Flüchtlinge – Eine Schwächung Europas?
Millionen
von Flüchtlingen strömen nach Europa. Was bedeutet diese
Völkerwanderung auf geopolitischem Niveau? Unter Führung der
USA haben sich die westlichen Demokratien in den letzten 15 Jahren in
einer ganzen Reihe von Ländern in der islamischen Welt und in
deren innere Konflikte eingemischt, erklärt Friedensforscher
Otfried Nassauer. Sei es, um den sogenannten islamistischen Terrorismus
zu bekämpfen oder sei es um Diktatoren wie Saddam Hussein,
Gaddhafi oder jetzt Assad auszuschalten.Die
Flüchtlingsströme, mit denen sich nach den
Nachbarländern nun auch Europa konfrontiert sieht, sind eine Folge
davon. Welche Ziele verfolgten die verschiedenen geopolitischen Akteure
ursprünglich und wie reagieren sie nun auf die dadurch
verursachten Probleme?
Die USA – Gescheiterter Missionar im Nahen und Mittleren Osten?
Arte: Welche Ziele verfolgten die USA in der arabischen Welt?
Otfried Nassauer: Über die geopolitischen oder wirtschaftlichen
Motive der USA, sich in die inneren Konflikte verschiedener Länder
der islamischen Welt einzumischen, spricht man wenig, über die
Werte, die es angeblich rechtfertigen sollen, dagegen viel. Das hatte
schon etwas Missionarisches. In den meisten Fällen hat sich aber
gezeigt: Mit westlichem Militär konnten zwar bestehende,
ungeliebte Herrschaftsstrukturen zerschlagen werden, aber keine von den
betroffenen Menschen und Völkern dauerhaft akzeptierten
Machtverhältnisse und Regierungsformen, keine stabilen Staaten
aufgebaut werden.
Betrachten wir den Flüchtlingsstrom aus Syrien genauer.
Zuerst flohen die Syrer nur in die jeweiligen Nachbarländer. Dann
zahlten die Geberländer diesen Nachbarländern aber nur
einen kleinen Teil der zugesagten wirtschaftlichen und finanziellen
Hilfe. Inzwischen hat sich die Lage verschlimmert: Aus Geldmangel
müssen das UN-Flüchtlingshilfswerk und das
Welternährungsprogramm nun selbst die Grundversorgung vieler
geflohener Menschen einstellen. Die Folge: Die Ärmsten müssen
zurück in die Kriegsgebiete. Wer es sich leisten kann, versucht
lieber gleich in sichere Länder zu kommen. Die liegen dann in
Europa.
Welche Verantwortung tragen die USA für die Flüchtlingsströme?
Sie tragen sicher ganz viel Verantwortung. Aber keinesfalls die
alleinige. Washington zeichnet verantwortlich für den scheinbar
"unendlichen" globalen Krieg gegen den Terrorismus, für die
Situation im Irak oder auch für das Scheitern in Afghanistan.
Europa und die USA – Will Washington Europa klein halten?
Welche Rolle spielt Europa?
Wir in Europa sollten nicht mit Steinen aus dem Glashaus werfen. Es
waren vor allem Großbritannien und Frankreich, die für ein
militärisches Vorgehen gegen Libyen und Syrien plädierten.
Die Europäer können ihre Hände also sicher nicht in
Unschuld waschen. Sie haben ja bei den US-geführten Interventionen
auch meist mitgemacht. In Washington sahen sich viele allerdings nach
dem Zusammenbruch der Sowjetunion als alleinige Supermacht, der nun
auch das Recht und die Pflicht zukomme, die Nachkriegsordnung des
Kalten Krieges zu gestalten. Das war nicht nur Siegermentalität,
sondern auch teilweise Hochmut. Man glaubte, den Nahen und Mittleren
Osten per Handstreich nach eigenem Gusto umgestalten zu können.
Ein Hochmut, dessen Folgen Europa heute ausbaden muss?
Europa ist aus Sicht der USA ein wichtiger ordnungspolitischer Partner,
aber zugleich ein wichtiger wirtschaftlicher Konkurrent. Washington
braucht es, aber es soll auch nicht zu stark und zu eigenständig
sein. Die USA rufen außerdem nach einem Europa, das außen-
und sicherheitspolitisch mit einer Stimme spricht und entschieden
handelt. Andererseits aber tun sie viel dafür, dass es nie soweit
kommt. Solange die USA als einheitlicher Staat agieren, Europa aber
erst den europäischen Kompromiss suchen muss, bevor es handeln
kann, ist das ein Vorteil für die USA, den Washington sich
möglichst lange bewahren möchte.
Ist es im Interesse der USA, Europa zu schwächen?
Europa soll keineswegs zugrunde gehen. Washington braucht die
Europäer ja als ordnungspolitischen und als wirtschaftlichen
Partner. Aber zu stark sollte Europa auch nicht werden. Deswegen
fördert Washington gelegentlich die Uneinigkeit im erweiterten
Europa. Teile und herrsche. Für die USA ist es kein Nachteil, wenn
der Konkurrent Europa mit Instabilität in seiner Nachbarschaft und
deren Folgen konfrontiert wird. Egal, ob in der Ukraine, im Nahen und
Mittleren Osten oder übrigens auch in Nordafrika. Für die USA
sind diese Regionen weit weg. Instabilität ist deshalb auch
über längere Zeit akzeptabel, wenn Europa die Kosten
trägt und deshalb weniger tun kann, um wirtschaftlich
wettbewerbsfähig zu sein. Für Europa gilt das nicht.
Naher und Mittlerer Osten – Die Karten werden neu gemischt
Wenn wir jetzt in die Krisenregionen Naher und Mittlerer Osten blicken. Welche Veränderungen sehen Sie dort?
Die Karten werden dort gerade zum Teil neu gemischt. Das geopolitisch
lange passive Russland betritt erneut die Bühne. Es entsteht auf
der einen Seite eine alawitsch-schiitische Achse um Assad, die
irakische Regierung in Bagdad und den Iran, die sich Unterstützung
von Moskau und politische Rückendeckung aus Peking erwartet, weil
diese beiden sich der Dominanz Washingtons nicht widerstandslos
unterwerfen wollen. Auf der anderen Seite haben wir die sunnitische
Struktur aus Saudi Arabien, Katar und den Emiraten. Sie wird
geschwächt.
Wodurch?
Diese Länder sind traditionell die Partner der USA. Doch in Sachen
Atomdeal mit dem Iran und Bekämpfung von IS und Al Kaida
existieren inzwischen auch deutliche Bruchlinien zu Washington.
Geopolitik ist auch immer eine Politik der Ressourcen. Inwiefern spielen Öl und Gas in dem Konflikt eine Rolle?
Es geht natürlich immer auch um Öl und Gas, um die Kontrolle
über deren Transportwege und Vermarktung. Das sind für die
einen wichtige Einkommensquellen und für die anderen wirksame
Instrumente, um wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten ganzer
Staaten beeinflussen zu können. Selbst in Syrien wird das
sichtbar. Dort konkurriert perspektivisch ein Gas-Pipeline-Projekt
schiitisch-alawitisch geführter Länder mit einem
sunnitischen. Aber auch hier zeigen sich Bruchlinien: Vor allem Saudi
Arabien zeichnet für den niedrigen Ölpreis verantwortlich. Es
will verhindern, dass sich das Fracking-Öl rechnet, neue
Ölquellen erschlossen werden. Das geht auch gegen die USA.
Umgekehrt: Der Atomdeal mit dem Iran bedeutet auch, dass ein Lieferant
auf den Weltmarkt zurückkehren würde, der erstens sehr viel
billiges Öl auf den Markt bringen kann und zweitens mit
Saudi-Arabien direkt um die Rolle der regionalen Vormacht konkurriert.
Die Türkei – Die Angst vor einem kurdischen Machtzentrum
Kommt der Türkei -geographisch bedingt- eine Art Mittlerrolle zu?
Für die Türkei ist das alles hochkompliziert. Sie ist ein
Nachbar der Kriege, der Millionen Flüchtlinge aufnehmen musste.
Sie ist das einzige islamische NATO-Land. Die Interessen der
Türkei sind aber oft andere als die der USA. Ankara hat sich von
dem Ziel einer EU-Mitgliedschaft verabschiedet, achtet stärker auf
Autonomie. Es hat verdeckt das Erstarken des IS gefördert, weil
man hoffte, IS werde seinem Hauptinteresse dienlich sein: Der
Verhinderung des Entstehens eines stärkeren kurdischen
Machtzentrums.
Die Kurden sind das größte Volk der Erde ohne
eigenen Staat. Viele leben in der Türkei. Der Wahlerfolg einer
kurdischen Partei hat zuletzt verhindert, dass die AKP des
Präsidenten Erdogan eine Regierung auf Basis einer
verfassungsändernden Mehrheit bilden konnte. Die PKK gilt in der
Türkei als Terrororganisation, ist aber zugleich zusammen mit der
syrischen YPG die kampfkräftigste Bodentruppe, die gegen IS
vorgeht. Die anti-kurdische Ausrichtung der türkischen Politik ist
allgegenwärtig, zum Beispiel auch wenn Ankara eine Schutzzone
für Zivilisten im Nordwesten Syriens vorschlägt. In diese
könnte es syrische Flüchtlinge abschieben und würde die
ethnische Zusammensetzung in diesem Gebiet damit zum Nachteil der
Kurden und Alawiten verändern und diesen zudem das Problem der
Flüchtlingsversorgung überlassen.
Russland – Erstarktes Selbstbewusstsein?
Auch Russland nimmt jetzt am Syrienkonflikt teil. Was will Russland damit bezwecken?
Wir sind -wie gesagt- in einer Zeit des Umbruchs. Russland ist
zwar keine Supermacht mehr, aber zumindest eine große
Regionalmacht und die einzige mit ausreichendem Nuklearpotential, um
den USA inakzeptablen Schaden anzudrohen. Moskau hat lange gehofft, der
Westen werde die sicherheitpolitischen Interessen Russlands letztlich
akzeptieren und Russland ein gewichtiges Wörtchen bei der
Ausgestaltung europäischer Sicherheit und in an Russland
angrenzenden Regionen zugestehen. Diese Hoffnung ist in Moskau im
letzten Jahrzehnt gestorben. Russland glaubt heute nicht mehr an ein
eigenständigeres Europa als Partner, und es glaubt auch
Washingtons Rede von strategischer Partnerschaft nicht mehr. Es setzt
auf seine eigene Kraft. Es demonstriert die Fähigkeit, seine
Interessen auch de facto durchsetzen zu können – auf der
Krim wegen der Schwarzmeerflotte und in Syrien unter Zuhilfenahme der
Schwarzmeerflotte. Die Bekämpfung radikaler Islamisten liegt
definitiv im russischen Interesse. Wie bedrohlich diese für Moskau
werden könnten, hat sich aus russischer Sicht im Nordkausasus
bereits mehrfach gezeigt. Aus Russland kommen viele Kämpfer des IS
und sie drohen mit Rückkehr.
Letztlich geht es Moskau aber um mehr: Man signalisiert
Washington und dem Rest des Westens, dass man nicht länger gewillt
ist, außenwirtschaftlich oder militärisch wichtige Partner
kampflos aufzugeben. Sie sollen gehalten werden. Moskau signalisiert in
Syrien: Assad muss in die Lösung einbezogen werden. Ob Moskau eine
solche Politik militärischen Intervenierens wirtschaftlich und
militärisch langfristig durchhalten kann, muss sich zeigen.
Niedrige Öl- und Gaspreise setzen ihm Grenzen.
Deutschland - Flüchtlinge als Potential?
Zurück zu den
Flüchtlingen, die in Europa und besonders in Deutschland ankommen
– warum lässt Angela Merkel enorme Mengen an
Flüchtlingen ins Land?
Angela Merkel ist gelernte Physikerin. Sie beobachtet die
Kräfteverhältnisse und weiß, was Kräftepolygone
sind. Sie weiß auch, wie man diese beeinflusst und eigenes
Einwirken im Voraus berechnet. Längerfristig betrachtet, ist es
definitiv von Vorteil, wenn Deutschland deutlich mehr Einwanderung
zulässt. Insbesondere wenn es um junge, relativ gut ausgebildete
Menschen geht. Es ist sogar größte Anstrengungen wert.
Syrien war ein säkularer Staat, der Baath-Sozialismus hat Wert auf
Bildung gelegt. Diese Menschen aufzunehmen kann sehr konstruktiv sein.
Bei Frau Merkel persönlich kommt vermutlich ihre Sozialisierung in
einem protestantischen Pfarrhaushalt hinzu: Protestanten sind
durch eine Art moralischen Imperativs geprägt, ethische
Verantwortung spielt eine große Rolle. Sie können nicht
darauf spekulieren, dass fehlbare, verfehlte Entscheidungen ihnen bei
der nächsten Beichte vergeben werden.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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