Neues Deutschland
07. August 2006


Visionen werden gebraucht, billiger geht es nicht

Interview mit Otfried Nassauer

Wie kommt endlich Frieden in den Nahen Osten? Fragen an den Sicherheitsexperten Otfried Nassauer

ND: Zwei Unerbittliche führen wieder gegeneinander Krieg. Sie lassen ihre Völker bluten. Ungezielte Hisbollah-Raketen schlagen in israelischen Wohnvierteln ein, Israels Luftwaffe zerbombt Libanon. Ein ungleicher Krieg. Ist das einer von diesen asymmetrischen Kriegen oder »nur« eine »übliche« temporäre Auseinandersetzung?
Otfried Nassauer: Ja, ein hoffentlich nur temporärer, aber durchaus ein asymmetrischer Krieg. Der zu einem regionalen Krieg eskalieren kann. Da kämpft eine Armee, die auf Aufstandsbekämpfung und zwischenstaatliche Kriege vorbereitet ist, mit einer Truppe, die Guerillakriegführung und ungelenkte Raketen kombiniert, Waffen nutzt, über die sonst nur Staaten verfügen, und zeigt, das sie erhebliche Probleme bereiten kann. Ähnliches kennen wir aus Irak, aus Afghanistan und Gebieten im Süden der ehemaligen Sowjetunion.

Nach dem 11.9. glaubte man, asymmetrische Kriege sind Terrorakte gegen den Westen und Militärschläge des Westens in der Dritten Welt. Siehe Afghanistan. Es gibt Nuancen?
Asymmetrische Konflikte können zwischen staatlichen Militärstrukturen und zur Gewaltanwendung fähigen nichtstaatlichen Akteuren aller Art entstehen. Also mit Terroristen, religiösen Extremisten, Befreiungsbewegungen, aber auch mit den Sicherheitskräften eines transnationalen Konzerns oder der Organisierten Kriminalität, die wirtschaftliche Interessen durchsetzen wollen. Sie können transnationalen Charakter haben, aber sich auch auf ein Staatsgebiet oder Teile davon beschränken.

Es gibt keine Grenzen? In Lateinamerika kann es ebenso passieren? An Russlands Südgrenzen schlägt Militär seit langem gegen Guerilla los und trifft Zivilisten ...
Das sind vergleichbare Phänomene, die unterschiedliche Ausprägungsformen finden. Ähnlich wie die so genannten »Kleinen Kriege«, die Kriege in zerfallenden Staaten. Es sind auch oft keine neuen Phänomene. Wir kennen sie seit Jahrzehnten. Im Kalten Krieg wurden sie nur meist schnell eingehegt. Die Kriegsparteien kamen in den »geopolitischen Schnellkochtopf Ost-West«. Deckel drauf und Ruhe!

Seit dem Ende der Ost-West-Auseinandersetzung sprechen wir vermehrt von Prozessen der Globalisierung. Hat das auch mit diesen neuen Kriegen zu tun?
Die wirtschaftliche Globalisierung nutzt den Weg der Deregulierung und bedeutet eine Freisetzung enormer ökonomischer Kräfte vor allem des und zugunsten des Westens. Das Recht des wirtschaftlich Stärkeren setzt sich durch. Dieser Stärkere ist immer weniger mit Nationen und deren Interessen identifizierbar. Konzerne agieren transnational und sind es auch. Kapitalmärkte werden globaler.
Inzwischen hat auch in den internationalen Beziehungen eine Deregulierung eingesetzt. Sie wird vor allem in zwei Formen sichtbar. Einmal als Deregulierung von unten. Staaten verlieren die Fähigkeit, ihr gesamtes Territorium zu kontrollieren und auf dem Papier noch bestehendes Recht durchzusetzen. Sicherheit wird privatisiert, vom öffentlichen Gut zur Ware, die sich nur leisten kann, wer dafür bezahlt oder arbeitet. So mancher Potentat geht diesen Weg gerne mit, weil er ihn bereichert, und verstärkt damit die Entwicklung.
Die andere Form der Deregulierung kommt von oben. Wir beobachten sie spätestens seit George W. Bush im Amt ist. Internationale Organisationen, sei es die UNO oder sei es die NATO, werden geschwächt. Das Völkerrecht wird übergangen und internationales Recht geschwächt, multilaterales Handeln durch unilaterales des Stärkeren ersetzt. Und das durchaus mit dem Ziel, Weltordnung zu gestalten – aber auf Wegen, die dem Stärkeren Möglichkeiten bieten, sich durchzusetzen. Im Nahen und Mittleren Osten führen die USA uns seit einigen Jahren vor, wie man Weltordnung unilateral neu gestaltet und zugleich internationale Beziehungen dereguliert. Notfalls gehören militärisch-organisierte Regimewechsel dazu. Beide Formen der Deregulierung lassen aber auch mehr Handlungsspielräume für nichtstaatliche Gewaltakteure entstehen.

Zurück zu Libanon. Offenbar ist es doch so, dass Israel die Hisbollah nicht vernichten kann, und die Hisbollah Israel nicht auslöschen?
Stimmt. Es muss sofort eine Waffenruhe geben und dann so rasch wie möglich einen richtigen Waffenstillstand. Fragt sich: Was für ein Waffenstillstand wird das sein? Einer, der den Krieg zugunsten des Stärkeren vorübergehend beendet, oder einer, der den Konflikt regelt?

