Züricher Tagesanzeiger
03. September 2014


«Die Nato ist gespalten punkto Russland»

Die Nato trifft sich in Wales zum Gipfel. Es ist ein Krisengipfel wegen der russischen Aggression in der Ukraine. Rückt die Militärallianz nun wieder enger zusammen?
Sie  glaubt  es,  weil  sie  sich  gegen  eine neue  Bedrohung  wendet.  Tatsächlich aber nehmen die Spannungen im Bündnis zu. Denn die Nato ist gespalten wegen  Russland  respektive  in  der  Frage, wie man mit Wladimir Putin umgehen soll. Offen ist, ob sich angesichts der Ukrainekrise  das  konfrontative Lager durchsetzt oder jenes, das eine Kooperation mit Moskau anstrebt.  Sicher aber werden sich Risse zeigen.

Welches sind die Exponenten der beiden Lager?
Die  USA,  Grossbritannien  und  einige neue  Mitglieder  in  Osteuropa  wollen Sicherheit vor Russland schaffen. Ihnen gegenüber stehen die alten Nato-Mitglieder Kontinentaleuropas, also vor allem Deutschland und Frankreich. Sie wollen die europäische Sicherheit mit Moskau gestalten. Diese Länder glauben, dass eine langfristige strategische Kooperation beiden Seiten nützt, wirtschaftlich und politisch.

Aber kommt der Nato die Krise in der Ukraine nicht gelegen?Nach dem Ende des Afghanistan-Einsatzes drohte ihr eine neue Debatte über die Daseinsberechtigung.
 Ja,  man ist auf der Suche nach einer neuen Hauptaufgabe. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat freudig zugegriffen, als ihm die Krise in der Ukraine die Möglichkeit  bot,  für eine neue  gemeinsame  Abwehrhaltung  gegenüber  Russland zu werben. Damit lässt  sich  die  Existenz der Nato als Überbleibsel  des Kalten Kriegs wieder rechtfertigen.

US-Präsident Obama beginnt seinen Europabesuch heute in Estland. Ist das nur als eine symbolische Geste?
Es ist ein bisschen mehr. Die USA gehören ja zum eher konfrontativen Lager. Washington  bietet den neuen  Mitgliedern, die sich von Russland bedroht fühlen, eine zusätzliche Rückversicherung. Ausserdem stellen die USA damit sicher, dass  sie  weiterhin  die  europäische  Sicherheitspolitik führend beeinflussen können. Je konfrontativer das Verhältnis
zu Moskau ist, umso grösser ist die amerikanische Dominanz in Europa.

Fühlen sich die Baltischen Staaten und Polen zu Unrecht bedroht?
Die  Geschichte  der Balten und Polen macht sie gegenüber Moskau automatisch skeptisch. Schon als das Verhältnis zwischen Russland und der Nato noch besser war als heute, warnten diese Länder vor dem russischen  Bären. Deshalb lehnen sie sich auch so sehr an die USA an.

Die Nato hat angekündigt, ihre Militärpräsenz in Osteuropa zu verstärken. Lässt sich Putin damit abschrecken?
Es geht nicht primär darum, Putin abzuschrecken, sondern darum, den Nato-Mitgliedern  in  Osteuropa die Bündnistreue zu versichern. Mit den geplanten dauerhaften Verstärkungen können Sie keinen Krieg gewinnen, es handelt sich nur um Kompanien. Man will nicht alle  Türen zuschlagen. Zudem gibt es auch technische Signale. So verlegten die USA Kampfjets des Typs F-15. Aber wohlweislich Jagdflugzeuge, nicht Jagdbomber. Mit den Jägern greift  man keine Ziele am Boden an. Ausserdem wird derzeit niemand die Nato-Russland-Gründungsakte von 1997 kündigen. Die Nato hatte sich damals verpflichtet, sich in Osteuropa nicht permanent mit starken  militärischen  Kapazitäten festzusetzen.

Aber Putin scheint diese Signale zu ignorieren.
Alle einzelnen Massnahmen zusammen dürften ihn veranlasst  haben, zu  demonstrieren, dass er weiter den starken Mann spielen kann. Zumal es ja nicht nur die  Nato-Aktivitäten gibt,  sondern auch die Aktivitäten einzelner Nato-Staaten, etwa der USA. Ausserdem gibt es Gerüchte, dass neben der Nato-Reaktionsstruppe ein weiterer militärischer Verband aufgebaut werden soll.

Wer soll dieser Eingreiftruppe der Willigen denn angehören?
Angeblich  planen  Briten,  Dänen,  Norweger, Balten, Polen, Rumänen und die USA diesen  weiteren Eingreifverband, dem  sich  auch  Kanada  anschliessen könnte. Die Rede ist von 10 000 Soldaten unter der Führung eines britischen Generals. Ob das Projekt realisiert wird, ist  noch unklar. Jedenfalls würde sich die Spaltung in der Nato vertiefen. Denn beteiligt sind genau jene Länder, die dagegen sind, dass auch die EU in Europa eine sicherheitspolitische Rolle spielt.

Was wird die Nato in Wales dem Nichtmitglied Ukraine anbieten?
Die  militärische  Zusammenarbeit wird verstärkt, etwa mit gemeinsamen Manövern oder bei der Ausbildung. Aber die Mehrheit der Nato-Länder will keinesfalls einen allfälligen Beitritt der Ukraine beschleunigen.

Wird die Ukraine irgendwann zur Nato gehören?
Klug wäre es nicht. Aber ausgeschlossen ist es auch nicht, falls sich das konfrontative Lager durchsetzt. Ähnliches trifft für Georgien zu. Bisher galt, dass man keine Länder mit ungeklärten Grenzkonflikten aufnimmt. Das ist bei  der Ukraine wie bei Georgien der Fall.

Neutrale Staaten wie Finnland und Schweden suchen wegen ihrer Nähe zu Russland den Kontakt zur Nato. Stehen die Tore der Allianz offen?
Die Nato wird sicher nicht sagen, Schweden und  Finnland dürfen nie Mitglied werden. Offen ist aber, was diese Länder selbst wollen. Und dann stellt sich die Frage, was  geschieht  mit  den anderen neutralen Staaten wie Österreich und der Schweiz.

Hat die Neutralität wegen der Krise in der Ukraine weiter an Bedeutung verloren?
Eigentlich müsste sie an Bedeutung gewonnen haben. Denn neutrale Staaten können ja an  politischen  Lösungsmodellen für die Ukrainekrise arbeiten, bei denen keiner der Streithähne  das Gesicht verliert. Dafür ist die Nato inzwischen zu sehr Partei. Dieser Vorteil wird von den Neutralen derzeit zu wenig genutzt.

Die Schweiz hat es versucht als Vorsitzende der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit, steht nun aber im Abseits.
Die OSZE ist sehr aktiv. Aber sie bleibt weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Denn sie wäre geeignet, zur Lösung eines solchen Streitfalls beizutragen. Was die  Schweiz  betrifft:  Neutrale  Staaten stehen  immer  scheinbar etwas im Abseits. Das ist eine Stärke, keine Schwäche,  denn sie sind keine Konfliktpartei. Deshalb habe ich die Schweizer OSZE-Präsidentschaft auch keineswegs abgeschrieben.

Erleben wir gerade den Beginn eines neuen Kalten Kriegs?
Nein, denn es gibt keinen Gegensatz der Systeme. Aber der Konflikt könnte eine mögliche  Westorientierung Russlands dauerhaft zerschlagen. Die Ukraine hätte eigentlich ein Brückenland werden können, gebunden an die Europäische Union und zugleich an Russland. Mit einer langfristigen Perspektive der Westintegration für den Fall, dass diese Option auch  Moskau  angeboten würde. Aber das ist nun in weite Ferne gerückt.

Das Interview führte Christof Münger


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS