„Es gibt quasi-nukleare Staaten“
Otfried Nassauer im Gespräch mit
Dirk Müller
Der Friedensforscher Otfried
Nassauer über Präsident Trump, eine nukleare
Selbstermächtigung Europas und die Teilhabe Deutschlands an
US-Atomwaffen.
Im Jahr 2017 ist plötzlich eine Vorstellung zurück, die viele
nur noch aus Filmen und Büchern der 80er Jahre kennen: die Drohung
vollständiger gegenseitiger Auslöschung durch Atomwaffen.
Während in der NATO um die angemessene finanzielle Beteiligung der
einzelnen Staaten gestritten wird, kehrt im Windschatten dieser Debatte
die Logik der nuklearen Abschreckung zurück.
der Freitag: Müssen wir jetzt dank Donald Trump wieder mehr über Atomwaffen reden?
Otfried Nassauer: Leider ja. Und wenn der politische Druck, den derzeit
viele in Europa und bei den Republikanern auf den US-Präsidenten
ausüben, Erfolg hat und er eine konfrontative Linie gegenüber
Russland fährt, werden wir künftig wieder deutlich mehr
über atomare Aufrüstung reden.
Das halten Sie für sicher?
Ja, weil Trump zwei wichtige Rüstungskontrollverträge in
Frage stellt: Den New-START-Vertrag, der den USA und Russland im
Großen und Ganzen gleich starke strategische Arsenale zugesteht,
hat er einen „schlechten Deal“ genannt. Zugleich behauptet
er, Moskau verletze den INF-Vertrag, der beiden Staaten
landgestützte Flugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und
5.500 Kilometern verbietet. Trump sagt, Russland habe
Marschflugkörper dieser Reichweite stationiert. Nachvollziehbare
Beweise haben weder das Weiße Haus noch Trumps anonyme Quellen
aus dem US-Außenministerium vorgelegt. Und schließlich
gebraucht dieser Präsident ein Sprachbild, das mir
größte Sorgen macht, indem er sagt, die USA müssten
„Anführer des Rudels“ jener Staaten sein, die
Kernwaffen besitzen. Er denkt also auch bei Atomwaffen in den
Kategorien des Naturrechts und des Rechts des Stärkeren.
Zugleich sieht er die NATO skeptisch. Heißt das, auch für
die sogenannte nukleare Abschreckungsfähigkeit der Allianz gilt
dann „America first“?
Vielleicht haben das viele europäische Politiker im Hinterkopf,
wenn sie die US-Administration bewegen wollen, sich öffentlich zu
ihren traditionellen Bündnisverpflichtungen zu bekennen, wie man
das bei der Münchner Sicherheitskonferenz beobachten konnte. Der
CDU-Politiker Roderich Kiesewetter oder der polnische
Nationalkonservative Jarosław Kaczyński scheinen es für klug zu
halten, den Amerikanern deutlich zu machen, welche Debatten über
eine europäische Atommacht oder gar deutsche Atomwaffen ausbrechen
können, sollte die Nukleargarantie der USA wegfallen.
Kaczyński wünscht sich Europa gar als „atomare
Supermacht“. Eine Antwort auf die transatlantische Reserviertheit
der US-Regierung oder mehr?
Ich glaube nicht, dass Kaczyński wirklich will, was er sagt. Er hat im
gleichen Atemzug erklärt, ein europäisches Atompotenzial
müsse dann stark genug sein, um mit Russland mitzuhalten, was
völlig unrealistisch ist. Briten und Franzosen haben zusammen rund
550 Atomwaffen, einen Bruchteil dessen, was die USA oder Russland
besitzen. Woher sollten die Europäer die Ressourcen nehmen, um
ihre Nuklearpotenziale entsprechend zu vergrößern? Ganz zu
schweigen vom politischen Willen. Wegen des Brexits dürften die
Zweifel an den Ressourcen einer europäischen Atommacht eher
wachsen.
Dennoch wird über eine wie auch immer geartete Beteiligung Deutschlands an der „Force de Frappe“ spekuliert.
Tatsächlich hat man in Paris wiederholt mit der Idee
geliebäugelt, Deutschland unter den französischen Atomschirm
zu lassen – wahrscheinlich in der Hoffnung auf Kofinanzierung.
Doch war das für die Bundesrepublik bisher nicht attraktiv, weil
sie ihre Interessen in der NATO besser gewahrt sieht. Dort ist man in
die nukleare Planung einbezogen und glaubt über die nukleare
Teilhabe hinreichend mitreden zu können. Ob das bei einer
Kooperation mit Paris genauso wäre, bezweifeln viele.
Und welche Rolle spielt das britische Nukleararsenal?
Die Briten sind technisch von einer Zusammenarbeit mit Washington
abhängig. Das Grunddesign ihrer Sprengköpfe kommt aus den
USA, Teile der U-Boot-Technik ebenfalls Die Trägerraketen für
die Atomsprengköpfe sind nur von Washington geleast –
für eine wirklich unabhängige europäische Atommacht
wahrlich keine guten Voraussetzungen. Der britische Beitrag wäre
einer von Washingtons Gnaden.
Gibt es auch deshalb Stimmen, Deutschland solle selbst atomar rüsten?
Wie bitte? Eine deutsche Atomwaffe? Der Verzicht auf atomare, chemische
und biologische Waffen im Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 war eine
wesentliche Bedingung dafür, dass die Siegermächte des
Zweiten Weltkrieges die deutsche Einheit akzeptieren konnten –
gerade die europäischen Siegermächte. Zudem ist Deutschland
nichtnukleares Mitglied des Kernwaffensperrvertrags. Wer nach der
deutschen Atomwaffe ruft, kennt entweder die völkerrechtlichen
Verpflichtungen nicht oder meint, die Bundesrepublik könne da mir
nichts dir nichts, mal aussteigen. Käme es dazu, würde das
globale Nichtverbreitungssystem ziemlich schnell zusammenbrechen.
Aber es gibt sie, die Anhänger einer Atommacht Deutschland ...
Sicher, Rechtskonservative, Nationalisten oder Rechtsaußen, die
entweder keine Ahnung vom Völkerrecht haben oder irrigerweise
glauben, dass Deutschland profitieren könnte, wenn es etwa den
Atomwaffensperrvertrag kündigt. Dahinter steckt entweder
Größenwahn oder die pure Lust, wieder mal eine Büchse
der Pandora zu öffnen. Dass Deutschland selbst über keine
Atomwaffen verfügt, ist eine sicherheitspolitisch kluge
Selbstbeschränkung, die auch dazu beiträgt, dass unsere
europäischen Nachbarn etwas leichter mit dem wirtschaftlichen
Übergewicht Deutschlands leben können.
Wenn die Stunde schlägt
Und was ist mit der Sehnsucht nach mehr Stehvermögen gegenüber Russland?
Dazu kann ich nur sagen, je mehr atomare Akteure es gibt, desto
komplizierter wird es. Nehmen Sie nur die NATO-Erweiterungen. Die
Allianz kann sich seit Jahren nicht einigen, unter welchen Bedingungen
oder bei welchen Verhandlungsergebnissen mit Russland nichtstrategische
oder taktische Atomwaffen in Europa verzichtbar wären.
Warum ist das so?
Weil einige NATO-Mitglieder lieber mehr als weniger Waffen in Europa
hätten. Was sollte da bei einer europäischen Nuklearmacht
besser werden? Die Mitglieder sind doch weitgehend identisch.
Andererseits sind nach wie vor US-Kernwaffen auf deutschem Boden
disloziert, im Fliegerhorst Büchel, um genau zu sein. Was fragen
lässt: Wie ordnet sich in mögliche atomare Optionen
Deutschlands die sogenannte nukleare Teilhabe ein?
In Büchel lagern heute noch bis zu 20 Atombomben der Typen B61-3
und B61-4. Die kleinere B61-4 hat die vierfache Sprengkraft der
Hiroshima-Bombe. Die Waffen werden von US-Soldaten bewacht und
gewartet. Eingesetzt werden können sie nur, wenn der
US-Präsident sie freigibt.
Aber deutsche Tornados und deutsche Besatzungen würden sie im Ernstfall abschießen?
Ja, dies ist das von der deutschen Politik seit Jahrzehnten bevorzugte Modell nuklearer Beteiligung.
Was geschieht mit diesem Potenzial in den nächsten Jahren?
Die USA entwickeln derzeit eine modernisierte, zielgenauere und
militärisch nutzbarere Version der in Büchel gelagerten
Atomwaffen. Die Stationierung soll Anfang des nächsten Jahrzehnts
beginnen. Außerdem läuft die Integration der neuen Waffen in
die bereits vorhandenen amerikanischen und europäischen
Trägerflugzeuge, etwa bei den Tornados.
Inwieweit ist Deutschland dabei engagiert?
Die Bundeswehr muss die Tornados einsatzbereit halten, das heißt:
stets modernisieren, damit sie bis 2035 genutzt werden können.
Zudem trägt sie die Kosten für den Standort Büchel und
die eigenen Soldaten dort. Da die Tornados noch rund 20 Jahre genutzt
werden sollen, wird auch der Fliegerhorst für eine dreistellige
Millionensumme erneuert. Außerdem beteiligt sich Deutschland
anteilig am NATO-Programm für nukleare Stationierungsorte in
Europa. Ob die Integration neuer Atombomben von Deutschland zu
finanzierende Änderungen am Tornado verlangt, ist noch nicht
bekannt.
Das klingt so, als verstoße die nukleare Teilhabe gegen den Kernwaffensperrvertrag.
Ja und nein – je nach Sichtweise. Die NATO sagt, dass die USA vor
dem Inkrafttreten dieses Abkommens durch einen Brief des
US-Außenministers kundgetan hätten, dass sie die Teilhabe
als vertragskonform betrachteten. Dieser Brief war aber vielen
Ländern nicht bekannt, als sie den Vertrag unterzeichneten.
Seither wird durch die nukleare Teilhabe eine Gruppe von Ländern
geschaffen, die es dem Vertragstext nach eigentlich nicht gibt:
nicht-nukleare Vertragsmitglieder, die die Atomwaffen eines nuklearen
Staates im Auftrag ihres Militärbündnisses, der NATO,
einsetzen können – also quasi-nukleare Staaten.
2009 stand im Koalitionsvertrag der damaligen CDU/CSU-FDP-Regierung,
man wolle die Amerikaner zum Abzug der hier dislozierten Nuklearsysteme
bewegen. Woran ist das gescheitert?
Ganz einfach: Die CDU hat zwar zugestimmt, es in den Koalitionsvertrag
aufzunehmen, weil dieser sonst wohl nicht zustande gekommen wäre.
Kurz darauf hat das Kanzleramt aber der US-Botschaft in Berlin
bedeutet, die Passage sei nicht ernst zu nehmen. Westerwelle hat man
dann als Außenminister am ausgestreckten Arm verhungern lassen.
Lassen Sie uns zum Schluss noch einen Aspekt streifen: Obamas Nuclear
Posture Review (NPR) von 2010 fußte in den USA auf einem
innenpolitischen Deal: Die Republikaner lassen den New-START-Vertrag im
Senat passieren und im Gegenzug legt Obama ein umfassendes
Modernisierungsprogramm für das gesamte US-Nuklearpotenzial auf.
Was wird nun aus diesem Deal unter Donald Trump?
Schwer zu sagen. Sicher ist nur, Trump will mehr Geld fürs
Militär ausgeben, und es bleibt vorläufig bei der umfassenden
nuklearen Modernisierungsplanung Obamas. Trump muss im nächsten
Jahr dem Kongress auch einen NPR vorlegen. Dessen Inhalt wird stark
beeinflussen, was die NATO auf ihrem Gipfel 2018 zum Thema
Nuklearwaffen beschließt. Werden die Atombomben in Europa eins zu
eins ausgetauscht? Steigt deren Zahl, kommen neue Standorte hinzu?
Bleibt es dabei, dass keine Atomwaffen in den neuen Mitgliedsstaaten
stationiert werden? Das hatte man Russland ja in der
NATO-Russland-Grundlagenakte von 1997 politisch verbindlich zugesagt.
Oder bricht man diese Zusage unter Verweis auf die Tatsache, dass die
Zusage nur unter den damaligen Umständen galt?
Womit die Debatte über einen auf Europa begrenzbaren Atomkrieg aufflammen dürfte?
Auf jeden Fall.
Über atomare Abrüstung haben wir bisher gar nicht gesprochen.
Richtig beobachtet. Seit 2010 ist dieses Handlungsfeld systematisch
vernachlässigt und vergiftet worden. Donald Trump hat Wladimir
Putin bislang noch nicht positiv auf das Angebot geantwortet, den
gültigen New-START-Vertrag bis 2026 zu verlängern.
Weil er für Trump grundsätzlich ein „bad deal“ ist.
Und das stimmt mich pessimistisch. Wenn die atomare Abrüstung
keine Perspektive hat, wird es schwer, die Weiterverbreitung atomarer
Waffen zu unterbinden. 2020 wird es die nächste
Überprüfungskonferenz für den Atomwaffensperrvertrag
geben.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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