Er muss langfristige politische Lösungen beinhalten. Und eine starke Blauhelmtruppe?
Ob eine Blauhelmtruppe mit einem neuen Mandat Sinn macht, das hängt von den politischen Vereinbarungen ab. Man kann nicht einfach irgendeine UNO-Truppe mit irgendeinem Mandat dahin stellen. Sie muss von beiden Seiten, von allen regionalen Mächten und von den Truppenstellern gewollt und gebilligt werden, ein klares politisches Ziel und ein so robustes UN-Mandat bekommen, dass sie die politischen Vorgaben auch umsetzen kann. Die erste Frage muss lauten: Wie sieht die politische Lösung aus? Dann erst kommt die Frage: Mit welcher militärischen Struktur kann sie abgesichert werden?

Welche Voraussetzungen wären das?
Erstens müsste die militärische Struktur der Hisbollah aufgelöst werden. Durch politische und militärische Einbeziehung in den libanesischen Staat. Hisbollahs Milizkern müsste in Libanons Armee integriert werden.

Ist Libanon, speziell die Armee, nicht zu schwach, um die starke Hisbollah zu integrieren, die jetzt noch stärker geworden ist durch die Auseinandersetzungen?
Zur Zeit ist der Libanon zu schwach, deshalb muss er zweitens politisch und durch Aus- und Weiterbildung seiner Sicherheits- und Streitkräfte in die Lage versetzt werden, die zentralstaatliche Ordnung im ganzen Land durchzusetzen und die Hisbollah zu integrieren. Die Hisbollah muss diesen Prozess politisch mittragen. Das geht, wenn man ein geeignetes Umfeld schafft. Warum gab es denn in den vergangenen Jahren keinen Bürgerkrieg mehr in Libanon? Auch, weil es das zarte Pflänzchen nachhaltiger wirtschaftlicher Entwicklung gab, das den Menschen die Perspektive eines besseren Lebens gab. Gerade weil der Krieg nun die Infrastruktur und damit auch dieses Pflänzchen zerstört, ist die Zusage schneller, substanzieller Hilfe zum Wiederaufbau und die Perspektive nachhaltiger wirtschaftlicher Entwicklung eine dritte Voraussetzung für eine politische Lösung, die den Einsatz einer Friedenstruppe rechtfertigt.
Das vierte Element einer Lösung wäre die Übergabe der Shebaa-Farmen – also eines seit 1982 von Israel besetzten, kleinen Gebietes mit Bauernhöfen – an den Libanon. Das nähme der Hisbollah das wichtigste Argument zur Rechtfertigung des bewaffneten Kampfes. Syrien, dem das Gebiet zusteht, ist zum Verzicht bereit. Ein fünftes Element wäre ein Gefangenenaustausch. Auch der scheint möglich. Deutschland hat zuletzt 2004 einen solchen vermittelt.
Es muss ein Geben und Nehmen beider Seiten entstehen, von dem alle spürbar profitieren und das mit dauerhaften Anreizen wirtschaftlicher Art verbunden ist. Vielleicht wäre das – wenn ich mal sehr optimistisch sein darf – ein Beitrag für einen Vorstoß in Richtung auf eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen und Mittleren Osten.

Eine kühne Vision. Allein mir fehlt der Glaube. Auf dem Balkan hat es auch nicht geklappt.
Richtig. Aber billiger geht es nicht, wenn es nachhaltig sein soll. Auf dem Balkan klappt es noch immer nicht, weil wir den Faktor einer nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung gegenüber Faktoren wie Stabilität, Rechtssystem, Minderheitenrechte vernachlässigt haben. Wenn der deutsche Beitrag im Nahen Osten aufzeigen könnte, dass wirtschaftliche Entwicklung eine gute Voraussetzung für Sicherheit ist und nicht nur Sicherheit eine für Entwicklung, dann wäre das schon ein gutes Zeichen von »Wir haben verstanden«.
Nur wenn Menschen erleben, dass es ihnen besser geht und sie gemeinsam Chancen auf nachhaltige Entwicklung erarbeiten können, entstehen Optionen auf eine dauerhafte Lösung. Das gilt übrigens letztlich auch für die Menschen in Israel. Wir wissen alle, dass das wirtschaftlich vergleichsweise starke Israel riesige Devisenprobleme hat. Die Aussicht auf wirtschaftlichen Aufschwung könnte auch für die Menschen dort einen größeren Reiz haben als der nächste Konflikt.

Dennoch Friedenstruppe. Wie soll die aussehen?
Weniger als 20 000 Mann wären Illusion. Die müssen in die Lage gebracht werden, jede Verletzung des Waffenstillstands zu unterbinden.

Sogar einen Angriff eines israelischen Geschwaders?
Ein wirksames Mandat, und da merkt man wie, wie schwierig es wohl wird, müsste in der Tat einer Friedenstruppe die Möglichkeit geben, zu verhindern, dass die Hisbollah mit Raketen Israel angreift und zugleich, dass Israel mit Kampfflugzeugen zuschlägt.

Wer sollte so eine Trägergruppe im Mittelmeer stationieren können? Die UN hat nichts derartiges aufzubieten.
Wozu Flugzeugträger? Nein, beide Seiten müssen von Anbeginn an mit sichtbaren, substanziellen Schritten zeigen, dass sie politisch hinter der gefundenen Lösung stehen. Die Hisbollah-Raketen müssen unter Verschluss kommen – in Libanon, aber unter internationaler Aufsicht. Israel könnte seinen politischen Willen demonstrieren, indem es der Friedenstruppe die Patriot-Einheiten übergibt, die es von der Bundeswehr vor dem Irak-Krieg geliehen bekam. Ohne Bereitschaft beider Seiten zu starken politischen Signalen würde eine Friedenstruppe kaum Chancen auf dauerhaften Erfolg haben.

Also Bundeswehr in den Nahen Osten?
Auch Holländer können Patriot-Luftabwehrraketen bedienen. Deutsche Truppen möchte ich zumindest rund um Israel nicht sehen – sie können aus historischen Gründen nicht neutral agieren.

Das Interview führte René Heilig.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS