Präventiver Einsatz der Bundeswehr?
Der Streit um das Weißbuch
von Otfried Nassauer
Im Kern plädiert Minister Jung für eine deutliche Erweiterung des
Verteidigungsbegriffs bzw. eine Neufassung des Begriffs "Verteidigungsfall". Der
steht im Grundgesetz und deshalb ist auch zu hören, Jung wolle eine Grundgesetzänderung.
Der Ursprung dieser Forderung liegt in dem Wunsch der CDU/CSU, größere
Einsatzmöglichkeiten für die Bundeswehr bei der Terrorabwehr und der Inneren Sicherheit
zu schaffen. Neue Aufgaben helfen bekanntlich, mehr Personal und damit die Wehrpflicht zu
rechtfertigen. Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht im Februar das rot-grüne
Luftsicherheitsgesetz gekippt hat. Die Bundesregierung muss also nach einem Weg suchen,
wie sie möglichen Terrorangriffen aus der Luft und von See her begegnen will. Als
Beispiele dienen zumeist entführte Flugzeuge im Anflug auf ein WM-Stadion oder Frachter
mit schmutzigen radioaktiven Waffen auf dem Weg in deutsche Häfen. Im Weißbuch-Entwurf
wird festgehalten: "Infolge der neuartigen Qualität des internationalen Terrorismus
sind heute Anschläge Realität geworden, die sich nach Art, Zielsetzung und Intensität
mit dem herkömmlichen Begriff des Verteidigungsfalls gleichsetzen lassen." Solche
Extremsituationen seien heute in Betracht zu ziehen, wenn geprüft werde, ob und inwieweit
es verfassungsrechtlichen Änderungsbedarf gebe. Die Bundeswehr müsse "immer dann
zum Einsatz kommen können wenn nur sie über die erforderlichen Fähigkeiten verfügt, um
den Schutz der Bevölkerung oder kritischer Infrastruktur zu gewährleisten".
Wer so argumentiert, will militärische Mittel nicht nur zur Eindämmung der Folgen
eines katastrophalen Terroranschlages einsetzen. Ihm geht es darum, solche Anschläge
bereits im Vorfeld verhindern zu können notfalls auch mit militärischen Mitteln.
Dem aber stehen zurzeit auch die zeitlichen und formalen Hürden einer Ausrufung des
Verteidigungsfalls im Wege, die wiederum das Grundgesetz formuliert. Zum Beispiel die
geforderte Zweidrittelmehrheit im Bundestag und die Zustimmung des Bundesrates. Auch in
diesem Punkt entstünde verfassungsrechtlicher Handlungsbedarf, damit die Exekutive, also
Regierung und Behörden, flexibel und schnell genug handeln könnten. Das ginge nur, wenn
das Parlament nicht erst gefragt werden müsste. Konkret: Der Abschied von der Bundeswehr
als Parlamentsarmee müsste eingeleitet werden.
Die SPD sagt zu derart weitgehenden Überlegungen Nein und schlägt einen anderen Weg
vor: Ein großer Terroranschlag sei kein kriegerischer Akt, sondern eine große
Katastrophe, ein Akt schwerster Kriminalität, bei deren Bekämpfung die Bundeswehr schon
heute nach Artikel 35 des Grundgesetzes und notfalls im Rahmen der Notstandsgesetzgebung
gemäß Art 87a und 91 des Grundgesetzes eingesetzt werden könne. Spezifischer werden die
Sozialdemokraten derzeit allerdings nicht.
Weiter an Brisanz gewinnen diese Überlegungen, weil Verteidigungsminister Jung die
Verteidigungspolitik und damit auch die Einsätze der Bundeswehr stärker an den
Interessen Deutschlands ausrichten will. Zu diesen gehöre es "den Wohlstand des
Landes durch einen freien und ungehinderten Welthandel zu ermöglichen" so
heißt es im Entwurf des Weißbuches. Deutschland sei aufgrund seiner hohen
Außenhandelsabhängigkeit "in globalem Maßstab verwundbar", weil es von
sicheren Transportwegen und mitteln, sowie einer sicheren Rohstoffzufuhr abhängig
ist. Auch wenn dies keine primär militärisch zu bewältigende Aufgabe sei, so gelte es
doch so wörtlich -" sich insbesondere den Regionen, in denen kritische
Rohstoffe und Energieträger gefördert werden, zuzuwenden". Gänzlich neu ist diese
Überlegung zwar nicht. Schon das Weißbuch 1975/76 enthielt den Hinweis auf die
Abhängigkeit Deutschlands von der Einfuhr von Öl. Wiederaufgenommen wurde dieser Aspekt
auch in den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992. Doch nun gewinnt die Thematik
an Gewicht. Denn der Entwurf des Weißbuches verlangt für künftige Bundeswehreinsätze,
dass in jedem Einzelfall eine klare Antwort auf die Frage notwendig sei, "inwieweit
Interessen Deutschlands den Einsatz erfordern und rechtfertigen". Es war daher nicht
verwunderlich, dass für den in dieser Woche beschlossenen Bundeswehreinsatz im Kongo auch
auf die Bedeutung des Landes als Rohstofflieferant hingewiesen wurde.
Auch hier meldet die SPD vorsichtig Widerspruch an: Die "Sicherung von Rohstoffen
und die ungehinderte Nutzung der hohen See" könne keine rein nationale Aufgabe sein.
Betrachtet man beide Konfliktpunkte im Zusammenhang, so wird die Tragweite der sich
ergebenden Folgefragen sichtbar:
- Wo soll eine Terrorgefahr bekämpft werden können? Nur innerhalb oder auch
jenseits des deutschen Hoheitsgebietes?
- Soll der Bundeswehr auch militärisches Handeln gegen Ziele erlaubt werden, die sich auf
dem Gebiet eines anderen Staates befinden? Wo sollte dies möglich sein?
- Soll präventives und präemptives militärisches Handeln nur bei Gefahren für die
innere Sicherheit möglich sein oder auch in Sachen äußerer Sicherheit? Übernimmt
Deutschland bei Präemption und Prävention die Haltung der USA?
- Eröffnet sich hier eine Logik vorbeugender Militäreinsätze, die nicht nur bei
Terrorgefahren oder so genannten "schmutzigen Bomben" zur Anwendung kommt,
sondern auch, wenn nicht deutsches Territorium, sondern deutsche Interessen gefährdet
sind? Zum Beispiel die sichere Energie- und Rohstoffversorgung Deutschlands? Der Beitrag
der deutschen Marine zur Sicherung weltweiter Transportwege gegen Terror und Piraterie
findet schon heute immer wieder einmal Erwähnung.
Auch wenn so weitgehende Überlegungen nicht in der erklärten politischen Absicht der
Autoren des neuen Weißbuches gelegen haben sollten: Der erweiterte Verteidigungsbegriff,
für den Minister Jung plädiert, kann sich in der politischen Praxis als äußerst
flexibel interpretierbar erweisen. Er schafft große neue Grauzonen - auch in rechtlicher
Hinsicht. Mit einem so deutlich erweiterten Verteidigungsbegriff könnten z.B. letztlich
auch Interventionen rund um den Globus begründet werden. Einsätze, bei denen die
Bundeswehr die klassische Rolle des Militärs als Instrument politischer
Interessensdurchsetzung spielen würde. Einsätze, die die Bundesrepublik leicht in
Konflikt mit dem Völkerrecht und der UN-Charta bringen könnten. Einsätze, die die
Mütter und Väter des Grundgesetzes ausdrücklich ausgeschlossen wissen wollten.
Diese und andere Fragen bedürfen zumindest einer umfassenden öffentlichen Diskussion.
Darauf machen die zaghaften Einwände der SPD aufmerksam. Ein Weißbuch ist ganz sicher
nicht der Ort, um die Debatte über diese Fragen anzustoßen oder gar zu entscheiden.
Ein erweiterter Verteidigungsbegriff setzt darüber hinaus ein falsches Signal in eine
falsche Richtung. Zwar beschreibt der Weißbuch-Entwurf zukünftige Risikopotenziale wie
Terrorismus, Klimaveränderungen und Staatszerfall als Risiken, denen nicht vorrangig mit
militärischen Mitteln begegnet werden kann. Das Papier folgert daraus aber nicht, dass
den nicht-militärischen Instrumenten einer ressortübergreifenden, erweiterten
Sicherheitspolitik künftig eine größere Rolle zukommen wird und für diese ein
wachsender Bedarf an Ressourcen und Mitteln entsteht. Ganz im Gegenteil: Der Entwurf
versucht deutlich zu machen, dass die Bundeswehr mehr Ressourcen benötigt, weil sie bei
der Bekämpfung neuer Risiken jeder Art einen Beitrag leisten kann und sollte.
Selbst längst Überflüssiges wird deshalb für unverzichtbar erklärt: Das zeigt ein
weiterer Streitpunkt der Koalitionsparteien. Per Weißbuch will der Verteidigungsminister
festschreiben, dass die Bundeswehr auch in 10 Jahren, also mehr als 25 Jahre nach Ende des
Kalten Krieges, noch immer Kampfflugzeuge braucht, die im Ernstfall amerikanische
Atomwaffen abwerfen können. Auch das sieht der Koalitionspartner SPD anders.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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