Putins Ärger über USA verständlich
Interview mit Otfried Nassauer
Otfried Nassauer, Direktor des Informationszentrums für Transatlantische
Sicherheit, hält die amerikanischen Plänen für ein Raketenschutzschild in Osteuropa
für voreilig. "Da werden Milliarden investiert für etwas, wo noch nicht klar ist,
ob es die Bedrohung, gegen die es errichtet wird, je geben wird", sagte Nassauer. Von
Langstreckenraketen sei der Iran "noch relativ weit entfernt".
Christoph Heinemann: Tschechien hat die NATO zur Unterstützung des
geplanten US-Raketenabwehrschilds in Osteuropa aufgerufen. "Wir bauen darauf, dass
alle europäischen Mitglieder der NATO an den Vorteilen dieses Systems teilhaben
werden", das sagte der tschechische Botschafter bei der NATO, Stefan Fule, gestern im
tschechischen Fernsehen. Das Abwehrsystem müsse in die Leitung und Kommandostrukturen der
Allianz integriert werden. NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer hat das
Abwehrsystem in der vergangenen Woche als eine bilaterale Angelegenheit zwischen den USA
und Tschechien beziehungsweise Polen bezeichnet.
Die USA planen ein Abwehrsystem mit Basen also in Osteuropa. Es soll Schutz gegen Raketen
bieten, die von Terroristen eingesetzt würden, wird aber auch im Zusammenhang mit
iranischen Atomplänen genannt. In Tschechien soll ein Abwehrsystem, in Polen sollten
Abfangraketen stationiert werden. Der tschechische Ministerpräsident Topolanek reist
heute nach Warschau, um mit dem polnischen Regierungschef Kaczynski über die Anfrage aus
Washington zu beraten.
Am Telefon ist jetzt Otfried Nassauer, der Direktor des Informationszentrums für
Transatlantische Sicherheit. Guten Tag!
Otfried Nassauer: Guten Tag, Herr Heinemann!
Heinemann: Herr Nassauer, sollte die NATO mitmachen?
Nassauer: Zunächst einmal: Es ist in der Tat ein bilaterales Projekt,
Herr Heinemann, das die Amerikaner in Osteuropa aufbauen wollen und das ausschließlich
die Funktion hat, amerikanisches Territorium vor Langstreckenraketen aus dem Nahen und
Mittleren Osten zu schützen, und nebenbei kann man dann gegebenenfalls auch theoretisch
noch ein paar russische Langstreckenraketen mit abfangen beziehungsweise irgendwelche
Langstreckenraketen, die sich Terroristen vielleicht in drei Jahrzehnten mal aneignen
könnten. Dieses System ist kein System, das darauf ausgelegt wäre, Kurz- oder
Mittelstreckenraketen abzuwehren. In diesem Bereich ist die NATO mit eigenen Projekten an
der Arbeit, zum Beispiel mit dem deutsch-amerikanischen Raketenabwehrsystem MEADS, aber
auch mit Projekten gegen Raketen mit Reichweiten bis zu 3000 Kilometer. Wenn wir jetzt mal
für alle Raketenabwehrprojekte sagen, wir wissen ja immer noch nicht, ob die Dinger
irgendwann mal funktionieren werden, dann macht eine Beteiligung der NATO an diesem
Projekt keinen Sinn.
Heinemann: Eben weil Europa gar nichts davon hätte?
Nassauer: Weil Europa erstens gar nichts davon hätte, und zweitens die
Amerikaner eines nicht zulassen werden, nämlich dass in der NATO kollektiv sozusagen der
Abschussknopf gedrückt werden müsste. Das ist eine Entscheidung, die Washington für
sich national haben möchte. Und in den Vorphasen dieser Debatte, die jetzt öffentlich
geworden ist, haben die Amerikaner sogar teilweise verlangt, dass die Tschechen und die
Polen vielleicht die Bereitschaft erklären sollten, die Stationierungsorte zum
extraterritorialen Gebiet zu erklären, also sprich zu einem Gebiet, auf dem die polnische
oder tschechische Staatshoheit nicht mehr gilt.
Heinemann: Bedroht dieses System Russland?
Nassauer: Das Problem ist nicht, dass es Russland bedroht in dem Sinne,
dass hier russische Waffen direkt bedroht werden könnten. Nein. Das Problem ist, dass
dieses Raketenabwehrsystem einen Teil der russischen Interkontinentalraketen unter
bestimmten Bedingungen theoretisch abfangen könnte, wenn es denn funktionieren würde,
und zweitens dass die Amerikaner bilateral in Absprache mit Polen und Tschechien etwas
tun, was die NATO versprochen hat nicht zu tun, nämlich strategische, militärische
Anlagen, zum Beispiel Atomwaffen, näher an die russischen Außengrenzen heranzubringen.
Das hatte man bei der Osterweiterung der NATO den Russen versprochen, und die Amerikaner
kündigen dieses Versprechen in gewisser Weise indirekt im Moment auf.
Heinemann: Also haben Sie durchaus Verständnis für Präsident Putins
Erregung?
Nassauer: Ich habe durchaus Verständnis für Präsident Putins Ablehnung
dieses Systems, und ich habe auch Verständnis für diejenigen, die sagen, die Amerikaner
hätten die Russen hier konsultieren müssen, abgesehen davon, dass ich eben an dem
militärischen Sinn eines solchen Projektes in der Tat zweifle. Da werden Milliarden
investiert für etwas, wo noch nicht klar ist, ob es die Bedrohung, gegen die es errichtet
wird, je geben wird, und auch noch nicht klar ist, ob denn dieses System je funktionieren
wird.
Heinemann: Das heißt, Sie stellen die amerikanische Bedrohungsanalyse
in Frage, der zufolge eben von einer möglichen iranischen Rakete oder iranischen Raketen
eine große Gefahr ausgehen könnte?
Nassauer: Richtig. Die Amerikaner sagen, der Iran, früher hieß es der
Nahe und Mittlere Osten, sei sozusagen das Hauptabschussgebiet, denn die
Raketenabwehrsysteme, die man in Amerika aufgebaut habe, die seien ja nur in der Lage,
sich mit nordkoreanischen Raketen zu beschäftigen. Aber wenn man sich das iranische
Raketenprogramm mal anguckt und mal die Übertreibungen westlicher Geheimdienste ein
Stückchen weit abzieht, dann wird man relativ schnell feststellen, dass die Iraner von
Langstreckenraketen auch noch relativ weit entfernt sind und dass das, was die Iraner in
den nächsten Jahren theoretisch vielleicht erreichen könnten, nämlich
Mittelstreckenraketen, bereits Gegenstand der Diskussion für ein Raketenabwehrsystem im
Rahmen der NATO ist. Das NATO-System heißt NATINEADS und wird im Moment untersucht
hinsichtlich seiner Machbarkeit.
Heinemann: Herr Nassauer, Frankreichs Präsident Jacques Chirac hat
kürzlich inoffiziell sozusagen laut ins Unreine gesprochen und gesagt, er könne mit
iranischen Atomwaffen durchaus leben, wohl wissend, dass Teheran dem Erdboden
gleichgemacht würde, wenn eine solche Rakete jemals abgefeuert werden sollte. Wirkt die
Drohung mit massiver Vergeltung abschreckend auf Terroristen oder Staatsterroristen?
Nassauer: Ich sage zunächst einmal, man sollte mit der Bezeichnung der
iranischen Regierung als Staatsterrorist vorsichtig sein, die ja implizit in Ihrer Frage
drinsteckt. Ich denke, auf einen Staat, der den Anspruch erhebt, eine Mittelmacht, eine
regionale Mittelmacht oder Großmacht zu sein wie der Iran, wirkt in der Tat die
klassische Abschreckung dann abschreckend, wenn klar ist, dass andere in der Lage wären,
ein Land wie den Iran zu zerstören. Und das ist mit den Atomwaffen, die heute vorhanden
sind, zigmal möglich. Da gibt es überhaupt keine Debatte drüber. Nur: All das
unterstellt ja auch, dass im Iran all die Entscheidungen, wo der Iran sagt, er hat sie
noch nicht getroffen, nämlich Nuklearmacht zu werden, dass die längst getroffen sind.
Und ich denke, man sollte hier ein bisschen vorsichtiger sein, denn man vergibt sich eine
Reihe von diplomatischen Möglichkeiten, wenn man dem anderen unterstellt, dass der sich
längst entschieden hat.
Heinemann: Stichwort noch mal Staatsterrorismus: Wenn der iranische
Präsident das Existenzrecht Israels infrage stellt und diesen Staat bedroht, nehmen Sie
das nicht für bare Münze?
Nassauer: Staatsterrorismus ist etwas anderes, als die Existenz eines
anderen Staates infrage zu stellen. Das Zweite, was ich hier sagen muss, ist, wir sollten
uns bestimmte Übersetzungen, die wir im Westen von Ahmadinedschads Reden anfertigen, doch
noch etwas mal genauer angucken. Teilweise handelt es sich um Zitate von Chomeini,
teilweise sagen die Übersetzungen etwas anderes als der Originaltext. Und
nichtsdestotrotz haben Sie natürlich Recht, dass Ahmadinedschad das Existenzrecht Israels
infrage stellt. Nur: Das ist ein Umgang, der zwischen Staaten historisch gesehen, schon
des Öfteren der Fall gewesen ist.
Heinemann: Ottfried Nassauer, der Direktor des Informationszentrums
für Transatlantische Sicherheit. Dankeschön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Nassauer: Auf Wiederhören.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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