Motive der Konfliktparteien im Iran-Atomkonflikt
Das Scheitern der EU-Diplomatie und Alternativen zu einem neuen Krieg
Gastbeitrag von Mohssen Massarrat
Der Iran-Atomkonflikt wird in der öffentlichen Debatte überwiegend darauf
zurückgeführt, dass das iranische Atomprogramm nicht nur energiepolitische, sondern auch
militärische Ziele verfolgt und dass die "internationale Gemeinschaft" aus
Sorge um die Nicht-Weiterverbreitung von Atomwaffen Iran zu einer Änderung seiner
Atompolitik bewegen will. In der Logik dieser Konfliktbeschreibung liegen auch
Schlussfolgerungen, die einen Gewalteinsatz als Mittel zur Konfliktlösung legitimieren:
"Sollte Teheran nicht zu mehr Flexibilität bereit sein", so Oliver Thränert
von der Stiftung Wissenschaft und Politik, "dürfte es kaum eine andere Möglichkeit
geben, als zu versuchen, durch Beschlussfassung des UN-Sicherheitsrates Iran auch mit
nicht-kooperativen Mitteln von seinen allem Anschein nach bestehenden Absichten, sich eine
Atomwaffenoption zu verschaffen, abzubringen." [1]
Diese, letztlich einen Krieg befürwortende Position, die inzwischen leider in
Europa zur Mainstream-Position geworden ist, ist empirisch einseitig und unterschlägt die
vielschichtigen Motive und Interessenlagen auf beiden Seiten des Konflikts. Der Iran
verfolgt mit seinem Atomprogramm energiepolitische, sicherheitspolitische sowie
wirtschafts- und technologiepolitische Ziele mit national-symbolischer Bedeutung. Der
Westen verfolgt dagegen einerseits das Ziel zu verhindern, dass der Iran eine regionale
Atommacht wird. Andererseits kristallisiert sich auch heraus, dass sich hinter dem Vorwand
der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen eine Strategie der flächendeckenden
Weiterverbreitung von Atomenergie und Interessen der internationalen Nuklearindustrie
verbirgt. Im Folgenden sollen zunächst die Motive und Interessen beider Seiten näher
erläutert und dann Alternativen zum Gewalteinsatz und Krieg skizziert werden.
Energie- und nukleartechnologische Motive
Das iranische Energieministerium prognostiziert bis 2025 den Bedarf einer
Kraftwerkskapazität von 100.000 Megawatt, die gegenwärtige Kapazität beträgt ca.
40.000 MW. Dieser Bedarf wird mit steigender Bevölkerungszahl und wachsendem
Lebensstandard begründet. Zur Deckung des wachsenden Strombedarfs seien - so die
iranische Regierung - demzufolge 15 bis 20 Atomkraftwerke mit einer Gesamtkapazität von
20.000 MW erforderlich. Anderenfalls wäre der Iran gezwungen, bald die gesamte Öl- und
Gasproduktion für den einheimischen Verbrauch einzusetzen (gegenwärtig beträgt dieser
Anteil 40%), mit der Folge, dass seine Deviseneinnahmen auf Null sinken würden. Diese
doch beträchtliche nukleare Kraftwerkskapazität setze - so Teheran - einen
eigenständigen iranischen Brennstoffkreislauf, d.h. die Herstellung von yellow cake, die
Erzeugung des gasförmigen Uranhexafluorid (UF6) und schließlich die Urananreicherung auf
3% voraus. Nur so könne langfristig die eigene energiepolitische Unabhängigkeit und
Sicherheit garantiert werden.
Mit einer ähnlichen Argumentation schuf 1975 das mit den USA verbündete Schah-Regime
- seinerzeit mit Zustimmung und Unterstützung von USA und Europa - das iranische
Atomprogramm, das schon damals den vollständigen Brennstoffkreislauf einschloss. 1981 -
nach der islamischen Revolution, die 1979 stattfand - beschloss die neue islamische
Führung, das nukleare Programm des alten Regimes weiterzuführen.
Inzwischen sind ca. 4.000 Ingenieure und Wissenschaftler in der iranischen
Nuklearindustrie beschäftigt, die - ganz in Übereinstimmung mit der Propaganda der
europäisch-amerikanischen Nuklearindustrie - den Atomstrom als die einzige Alternative zu
erschöpfbaren fossilen Energiequellen erklären und dafür plädieren, die Atomenergie
zum zweiten Standbein der iranischen Energieversorgung zu machen. [2]
Die Prognosen zum Strombedarf entsprechen den Wünschen iranischer Atomenergieexperten,
die genauso willkürlich und unbegründet sind wie die Strombedarfsprognosen der deutschen
Atomindustrie vor 30 Jahren.
Erstens werden in dieser Prognose die technologischen Möglichkeiten zur
Steigerung der Energieeffizienz und Absenkung des Bedarfs in großem Umfang nicht
berücksichtigt. [3]
Zweitens wird die Perspektive der Nutzung von regenerativen Energiequellen,
deren Potentiale im Iran beträchtlich sind, als Alternative zur Nuklearenergie und ein
zweites Standbein neben den fossilen Energiequellen systematisch ausgeblendet.
Die USA und die EU haben bisher weder die iranischen Strombedarfsprognosen, und damit
die angepeilte nukleare Kraftwerkskapazität, in Frage gestellt, noch von sich aus die
Alternative regenerativer Energietechnologien für Irans Energieversorgung ins Spiel
gebracht. Ganz im Gegenteil erklärte sich die EU in ihrem Angebot vom 8. August 2005 [4] bereit, Iran beim massiven Ausbau der
Atomenergie zu unterstützen, allerdings mit der Bedingung eines dauerhaften iranischen
Verzichts auf Urananreicherung.
Diese Bedingung liefe aus iranischer Sicht darauf hinaus, die für die Sicherheit der
Energieversorgung sensibelste Stufe der nuklearen Energieerzeugung ins Ausland zu
verlagern und sich in eine dauerhafte Abhängigkeit zu begeben. Alle Fraktionen der
iranischen Elite lehnen dieses Ansinnen ab: "Wir wollen", so die überwiegende
Ansicht der Regierung und des Parlaments "die Abhängigkeit von eigenen fossilen
Energiequellen reduzieren, aber nicht um den Preis einer neuen energiepolitischen
Abhängigkeit, und dazu noch einer Abhängigkeit vom Ausland bzw. von Staaten, die uns
nicht freundlich gesinnt sind".
Tatsächlich wäre der Iran dadurch jederzeit erpressbar, und seine kostspieligen
Atomanlagen wären im Konfliktfall keinen Pfifferling mehr wert. Teheran wirft den USA und
der EU vor, unter dem Vorwand der Nicht-Weiterverbreitung von Atomwaffen die
Weiterverbreitung und den flächendeckenden Export von Atomkraftwerken absichern und
entgegen den Bestimmungen des Atomsperrvertrages (NPT) zwei Klassen von Staaten mit
unterschiedlichen Rechten schaffen zu wollen. [5]
Präzedenzfall Iran
Die Annahme ist nicht abwegig, dass im Süden eine von der internationalen
Nuklearindustrie, hauptsächlich der US-Nuklearindustrie, abhängige Energieversorgung
etabliert werden soll. Angesichts der weltweit steigenden Energienachfrage, der sinkenden
fossilen Energieressourcen und der Notwendigkeit zur Reduktion von CO2 rechnet die
internationale Nuklearindustrie mit einer Renaissance der Atomkraftwerke, zumal vor allem
die US-Nuklearindustrie Prototypen von Mini-AKWs entwickelte, die auch in ländlichen
Gebieten dezentral installiert werden könnten.
Doch diese langfristig angelegte Strategie der Weiterverbreitung von Atomenergie
erfordert gleichzeitig eine überzeugende neue Strategie der Nicht-Weiterverbreitung von
Atomwaffen, zumal NPT sich dazu als lückenhaft erwiesen hat. In diesem Kontext ist es
naheliegend, durch Iran notfalls auch mittels Gewalteinsatz den Präzedenzfall für zwei
Klassen von Staaten mit unterschiedlichen Rechten zu schaffen: Erstens die
Industriestaaten mit allen rechtlichen Möglichkeiten der AKW-Produktion und des
weltweiten Exports. Und zweitens die Länder des Südens, denen die Rolle
zugewiesen wird, die AKWs importieren zu dürfen, im Übrigen aber von fremder
Brennstoffversorgung, und damit der Nuklearindustrie der Industrieländer, de facto
langfristig abhängig zu werden.
Für diese Annahme spricht, dass im 35-seitigen EU-Angebot an den Iran die Handschrift
der internationalen Nuklearindustrie nicht zu übersehen ist. Die EU-Staaten Deutschland,
Frankreich und England vermieden es in diesem Angebot, dem Iran zur Deckung der
Bedarfslücke anstelle von Atomtechnik als zweites Standbein regenerative
Energietechnologien anzubieten, obwohl ein derartiges Angebot dem Unabhängigkeitsargument
der iranischen Seite Rechnung tragen und dem iranischen Atomprogramm auf glaubwürdige
Weise die energiepolitische Legitimation entziehen würde.
Es ist unbegreiflich, warum ausgerechnet der (ehemalige) grüne Außenminister und die
(ehemalige) rot-grüne Bundesregierung es versäumt haben, die regenerative
Energiealternative wenigstens ins Spiel zu bringen, zumal nur diese Alternative auch die
sicherste Garantie dafür darstellt, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern.
Indem die drei EU-Staaten diese Alternative bisher an keiner Stelle erwähnen und
ausschließlich die Atomenergie in den Vordergrund stellen, setzen sie sich dem Verdacht
aus, den Iran-Konflikt für die Sanierung der internationalen Nuklearindustrie
instrumentalisieren zu wollen.
Das sicherheitspolitische Motiv
Der Iran ist eine regionale Mittelmacht, sicherheitspolitisch aber der militärischen
Überlegenheit seiner strategischen Hauptgegner, nämlich der Hegemonialmacht USA und dem
Ministaat Israel gleichermaßen, hoffnungslos ausgeliefert. Nicht nur die gegenwärtige
islamische Regierung, sondern auch eine demokratisch säkulare Regierung wird sich mit dem
bestehenden "Sicherheitsdilemma" nicht abfinden.
Irans Nachbarstaaten Pakistan und Russland sind Atomstaaten, Israels Atomwaffen (200
bis 300 Atomsprengköpfe und alle dazu erforderlichen Trägersysteme) stellen für den
Iran eine aktuelle Bedrohung dar. Hinzu kommt die militärische Einkreisung Irans durch
die USA von allen vier Himmelsrichtungen.
Die EU ignorierte in ihrem Angebot Ende August diese Realität völlig. Ihr Angebot,
auf eine Bedrohung Irans mit britischen und französischen Atomwaffen zu verzichten, ist
ein Hohn und eine Beleidigung für die Intelligenz des iranischen Militärs und der
Sicherheitsberater.
Obgleich die iranische Regierung wohlweislich jegliches Junktim zwischen ihrem
Atomprogramm und dem Sicherheitsdilemma vermeidet, ist nicht von der Hand zu weisen, dass
Irans Militär auf die Atomwaffenoption drängt. Der geplante Schwerwasserreaktor in der
Nähe der Stadt Arak, der für die Produktion von waffenfähigem Plutonium geeignet ist,
sowie das Programm zum Ausbau von Trägerraketen lassen auf die Absicht schließen, sich
die technologischen und wissenschaftlichen Kapazitäten für die militärische Option zu
verschaffen.
Dabei geht es dem Iran um die Herstellung der Balance of Power und eines Gleichgewichts
des Schreckens, getreu den international immer noch vorherrschenden
sicherheitspolitischen Doktrinen. Israel ist dagegen entschlossen, die atomare
Vormachtstellung im Mittleren und Nahen Osten unter keinen Umständen aus der Hand zu
geben und gegnerische Nuklearprojekte, wie 1981 in Irak, präventiv zu zerstören.
Schenkt man einer informativen Spiegel-Titelgeschichte Glauben, stand Israel tatsächlich
auch bereits zwei Mal kurz davor, Atombomben gegen arabische Nachbarn einzusetzen: 1973 im
Yom-Kippur-Krieg und 1982 zu Beginn des Libanonkrieges. [6] Die USA und offensichtlich auch die EU wollen, dass Israel seine atomar
gestützte militärische Vormachtstellung behält. "Viele Menschen begreifen nicht
hinreichend", sagte Joschka Fischer als deutscher Außenminister in einem
Zeit-Interview "warum Israel eine Position der militärischen Überlegenheit
braucht." [7]
Wer aber von Israels militärischer Stärke spricht, der meint natürlich auch dessen
Atomwaffenarsenal und nimmt in Kauf, dass Israel gegebenenfalls davon Gebraucht macht. Als
moralische Rechtfertigung dafür wird auf das Existenzrecht des jüdischen Staates und auf
die Rhetorik führender Politiker der Region, wie jüngst die inakzeptable Äußerung des
iranischen Staatspräsidenten Ahmadinedschad: "der Schandfleck wird ohne Zweifel aus
dem Schoß der islamischen Welt verschwinden", hingewiesen.
Das Monopol an Atomwaffen macht Israel einerseits militärisch unangreifbar, es bedroht
gleichzeitig aber alle anderen Staaten in der Region und zwingt diese dazu, sich ebenfalls
Atomwaffen zu beschaffen. Dadurch wird Israels Bevölkerung zur Geisel einer permanenten
Angst und Unsicherheit, dass es irgendeinem Staat der Region doch noch gelingen könnte,
den jüdischen Staat mit Atomwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen zu bedrohen. Aus
dieser Perspektive sind Israels Atomwaffen die schlechteste aller Optionen, um sein
Existenzrecht zu garantieren. "Zu viel militärische Macht bringt nicht automatisch
mehr Sicherheit, sondern gefährdet sie eher", lautet der Lehrsatz des neoklassischen
Realismus, der vor dem Hintergrund des atomaren Overkills im Ost-West-Konflikt formuliert
und als allgemein gültig anerkannt worden ist.
Der Verdacht liegt nahe, es geht den Vereinigten Staaten bei ihrer Mittelost-Politik
nicht in erster Linie um die Verteidigung der Existenz Israels, sondern darum, die
Existenzängste der israelischen Bevölkerung für eigene geopolitische Ziele in einer der
sensibelsten Regionen der Welt zu instrumentalisieren. Ein Zustand der Unsicherheit, der
Instabilität und der permanenten gegenseitigen Bedrohung liefert einen permanenten Grund
für Parteinahme, Einmischung und schließlich auch militärische Interventionen, die den
eigenen geopolitischen Interessen dienlich sind.
Symbolisches Motiv: Atomprogramm als nationales Projekt
Das energiepolitische Motiv Irans deckt sich weitgehend mit seinem
sicherheitspolitischen Motiv. Atomenergieexperten wähnen sich im Bündnis mit den
Technokraten und der militärischen Elite der islamischen Republik. Doch es geht um mehr:
Es geht um die Mobilisierung aller, auch der regimekritischen Iraner für ein vermeintlich
nationales und Identität stiftendes Projekt.
Inzwischen ist das Atomprogramm tatsächlich für alle politischen Fraktionen im Iran,
für Reformer wie für die Konservativen, auch für die studentische Opposition, die für
Demokratie und den säkularen Staat eintritt, zu einem symbolischen nationalen Projekt
geworden, an dessen Fundamenten gegenwärtig niemand rütteln kann und will.
Irans ehemaliger Staatspräsident und Reformer Khatami verteidigte das nukleare
Projekt, da es "unseren nationalen Interessen, unserer nationalen Ehre, unserer
Zukunft entspricht und unser Fortschritt davon abhängt". Noch deutlicher legt sich
der konservativ orientierte Teil der iranischen Elite um den neuen iranischen Präsidenten
auf das nukleare Projekt fest. "Der nukleare Brennstoffkreislauf", sagte der
neue Chef von Irans Nationalem Sicherheitsrat, Larijani, "ist ein Recht und zugleich
auch ein Bedürfnis, ... kein Volk kann am Zugang zu dieser Technologie gehindert werden.
Dabei dürfen wir nicht übersehen, Ahmadinedschad siegte und übernahm die Macht, weil er
die Idee und das Ziel für Iran verfolgte, diese Technologie zu beherrschen und den
erreichten Stand zu verteidigen. Er fühlt sich diesem Anliegen nachhaltig verpflichtet.
Damit ist dieses Projekt eine nationale Idee und ein nationales Ziel geworden. Es ist ein
großer Fehler des Westens, dass er diese allgemein verbreitete Auffassung der Iraner
ignoriert." [8]
Die Parallele zwischen Mossadeghs Projekt der Nationalisierung der iranischen
Ölindustrie vor 55 Jahren und dem nuklearen Projekt liegt auf der Hand. Mossadeghs
Projekt trug tatsächlich zum Nationalbewusstsein und zum Souveränitäts- und
Freiheitsgefühl im modernen Iran bei. Die kollektive Erinnerung daran, dass es die USA
und Großbritannien waren, die vor über einem halben Jahrhundert Mossadeghs Projekt der
Nationalisierung des Erdöls gewaltsam zu Fall brachten, bestätigt viele Iraner in der
Auffassung, dass es dem Westen auch diesmal darum geht, Irans Souveränität aushebeln zu
wollen, und dass so wie damals die eigenständige Ölindustrie nun heute die Schaffung
einer eigenständigen Nuklearindustrie im Iran verhindert werden soll.
Doch kann das nukleare Projekt seine symbolische Funktion genauso schnell wieder
verlieren, wie sie entstanden ist. Das nukleare Projekt verschlingt beträchtliche
Ressourcen des Landes und ist ökonomisch nicht tragfähig. Es schafft mehr Abhängigkeit
und Konflikte, ohne für Irans Energiebedarf einen nennenswerten Beitrag zu leisten.
Wie wahrscheinlich ist ein neuer Krieg?
Die islamische Regierung hat sich auf das Recht zur Urananreicherung und die
Beherrschung des gesamten Brennstoffkreislaufs festgelegt. Ein Abweichen von diesem Ziel
ohne objektive Sicherheitsgarantien zur Überwindung von Irans Sicherheitsdilemma und ohne
nachvollziehbare Antworten für die Möglichkeit einer selbstständigen Energieversorgung
scheint so gut wie ausgeschlossen zu sein.
Einseitige Forderungen ohne seriöse Gegenleistungen, wie das EU-Angebot vom 8. August
2005 [9], sind zum Scheitern verurteilt. Auch
die USA bestehen entsprechend der oben dargestellten ökonomischen, sicherheits- und
geostrategischen Motive weiterhin auf ihrem Standpunkt, Iran zu einem Verzicht auf
Urananreicherung zu zwingen. Die EU-Diplomatie ist gescheitert und befindet sich
inzwischen im Schlepptau der amerikanischen Iran-Politik. Auch der russische Vorschlag,
die Urananreicherung auf russischem Boden durchzuführen, dürfte an der Absicht Teherans
scheitern, sich wegen der Atomstromproduktion nicht vom Ausland abhängig machen zu
wollen.
Durch die Logik vom scheinbar unauflösbaren Gegensatz zwischen den Konfliktparteien
gerät eine weitere Konfliktzuspitzung - letztlich auch ein Krieg - immer mehr in den
Bereich der Wahrscheinlichkeit, und dies trotz der massiven Rückschläge für die USA und
die Neokonservativen im Irak.
Die US-Regierung glaubt, ohne Bodentruppen und durch die Zerstörung von Irans
Atomanlagen aus der Luft die iranische Bedrohung abzuwenden und dabei im Unterschied zum
Fall Irak die Weltöffentlichkeit auf ihrer Seite zu haben.
Washington verfügt über detaillierte Planungen für einen Luftangriff gegen iranische
Atomanlagen. Seymour Hersh, die Koryphäe im investigativen Journalismus der USA,
enthüllte im ebenso renommierten wie vorsichtigen "New Yorker" Mitte Januar
2005 die Angriffsabsichten der US-Neokonservativen.
"Bei meinen Recherchen während der beiden vergangenen Monate wurde ich allerdings
mit viel undiplomatischeren Auffassungen konfrontiert. Die Falken in der Regierung rechnen
damit, dass sich schon bald das Scheitern der europäischen Vermittlungsbemühungen mit
Teheran herausstellen wird." Dann sei der Zeitpunkt gekommen, an dem die US-Regierung
zur Tat schreiten müsse. "Wir reden hier nicht über irgendwelche Positionspapiere
des Nationalen Sicherheitsrats", betonte der frühere Spitzenagent. "Über diese
Hürde sind die längst hinweg. Es geht nicht mehr darum, ob sie irgendetwas gegen Iran
unternehmen. Sie werden es tun." (Hersh in: Der Spiegel 4/2005)
Scott Ritter, ehemaliger Irak-UN-Beauftragter, will von der dezidierten Absicht
der USA wissen, Iran durch eine Resolution im UN-Sicherheitsrat verpflichten zu wollen,
der IAEA sowohl die Kontrolle seiner nuklearen wie auch aller militärischen Einrichtungen
zu jedem Zeitpunkt und ohne Voranmeldung zu erlauben. Da jedoch der Iran - wie
vorauszusehen ist - eine derart weitreichende Resolution als Angriff auf die eigene
Souveränität auffassen und daher zurückweisen würde, fühlte sich die US-Regierung
hinreichend legitimiert, mit oder auch ohne Zustimmung des Sicherheitsrates gegen den Iran
Krieg zu führen [10] und z. B. Irans
nukleare und militärische Anlagen aus der Luft zu bombardieren.
Daniel Ellsberg, der durch die Veröffentlichung von Geheimdokumenten des Pentagons zum
Vietnamkrieg zum vorzeitigen Ende des Krieges beitrug, hält es für wahrscheinlich, dass
die US-Regierung einen Luftkrieg gegen den Iran unternehmen wird, und zwar zu einer Zeit,
die ihr politisch geeignet erscheint. [11]
Glaubte man den Aussagen in dem Unternehmenskreisen nahestehenden Magazin
"Vertrauliche Mitteilungen aus Politik, Wirtschaft und Geldanlage", dann hätten
US-Unterhändler bereits im Oktober 2005 mit den Vertretern wichtiger Industrienationen
und internationaler Finanzinstitutionen Stützungsmaßnahmen für Börsen- und
Währungskurse vereinbart, die im Falle eines Krieges gegen den Iran ergriffen werden
sollten. Dabei ginge es vor allem darum zu verhindern, dass der US-Dollar seine Funktion
als Öl-Leitwährung verliert. "Die Gesprächsteilnehmer wurden instruiert, dass das
Eingreifen der USA im März 2006 erforderlich werden könnte. Die Planungen gehen offenbar
von einem möglichen Angriff zu diesem Termin aus." [12]
Indizien für eine Art psychologische Kriegsvorbereitung erhärten die Annahme
ernsthafter Kriegsabsichten der Vereinigten Staaten. Dazu gehört die systematische
Stigmatisierung Irans als unglaubwürdige Konfliktpartei. Die in den neunziger
Jahren begangenen Rechtsbrüche werden immer wieder aufgefrischt, obwohl Irans Atomanlagen
inzwischen zu den weltweit bestkontrollierten gehören. Zu beobachten sind auch die
systematischen "Enthüllungen", die das Unglaubwürdigkeitsstigma festigen
sollen.
Im November 2005 wurde die Meldung der Entdeckung eines Laptops mit geheimen Details
lanciert. Tatsächlich liegt dieser Laptop dem CIA aber bereits seit einem Jahr vor und
enthält keineswegs derart hochstilisierte Geheiminformationen.
Ein fünfseitiges Dokument mit Zeichnungen zum Bau von Atombomben wurde ebenfalls im
November als neue Enthüllung deklariert. Tatsächlich hatte aber der Iran selbst dieses
Dokument der IAEA übergeben. [13] Besonders
gravierend ist die Umkehrung der Beweislast für den Iran, keine Absicht zum Bau von
Atombomben zu hegen. Da jegliche iranische Beteuerung in Zweifel gezogen werden kann,
dürfte der Iran immer auf der Anklagebank sitzen. Zu den psychologischen
Kriegsvorbereitungen gehören auch die periodisch aufgestellten Behauptungen, der Iran sei
für das Chaos im Irak mitverantwortlich, weil er die Terroristen unterstütze und mit der
Al Kaida zusammenarbeite.
Die Rolle der EU und Alternativen zu einem neuen Krieg
Die EU-Diplomatie scheiterte nicht nur an Teheran, sondern auch an Washington.
Durch die Ablehnung jedweder, für Iran unverzichtbarer Sicherheitsgarantien hatte
Washington die EU-Diplomatie in der Hand und ließ sie mit der Absicht, den Fall vor den
UN-Sicherheitsrat zu bringen und selbst den weiteren Ablauf in die Hand zu nehmen,
scheitern. Den EU-Drei Deutschland, England und Frankreich bleibt jetzt - sofern sie sich
aus der Iran-Falle der USA nicht herauslösen - keine andere Wahl, als der US-Taktik im
Sicherheitsrat zu folgen und schließlich auch einen Luftkrieg der USA moralisch zu
legitimieren. Auch Russland, das sich bisher gegen eine mögliche Resolution des
Sicherheitsrates gewandt hat, droht angesichts eines voraussehbaren Scheiterns seiner
Initiative das gleiche Schicksal wie der EU, der US-Eskalationsstrategie nichts mehr
entgegensetzen zu können.
Mögliche Alternativen zu einem drohenden Krieg sind allesamt komplex und erscheinen
sogar mehr oder weniger als utopisch. Aber es gibt sie, und es kommt darauf an, sie von
der visionären auf eine politisch-praktische Ebene zu bringen:
Erstens die multilaterale Kontrolle sämtlicher Atomanlagen in Industrie- und
Entwicklungsländern entsprechend des Vorschlags von El Baradei, und damit die
völkerrechtliche Gleichstellung aller Staaten. Dieser Weg wäre konsequent und auch ein
entscheidender Schritt in Richtung einer weltweiten Abrüstung von Atomwaffen. Allerdings
muss damit gerechnet werden, dass kein Atomwaffenstaat sich darauf einlassen wird, und
dass damit dieser Weg vorerst keine Antwort auf den Atomkonflikt mit Iran liefert.
Zweitens die multilaterale Kontrolle der Urananreicherungsanlagen Irans und auch
anderer Schwellenländer mit einem Atomprogramm auf internationalem Boden, wie vom SIPRI
vorgeschlagen worden ist. Auf eine derartige Möglichkeit würden sich der Iran und auch
andere Länder nicht einlassen, da sie letztlich dazu führen würde, zwei Klassen von
Staaten mit unterschiedlichen Rechten zu schaffen. Die Abhängigkeit vom Ausland bliebe
bei dieser Alternative bestehen, eine objektive Sicherheitsgarantie für die dauerhafte
Lieferung von nuklearen Brennstäben könnte die UN letztlich nur im Falle eines
UN-Gewaltmonopols geben. Andernfalls besteht immer die Möglichkeit, dass die USA oder
andere Staaten die Brennstofflieferung militärisch verhindern. Zudem macht dieser
Vorschlag den Weg für eine flächendeckende Weiterverbreitung von Atomkraftwerken in den
Entwicklungsländern frei. Darüber hinaus gibt dieser Weg keine Antwort auf Irans
Sicherheitsdilemma und die Abrüstung im Nahen und Mittleren Osten.
Drittens der Vorstoß zu konkreten Schritten für ein System der gemeinsamen
Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten analog zum KSZE-Prozess mit dem
Ziel der Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in der gesamten Region. Dies ist zwar auch
kein einfacher Weg, aber er verspricht größere Realisierungschancen und ist gleichzeitig
auch eine zukunftsfähige Antwort auf viele andere grenzüberschreitende Konfliktfelder,
wie z.B. territoriale Streitigkeiten, ethnische Konflikte, grenzüberschreitende Nutzung
von Energiequellen und Gewässern etc. Die USA werden sicherlich über einen derartigen
Vorstoß nicht glücklich sein. Dagegen ist die Perspektive eines befriedeten Mittleren
und Nahen Ostens für Europa in vieler Hinsicht von existenzieller Bedeutung. Auch
Russland und China hätten keinen konkreten Anlass, dagegen zu sein, und dürften einen
Vorstoß in diese Richtung wahrscheinlich unterstützen. Die EU ist die einzige politische
und moralische Kraft, mit diesem Vorschlag aufzuwarten und ihn mit konkreten Schritten zu
koppeln. Dazu gehört die Einberufung einer baldigen regionalen Konferenz für Sicherheit
und Zusammenarbeit, die seriös vorbereitet und demnächst durchgeführt werden müsste.
Damit wird nicht zuletzt Iran signalisiert, sein Sicherheitsdilemma ernst zu nehmen, so
dass auch der Iran sich aller Wahrscheinlichkeit nach bis auf Weiteres zu einem Verzicht
auf Urananreicherung bereit erklären könnte.
Dieser Vorstoß müsste, um innerhalb von Europa akzeptanzfähig zu sein und auch
Israels vermutlich massive Gegnerschaft abzumildern, mit konkreten Vorschlägen sowie
unzweifelhaften und objektiven Sicherheitsgarantien für die Existenz Israels z.B. durch
die USA und die EU gekoppelt sein. [14]
Die EU sollte dem Iran gleichzeitig auch den Vorschlag unterbreiten, ihm regenerative
Energietechnologien zu liefern und das Land bei der Etablierung eines zukunftsfähigen und
umweltfreundlichen zweiten Standbeins zur Energieversorgung zu unterstützen. Dieser Weg
öffnet ein neues Fenster des Friedens und setzt mit der Perspektive zur Schaffung einer
Organisation der regionalen Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten
(OSZMNO) einen Prozess in Gang, dem sich auf Dauer kein Staat der Region, weder der Iran
noch Israel, wird verschließen können.
Dieser Text entstand Ende November/Anfang Dezember 2005. Dr. Mohssen
Massarrat ist Professor für Politik und Wirtschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften
der Universität Osnabrück mit den Forschungsschwerpunkten Mittlerer und Naher Osten,
Energie, Friedens- und Konfliktforschung, Nord-Süd-Konflikt.
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