzes eingesetzt werden könne. Spezifischer werden die Sozialdemokraten derzeit allerdings nicht.

Weiter an Brisanz gewinnen diese Überlegungen, weil Verteidigungsminister Jung die Verteidigungspolitik und damit auch die Einsätze der Bundeswehr stärker an den Interessen Deutschlands ausrichten will. Zu diesen gehöre es "den Wohlstand des Landes durch einen freien und ungehinderten Welthandel zu ermöglichen" – so heißt es im Entwurf des Weißbuches. Deutschland sei aufgrund seiner hohen Außenhandelsabhängigkeit "in globalem Maßstab verwundbar", weil es von sicheren Transportwegen und –mitteln, sowie einer sicheren Rohstoffzufuhr abhängig ist. Auch wenn dies keine primär militärisch zu bewältigende Aufgabe sei, so gelte es doch – so wörtlich -" sich insbesondere den Regionen, in denen kritische Rohstoffe und Energieträger gefördert werden, zuzuwenden". Gänzlich neu ist diese Überlegung zwar nicht. Schon das Weißbuch 1975/76 enthielt den Hinweis auf die Abhängigkeit Deutschlands von der Einfuhr von Öl. Wiederaufgenommen wurde dieser Aspekt auch in den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992. Doch nun gewinnt die Thematik an Gewicht. Denn der Entwurf des Weißbuches verlangt für künftige Bundeswehreinsätze, dass in jedem Einzelfall eine klare Antwort auf die Frage notwendig sei, "inwieweit Interessen Deutschlands den Einsatz erfordern und rechtfertigen". Es war daher nicht verwunderlich, dass für den in dieser Woche beschlossenen Bundeswehreinsatz im Kongo auch auf die Bedeutung des Landes als Rohstofflieferant hingewiesen wurde.

Auch hier meldet die SPD vorsichtig Widerspruch an: Die "Sicherung von Rohstoffen und die ungehinderte Nutzung der hohen See" könne keine rein nationale Aufgabe sein.

Betrachtet man beide Konfliktpunkte im Zusammenhang, so wird die Tragweite der sich ergebenden Folgefragen sichtbar:

  • Wo soll eine Terrorgefahr bekämpft werden können? Nur innerhalb oder auch jenseits des deutschen Hoheitsgebietes?
  • Soll der Bundeswehr auch militärisches Handeln gegen Ziele erlaubt werden, die sich auf dem Gebiet eines anderen Staates befinden? Wo sollte dies möglich sein?
  • Soll präventives und präemptives militärisches Handeln nur bei Gefahren für die innere Sicherheit möglich sein oder auch in Sachen äußerer Sicherheit? Übernimmt Deutschland bei Präemption und Prävention die Haltung der USA?
  • Eröffnet sich hier eine Logik vorbeugender Militäreinsätze, die nicht nur bei Terrorgefahren oder so genannten "schmutzigen Bomben" zur Anwendung kommt, sondern auch, wenn nicht deutsches Territorium, sondern deutsche Interessen gefährdet sind? Zum Beispiel die sichere Energie- und Rohstoffversorgung Deutschlands? Der Beitrag der deutschen Marine zur Sicherung weltweiter Transportwege gegen Terror und Piraterie findet schon heute immer wieder einmal Erwähnung.

Auch wenn so weitgehende Überlegungen nicht in der erklärten politischen Absicht der Autoren des neuen Weißbuches gelegen haben sollten: Der erweiterte Verteidigungsbegriff, für den Minister Jung plädiert, kann sich in der politischen Praxis als äußerst flexibel interpretierbar erweisen. Er schafft große neue Grauzonen - auch in rechtlicher Hinsicht. Mit einem so deutlich erweiterten Verteidigungsbegriff könnten z.B. letztlich auch Interventionen rund um den Globus begründet werden. Einsätze, bei denen die Bundeswehr die klassische Rolle des Militärs als Instrument politischer Interessensdurchsetzung spielen würde. Einsätze, die die Bundesrepublik leicht in Konflikt mit dem Völkerrecht und der UN-Charta bringen könnten. Einsätze, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes ausdrücklich ausgeschlossen wissen wollten.

Diese und andere Fragen bedürfen zumindest einer umfassenden öffentlichen Diskussion. Darauf machen die zaghaften Einwände der SPD aufmerksam. Ein Weißbuch ist ganz sicher nicht der Ort, um die Debatte über diese Fragen anzustoßen oder gar zu entscheiden.

Ein erweiterter Verteidigungsbegriff setzt darüber hinaus ein falsches Signal in eine falsche Richtung. Zwar beschreibt der Weißbuch-Entwurf zukünftige Risikopotenziale wie Terrorismus, Klimaveränderungen und Staatszerfall als Risiken, denen nicht vorrangig mit militärischen Mitteln begegnet werden kann. Das Papier folgert daraus aber nicht, dass den nicht-militärischen Instrumenten einer ressortübergreifenden, erweiterten Sicherheitspolitik künftig eine größere Rolle zukommen wird und für diese ein wachsender Bedarf an Ressourcen und Mitteln entsteht. Ganz im Gegenteil: Der Entwurf versucht deutlich zu machen, dass die Bundeswehr mehr Ressourcen benötigt, weil sie bei der Bekämpfung neuer Risiken jeder Art einen Beitrag leisten kann und sollte.

Selbst längst Überflüssiges wird deshalb für unverzichtbar erklärt: Das zeigt ein weiterer Streitpunkt der Koalitionsparteien. Per Weißbuch will der Verteidigungsminister festschreiben, dass die Bundeswehr auch in 10 Jahren, also mehr als 25 Jahre nach Ende des Kalten Krieges, noch immer Kampfflugzeuge braucht, die im Ernstfall amerikanische Atomwaffen abwerfen können. Auch das sieht der Koalitionspartner SPD anders.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS