Gastbeitrag, erschienen im Freitag
Nr. 25 / 24. Juni 2005


Armageddon in der Eifel

Jürgen Rose

Die bis heute geltende "nukleare Teilhabe" Deutschlands verstößt gegen Völkerrecht und Grundgesetz.

Die Nuklearpolitik der USA sei "unmoralisch, illegal, militärisch unnötig und gefährlich", schrieb jüngst Robert McNamara (s. Freitag, 21/05) einst Verteidigungsminister und einer der Mentoren der Abschreckungsdoktrin der "mutual assured destruction", der wechselseitig gesicherten Vernichtung. So zutreffend dieses Urteil, so bedeutsam die Konsequenzen für die Bundesrepublik Deutschland. Nach wie vor bereiten sich ihre Streitkräfte im Rahmen der so genannten "nuklearen Teilhabe" auf den Atomkrieg vor. Zwar befinden sich die dafür vorgesehenen Atomsprengköpfe im Besitz der USA, die Trägersysteme aber stellt die Bundeswehr - derzeit die Kampfflugzeuge des Jagdbombergeschwaders 33 in Büchel, einem kleinen Dorf inmitten der idyllischen Eifellandschaft.

Während des Kalten Krieges hatten die dort gelagerten US-Potenziale die Abschreckung gegen eine ebenfalls nuklear hochgerüstete Sowjetunion zu garantieren - unter Inkaufnahme des Risikos vollständiger gegenseitiger Vernichtung, sollte ebendiese Abschreckung versagen. Schon damals ergab es für den Bundeswehrsoldaten, der gelobt respektive geschworen hatte, "der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen" - so die Eidesformel - keinen Sinn, dieses solange zu tun, bis als Folge seiner Verteidigungshandlungen keine Bundesrepublik Deutschland und kein deutsches Volk mehr existiert hätten.

Warum wird bis heute die Fähigkeit zum atomaren Overkill erhalten, wenn doch das Bundesverteidigungsministerium seit 1994 kontinuierlich feststellt, Deutschland sei nur noch von Verbündeten und Partnern umgeben? Welchen sicherheitspolitischen Sinn hat eine nukleare Rüstung gegen eine nicht vorhandene Bedrohung?

"Solange Atomwaffen existieren, müssen wir ernsthaft mit einem Atomkrieg rechnen", meinte die indische Schriftstellerin Arundhati Roy nach dem 11. September 2001. Sie hat auf erschreckende Weise Recht, planen doch die USA inzwischen gemäß der Bush-Doktrin sogar präventive Nuklearschläge. Im Weißen Haus wird argumentiert, dass man unterirdische Bunker durch Kernwaffen nehmen müsse. Auch könne nur die extreme Hitze einer nuklearen Detonation Sporen, Kampfstoffe oder radioaktives Material vernichten. Mit anderen Worten, der globale Krieg gegen "Terror, Massenvernichtungswaffen und Tyrannei" lässt den Einsatz von Kernwaffen denkbarer denn je erscheinen.


Den Befehl verweigern


Mit Blick auf die verbliebenen Lagerstätten von Atomwaffen in Europa und Deutschland wie Büchel und Ramstein, ist festzuhalten, dass die dort gelagerten Arsenale ein signifikantes Risiko sowohl für die Soldaten, die sie bewachen, als auch für die Zivilbevölkerung in der Region darstellen. Nicht allein deshalb, weil jeder Umgang mit nuklearem Material stets Gefahren birgt, sondern weil jeder Ort, an dem Kernwaffen lagern, für einen potenziellen Gegner selbst als ein Ziel von höchster Priorität gilt. Außerdem geht heutzutage eine nicht unerhebliche Bedrohung von Terrorgruppen aus, die über Massenvernichtungswaffen verfügen wollen. Behaupte niemand, dies sei unmöglich. Die Atomwaffen mögen nach dem jetzigen Stand der Technik optimal gesichert sein - alles andere würde den Tatbestand krimineller Unterlassung erfüllen -, doch eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, kein von Menschen erdachtes System ist jemals perfekt. Der beste Schutz vor Nuklearterror besteht darin, Kernwaffen gar nicht erst zu stationieren und damit einem Gegner erst gar kein Ziel zu bieten.

Neben diesen sicherheitspolitischen Risiken stellt die Existenz von Atomwaffen auch einen permanenten Rechtsbruch dar: Das Kriegsvölkerrecht ächtet und verbietet den Einsatz nuklearer Waffen. Die Genfer Zusatzprotokolle von 1977 schreiben in Artikel 51 das Verbot des "unterschiedslosen Angriffs" fest und schließen damit zugleich "die Nutzbarmachung der Nuklearwaffe als Kriegsführungsinstrument aus". Das epochale Gutachten des Internationalen Gerichtshofes vom 8. Juli 1996 bestätigt diese Rechtsauffassung, indem es feststellt: "Die Vernichtungskraft von Nuklearwaffen kann weder in Raum noch Zeit eingedämmt werden. Sie können die gesamte Zivilisation und das gesamte Ökosystem des Planeten zerstören."

Wenn Atomwaffen gegen das Völkerrecht und das Kriegsvölkerrecht verstoßen, sind sie zugleich verfassungswidrig, denn nach Artikel 25 des Grundgesetzes sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebiets - nicht zuletzt für die Soldaten der Bundeswehr! Als Konsequenz ergibt sich, dass ein Soldat, der das Recht, nämlich Völkerrecht und Grundgesetz, wahren und verteidigen will, nach dem Soldatengesetz verpflichtet ist, sich einem Befehl zum Einsatz nuklearer Waffen zu verweigern. Wenn aber Atomschläge als Unrechtsakte klassifiziert sind, gilt dies selbstredend auch für vorbereitende Handlungen wie Lagerung, Einsatzplanung oder Angriffstraining.


Im Zeitalter des absoluten Krieges


Schlussendlich sind Atomwaffen auch moralisch höchst verwerflich: Schon 1795 vermerkte Immanuel Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden: "Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem anderen solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen ... Das sind ehrlose Strategemen. Denn irgendein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muß mitten im Kriege noch übrig bleiben, weil sonst auch kein Friede abgeschlossen werden könnte, und die Feindseligkeit in einen Ausrottungskrieg ausschlagen würde ... Woraus denn folgt: dass ein Ausrottungskrieg, wo die Vertilgung beide zugleich, und mit dieser auch alles Rechts treffen kann, den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung stattfinden lassen würde. Ein solcher Krieg also, mithin auch der Gebrauch der Mittel, die dahin führen, muß schlechterdings unerlaubt sein."

Massenvernichtungsmittel, die ganze Städte einäschern können, sind gewiss ungeeignet, auch nur eine minimale Vertrauensbasis beim jeweiligen Gegner im Hinblick auf einen künftigen Frieden aufrechtzuerhalten. Die auch nur potenzielle Aufhebung der Existenz ganzer Völker, wie der Einsatz von Kernwaffen sie heraufbeschwört, stellt somit per se einen Verstoß gegen die unmittelbare Pflicht zum Frieden im Sinne Kants dar.

Jedem Welt- oder Staatsbürger, der die Ideale des Menschenrechts - Freiheit, Menschenwürde, Recht auf Leben - vertritt und verwirklicht sehen will, muss dies als die größte denkbare Barbarei erscheinen. Für jeden Soldaten, der auch nur einen Funken Moral, Humanität oder auch soldatisches Ehrgefühl im Leibe besitzt, muss der Gedanke, Atomwaffen gegen unverteidigte Städte mit schutzlosen Frauen und Kindern einzusetzen, unvorstellbar sein. Ungehorsam gegenüber derartigen, jegliche Rechts- und Moralvorstellung pervertierenden Befehlen sollte als höchste Pflicht gelten.

Einer der Begründer der Bundeswehr, der spätere Generalleutnant Wolf Graf von Baudissin, hatte diesbezüglich bereits 1951 betont: "Wir haben ernsthaft und redlich umzudenken und uns bewußt zu machen, dass der Soldat in allererster Linie für die Erhaltung des Friedens eintreten soll; denn im Zeitalter des absoluten Krieges mit seinen eigengesetzlichen, alles vernichtenden Kräften gibt es kein politisches Ziel, welches mit kriegerischen Mitteln angestrebt werden darf und kann - außer der Verteidigung gegen einen das Leben und die Freiheit zerstörenden Angriff." Selbst in der US-Armee wurden vereinzelt Bedenken laut, beispielsweise kurz vor der atomaren Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki. Damals pochte Fleet Admiral William Leahy, Chef des Stabes und Mitglied der US-Delegation bei der Potsdamer Konferenz 1945, auf die traditionelle Soldatentugend, nicht vorsätzlich Zivilisten, Frauen und Kinder zu töten. Der atomare Bombenkrieg würde, wie er sich ausdrückte, "die Menschheit auf den ethischen Standard der Barbaren im finsteren Mittelalter zurückwerfen".

Während ungeachtet dessen die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland weiterhin die nukleare Abschreckung als zeitlich begrenzte Übergangslösung legitimieren, äußerten bereits 1983 - auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges! - die katholischen Bischöfe Nordamerikas in ihrem Pastoralbrief unmissverständlich: "Unter keinen Umständen dürfen Kernwaffen oder andere Massenvernichtungsmittel zum Zweck der Vernichtung von Bevölkerungszentren oder anderen vorwiegend zivilen Zielen benutzt werden." Und weiter: "Wir können uns keine Situation vorstellen, in der die vorbedachte Einleitung nuklearer Kriegführung, und sei sie noch so begrenzt, moralisch gerechtfertigt werden könnte." Daraus folgt: Waffen, durch deren Einsatz die Vernichtung der menschlichen Zivilisation riskiert wird, können kein legitimes Mittel zur Bewahrung von Freiheit und Frieden darstellen. Es gilt daher: Weg mit diesen Waffen!

 


 

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.