30 Jahre INF-Vertrag: „Wieder mehr miteinander
reden“
Interview mit Otfried Nassauer
Am heutigen 1. Juni ist es
genau 30 Jahre, dass der INF-Vertrag zu nuklearen Mittelstreckensystem
in Kraft gesetzt wurde. Heute steht das Abkommen erheblich unter Druck
und es wird atomar aufgerüstet. Wir sprachen mit dem Journalisten
und Friedensforscher Otfried Nassauer über die historische
Bedeutung des INF-Vertrags, die aktuelle Krise und was sich für
heute lernen lässt.
Der INF-Vertrag besteht heute seit 30 Jahren. Warum ist er so ein Meilenstein in der Abrüstungsgeschichte?
Der INF-Vertrag war aus mehreren Gründen ein Meilenstein. Es war
der erste Abrüstungsvertrag für Atomwaffen. Frühere
Verträge hatten nur Obergrenzen festgelegt, bis zu denen
aufgerüstet werden durfte. Dieser Vertrag verbot den
Vertragsparteien, USA und UdSSR, landgestützte
Atomwaffen-Trägersysteme mit 500 bis 5.500 Kilometer Reichweite.
Vorhandene mussten zerstört werden. Abgerüstet wurden mit den
Pershing-Raketen und ihren sowjetischen Pendants Waffen, die besonders
destabilisierend hätten wirken können. Stichwort „kurze
Vorwarnzeit“. Wenn eine Atomrakete vom Start bis zum Einschlag
nur 8 bis 15 Minuten braucht, dann bleibt kaum Zeit, um zu prüfen,
ob wirklich Raketen anfliegen. Für eine durchdachte politische
Entscheidung ist dann ebenfalls keine Zeit. Man kann höchstens
noch entscheiden, die eigenen Waffen abzuschießen, bevor sie
vermutlich getroffen werden. Ein Fehlalarm wäre also auch
brandgefährlich.
Moskau und Washington vereinbarten sogar Vorortinspektionen im jeweils
anderen Staat – erst zur Bestandsaufnahme, dann zur
Überprüfung der Zerstörung der abzurüstenden
Systeme und schließlich, um zu verifizieren, dass keine neuen
mehr Waffen produziert wurden. Die problemlose Umsetzung des Vertrags
erwies sich also auch als wichtige Transparenz- und vertrauensbildende
Maßnahme. Das geschaffene Vertrauen machte später den
Abschluss der START-Verträge und der Verträge über
konventionelle Rüstung in Europa leichter und wirkte auch bei den
einseitig, gegenseitigen atomaren Abrüstungsmaßnahmen
positiv nach, den sogenannten Präsidenteninitiativen, mit denen
Tausende weitere Atomwaffen nach 1991 aus Europa abgezogen wurden.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass der INF-Vertrag eine
Trendwende darstellte – bis zu diesem Vertrag ging es meist um
quantitative und/oder qualitative Aufrüstung, mit dem Vertrag (und
dem Ende des Kalten Krieges) bekam ein neuer Trend Oberwasser: die
schrittweise Denuklearisierung der europäischen
Sicherheitsstrukturen.
Der INF-Vertrag befindet sich derzeit in einer Krise. Was ist das Problem?
Seit Anfang dieses Jahrzehnts müssen wir uns fragen, ob auch diese
Phase der Denuklearisierung jetzt wieder zu Ende geht und wir uns auf
eine Phase der Renuklearisierung der europäischen
Sicherheitspolitik zubewegen. Dafür sehe ich verschiedene
Indizien: Das wichtigste besteht in der angelaufenen Modernisierung der
atomaren Waffen, und das problematischste besteht darin, dass jetzt das
Misstrauen wieder über das Vertrauen dominiert.
Barack Obama hat als Präsident der USA 2009 die Vision
einer atomwaffenfreien Welt wiederbelebt, aber 2010 auch einen
verhängnisvollen Deal mit den Republikanern gemacht: Im Gegenzug
für die Zusage, den Neuen START-Vertrag zu ratifizieren hat Obama
versprochen, alle Nuklearsysteme, Träger und Sprengköpfe, die
weiter genutzt werden sollten, für sehr viel Geld zu
modernisieren. Damit war klar: Bis weit in die zweite Hälfte
dieses Jahrhunderts planen die USA weiter mit Atomwaffen. Seine
Außenministerin, Hillary Clinton, hat diesen Kurs 2010 auch in
der NATO durchgedrückt. Die Atombomben in Europa sollen im
nächsten Jahrzehnt modernisiert werden, die Trägerfluge auch
– Stichworte: B61-12, F-35 und Tornado-Nachfolge.
Die Scharfmacher unter den Republikanern begannen wenig später,
Russland vorzuwerfen, es plane den INF-Vertrag zu brechen und entwickle
landgestützte Flugkörper verbotener Reichweite: sowohl
Marschflugkörper als auch eine als Interkontinentalrakete getarnte
ballistische Rakete, ähnlich der der SS20. Auf Basis dieser
Vorwürfe forderte man von der Regierung Obama eine
militärische Antwort, neue Waffenprogramme, wenn Russland nicht
zur Vertragstreue zurückkehre.
Richtig ist, dass auch Russland schon länger eine umfassende
Modernisierung seiner Atomwaffen plant und betreibt. Die russischen
Systeme sind meist eine Halbgeneration älter als die der USA und
konnten aus finanziellen Gründen mehr als ein Jahrzehnt auch nicht
so gut gewartet werden wie die der USA. Ob die Vorwürfe der
republikanischen Scharfmacher tatsächlich zutreffen, ist nicht
nachvollziehbar bewiesen. Zusätzlich hat die Ukrainekrise seit
2014 das politische Klima vergiftet und mit Donald Trump haben sowohl
die atomaren Modernisierungspläne als auch die Vorwürfe an
Russland noch einmal an Schärfe und Gewicht gewonnen. Da die
Demokraten versuchen, Trump als verkappten Putinophilen zu brandmarken,
helfen sie den republikanischen Russlandkritikern bei der Forderung
nach einer harten Linie und erleichtern eine Politik der Ausweitung der
atomaren Modernisierungspläne. Inzwischen konkurrieren mehrere
Vorschläge für neue Mittelstreckensysteme um mehr Geld. Auch
in der NATO hat hinter den Kulissen bereits eine Diskussion begonnen,
Nuklearwaffen und nuklearer Abschreckung wieder mehr Gewicht zu geben.
Der NATO-Gipfel im Juli wird da vielleicht schon erste Signale senden.
Was können wir mit Blick
auf die angespannte, weltpolitische Lage und den
Aufrüstungstendenzen aus den Verhandlungen zum INF Vertrag lernen?
Der erste wichtige Schritt besteht darin, weniger übereinander als
miteinander zu reden. Ziel muss eine Wiederbelebung transparenz- und
vertrauensbildender Maßnahmen sein. Dazu gehört auch
freiwillige Selbstbeschränkung bei Schuldzuweisungen oder
unbelegten Vorwürfen gegenüber der jeweils anderen Seite.
Derzeit prägen dagegen geglaubte Wahrheiten, Propagandaversuche,
alarmistische Überzeichnungen und sogar Falschmeldungen all zu oft
die Meldungen in den Medien und die Äußerungen von
Politikern. Zurück auf dem Boden nachvollziehbarer Tatsachen
ließe sich dann auch wieder viel besser nach Möglichkeiten
suchen, wie Fortschritte bei der atomaren Abrüstung und im Bereich
der nukleare Nichtverbreitung gemacht werden können. Die
gegenwärtige Entwicklung schwächt ja auch die
Überlebenschancen für den nuklearen Nichtverbreitungsvertrag.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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