Neues Deutschland
29. Juli 2010


"Was folgt aus Afghanistan-Akten?"

Friedensforscher Otfried Nassauer fordert eine realistische Lagedarstellung


Neues Deutschland: Nach dem Bekanntwerden geheimer US-Akten dreht sich die deutsche Debatte besonders um den Einsatz von Spezialkräften in Afghanistan, die gezielt Menschen töten. Ist das auch für Sie die wichtigste Frage, die sich aus der Veröffentlichung ergibt?

Nassauer: Diese Fokussierung in der deutschen Berichterstattung ist völlig normal, weil in den letzten Monaten die Stationierung amerikanischer Spezialkräfte in Nord-Afghanistan zu einem Thema wurde, dem Bundestagsabgeordnete wie Hans Christian Ströbele intensiv nachgegangen sind. Für die internationale Debatte ist entscheidend, dass die veröffentlichten 75 000 Dokumente belegen, dass das Bild, das Spitzenmilitärs und Politik in der Öffentlichkeit vom Afghanistan-Einsatz gezeichnet haben, sehr verharmlosend war. Die Wirklichkeit liegt sehr viel näher an dem, was Skeptiker und Kritiker immer wieder gesagt haben. Das ist nun quasi offiziell bestätigt.


Politiker behaupten, die Informationen seien längst bekannt. Ist die Öffentlichkeit tatsächlich nur vergesslich?

Nein, in dieser Detailliertheit waren die Vorgänge nicht bekannt. Das betrifft z.B. die Zahl der zivilen Opfer, die Jagd auf Top-Taliban, mögliche Verstöße gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht, Friendly-Fire-Zwischenfälle und vieles andere. Diese Papiere erlauben einen detaillierten Einblick in das, was in Afghanistan stattfand, und in die wirklichen Probleme.


Inwiefern gefährdet die Veröffentlichung Soldaten vor Ort, wie Wikileaks vorgeworfen wird?

Kaum. Es sind meist Politiker, die die Veröffentlichung als Sicherheitsgefährdung darstellen. Die Militärs sagen, daraus könne ein Gegner kaum wichtige Schlussfolgerungen ziehen. Man könnte auch boshaft sagen, manch Politiker demonstriert, dass er an Geheimhaltung interessiert ist, weil er seinen Vorsprung des partiellen Geheimwissens behalten will, um öffentlich leichter argumentieren zu können.


Müssten die Afghanistan-Mandate der Bundeswehr auf Grundlage dieser Informationen neu zur Abstimmung gestellt werden?

Aus diesen Unterlagen kann man das nicht ableiten. Die Dokumente enden zu dem Zeitpunkt, wo Obama seine neue Afghanistan-Strategie verkündet. Man kann nicht belegen, dass alles unverändert weitergelaufen ist. Man kann nur vermuten, dass weiterhin ein großer Widerspruch zwischen der öffentlichen Darstellung und der Realität vor Ort besteht. Die entscheidende Frage ist, ob die Hoffnung des Westens, in einigen Jahren ohne Gesichtverlust Afghanistan verlassen zu können und eine halbwegs stabile afghanische Regierung zu hinterlassen, realistisch ist. Ich war skeptisch, jetzt bin ich noch skeptischer.


Muss sich die Afghanistan-Strategie gar nicht ändern, wenn die Kritiker nun bestätigt wurden?

Ich warne davor, dass jeder jetzt behauptet, diese Unterlagen bewiesen, seine persönliche Haltung zum Afghanistan-Einsatz sei die einzig richtige. Die Situation ist im Prinzip unverändert. Der Einsatz steckt tief im Schlamassel, so tief, wie es keiner zugeben will. Und trotzdem kann die Bundeswehr nicht von Heute auf Morgen komplett abgezogen werden. Notwendig ist eine ehrliche Lagedarstellung, eine realistische Vorgabe, was man noch erreichen kann und eine ebenso realistische Umsetzungsstrategie. Eine neue Strategie ist nur dann besser als das, was im Blick auf 2014 vereinbart wurde, wenn sie realistischer ist. Ohne die Einsicht, dass es einen westlichen Gesichtsverlust geben wird, wird das nicht abgehen. Nur diese Einsicht wird den Abzug beschleunigen.

Das Interview führte Ines Wallrodt


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS