Graswurzel
Nr. 306, Februar 2006


Motive der Konfliktparteien im Iran-Atomkonflikt

Das Scheitern der EU-Diplomatie und Alternativen zu einem neuen Krieg

Gastbeitrag von Mohssen Massarrat

Der Iran-Atomkonflikt wird in der öffentlichen Debatte überwiegend darauf zurückgeführt, dass das iranische Atomprogramm nicht nur energiepolitische, sondern auch militärische Ziele verfolgt und dass die "internationale Gemeinschaft" aus Sorge um die Nicht-Weiterverbreitung von Atomwaffen Iran zu einer Änderung seiner Atompolitik bewegen will. In der Logik dieser Konfliktbeschreibung liegen auch Schlussfolgerungen, die einen Gewalteinsatz als Mittel zur Konfliktlösung legitimieren: "Sollte Teheran nicht zu mehr Flexibilität bereit sein", so Oliver Thränert von der Stiftung Wissenschaft und Politik, "dürfte es kaum eine andere Möglichkeit geben, als zu versuchen, durch Beschlussfassung des UN-Sicherheitsrates Iran auch mit nicht-kooperativen Mitteln von seinen allem Anschein nach bestehenden Absichten, sich eine Atomwaffenoption zu verschaffen, abzubringen." [1]

Diese, letztlich einen Krieg befürwortende Position, die inzwischen leider in Europa zur Mainstream-Position geworden ist, ist empirisch einseitig und unterschlägt die vielschichtigen Motive und Interessenlagen auf beiden Seiten des Konflikts. Der Iran verfolgt mit seinem Atomprogramm energiepolitische, sicherheitspolitische sowie wirtschafts- und technologiepolitische Ziele mit national-symbolischer Bedeutung. Der Westen verfolgt dagegen einerseits das Ziel zu verhindern, dass der Iran eine regionale Atommacht wird. Andererseits kristallisiert sich auch heraus, dass sich hinter dem Vorwand der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen eine Strategie der flächendeckenden Weiterverbreitung von Atomenergie und Interessen der internationalen Nuklearindustrie verbirgt. Im Folgenden sollen zunächst die Motive und Interessen beider Seiten näher erläutert und dann Alternativen zum Gewalteinsatz und Krieg skizziert werden.

 

Energie- und nukleartechnologische Motive

Das iranische Energieministerium prognostiziert bis 2025 den Bedarf einer Kraftwerkskapazität von 100.000 Megawatt, die gegenwärtige Kapazität beträgt ca. 40.000 MW. Dieser Bedarf wird mit steigender Bevölkerungszahl und wachsendem Lebensstandard begründet. Zur Deckung des wachsenden Strombedarfs seien - so die iranische Regierung - demzufolge 15 bis 20 Atomkraftwerke mit einer Gesamtkapazität von 20.000 MW erforderlich. Anderenfalls wäre der Iran gezwungen, bald die gesamte Öl- und Gasproduktion für den einheimischen Verbrauch einzusetzen (gegenwärtig beträgt dieser Anteil 40%), mit der Folge, dass seine Deviseneinnahmen auf Null sinken würden. Diese doch beträchtliche nukleare Kraftwerkskapazität setze - so Teheran - einen eigenständigen iranischen Brennstoffkreislauf, d.h. die Herstellung von yellow cake, die Erzeugung des gasförmigen Uranhexafluorid (UF6) und schließlich die Urananreicherung auf 3% voraus. Nur so könne langfristig die eigene energiepolitische Unabhängigkeit und Sicherheit garantiert werden.

Mit einer ähnlichen Argumentation schuf 1975 das mit den USA verbündete Schah-Regime - seinerzeit mit Zustimmung und Unterstützung von USA und Europa - das iranische Atomprogramm, das schon damals den vollständigen Brennstoffkreislauf einschloss. 1981 - nach der islamischen Revolution, die 1979 stattfand - beschloss die neue islamische Führung, das nukleare Programm des alten Regimes weiterzuführen.

Inzwischen sind ca. 4.000 Ingenieure und Wissenschaftler in der iranischen Nuklearindustrie beschäftigt, die - ganz in Übereinstimmung mit der Propaganda der europäisch-amerikanischen Nuklearindustrie - den Atomstrom als die einzige Alternative zu erschöpfbaren fossilen Energiequellen erklären und dafür plädieren, die Atomenergie zum zweiten Standbein der iranischen Energieversorgung zu machen. [2]

Die Prognosen zum Strombedarf entsprechen den Wünschen iranischer Atomenergieexperten, die genauso willkürlich und unbegründet sind wie die Strombedarfsprognosen der deutschen Atomindustrie vor 30 Jahren.

Erstens werden in dieser Prognose die technologischen Möglichkeiten zur Steigerung der Energieeffizienz und Absenkung des Bedarfs in großem Umfang nicht berücksichtigt. [3]

Zweitens wird die Perspektive der Nutzung von regenerativen Energiequellen, deren Potentiale im Iran beträchtlich sind, als Alternative zur Nuklearenergie und ein zweites Standbein neben den fossilen Energiequellen systematisch ausgeblendet.

Die USA und die EU haben bisher weder die iranischen Strombedarfsprognosen, und damit die angepeilte nukleare Kraftwerkskapazität, in Frage gestellt, noch von sich aus die Alternative regenerativer Energietechnologien für Irans Energieversorgung ins Spiel gebracht. Ganz im Gegenteil erklärte sich die EU in ihrem Angebot vom 8. August 2005 [4] bereit, Iran beim massiven Ausbau der Atomenergie zu unterstützen, allerdings mit der Bedingung eines dauerhaften iranischen Verzichts auf Urananreicherung.

Diese Bedingung liefe aus iranischer Sicht darauf hinaus, die für die Sicherheit der Energieversorgung sensibelste Stufe der nuklearen Energieerzeugung ins Ausland zu verlagern und sich in eine dauerhafte Abhängigkeit zu begeben. Alle Fraktionen der iranischen Elite lehnen dieses Ansinnen ab: "Wir wollen", so die überwiegende Ansicht der Regierung und des Parlaments "die Abhängigkeit von eigenen fossilen Energiequellen reduzieren, aber nicht um den Preis einer neuen energiepolitischen Abhängigkeit, und dazu noch einer Abhängigkeit vom Ausland bzw. von Staaten, die uns nicht freundlich gesinnt sind".

Tatsächlich wäre der Iran dadurch jederzeit erpressbar, und seine kostspieligen Atomanlagen wären im Konfliktfall keinen Pfifferling mehr wert. Teheran wirft den USA und der EU vor, unter dem Vorwand der Nicht-Weiterverbreitung von Atomwaffen die Weiterverbreitung und den flächendeckenden Export von Atomkraftwerken absichern und entgegen den Bestimmungen des Atomsperrvertrages (NPT) zwei Klassen von Staaten mit unterschiedlichen Rechten schaffen zu wollen. [5]

 

Präzedenzfall Iran

Die Annahme ist nicht abwegig, dass im Süden eine von der internationalen Nuklearindustrie, hauptsächlich der US-Nuklearindustrie, abhängige Energieversorgung etabliert werden soll. Angesichts der weltweit steigenden Energienachfrage, der sinkenden fossilen Energieressourcen und der Notwendigkeit zur Reduktion von CO2 rechnet die internationale Nuklearindustrie mit einer Renaissance der Atomkraftwerke, zumal vor allem die US-Nuklearindustrie Prototypen von Mini-AKWs entwickelte, die auch in ländlichen Gebieten dezentral installiert werden könnten.

Doch diese langfristig angelegte Strategie der Weiterverbreitung von Atomenergie erfordert gleichzeitig eine überzeugende neue Strategie der Nicht-Weiterverbreitung von Atomwaffen, zumal NPT sich dazu als lückenhaft erwiesen hat. In diesem Kontext ist es naheliegend, durch Iran notfalls auch mittels Gewalteinsatz den Präzedenzfall für zwei Klassen von Staaten mit unterschiedlichen Rechten zu schaffen: Erstens die Industriestaaten mit allen rechtlichen Möglichkeiten der AKW-Produktion und des weltweiten Exports. Und zweitens die Länder des Südens, denen die Rolle zugewiesen wird, die AKWs importieren zu dürfen, im Übrigen aber von fremder Brennstoffversorgung, und damit der Nuklearindustrie der Industrieländer, de facto langfristig abhängig zu werden.

Für diese Annahme spricht, dass im 35-seitigen EU-Angebot an den Iran die Handschrift der internationalen Nuklearindustrie nicht zu übersehen ist. Die EU-Staaten Deutschland, Frankreich und England vermieden es in diesem Angebot, dem Iran zur Deckung der Bedarfslücke anstelle von Atomtechnik als zweites Standbein regenerative Energietechnologien anzubieten, obwohl ein derartiges Angebot dem Unabhängigkeitsargument der iranischen Seite Rechnung tragen und dem iranischen Atomprogramm auf glaubwürdige Weise die energiepolitische Legitimation entziehen würde.

Es ist unbegreiflich, warum ausgerechnet der (ehemalige) grüne Außenminister und die (ehemalige) rot-grüne Bundesregierung es versäumt haben, die regenerative Energiealternative wenigstens ins Spiel zu bringen, zumal nur diese Alternative auch die sicherste Garantie dafür darstellt, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern.

Indem die drei EU-Staaten diese Alternative bisher an keiner Stelle erwähnen und ausschließlich die Atomenergie in den Vordergrund stellen, setzen sie sich dem Verdacht aus, den Iran-Konflikt für die Sanierung der internationalen Nuklearindustrie instrumentalisieren zu wollen.

 

Das sicherheitspolitische Motiv

Der Iran ist eine regionale Mittelmacht, sicherheitspolitisch aber der militärischen Überlegenheit seiner strategischen Hauptgegner, nämlich der Hegemonialmacht USA und dem Ministaat Israel gleichermaßen, hoffnungslos ausgeliefert. Nicht nur die gegenwärtige islamische Regierung, sondern auch eine demokratisch säkulare Regierung wird sich mit dem bestehenden "Sicherheitsdilemma" nicht abfinden.

Irans Nachbarstaaten Pakistan und Russland sind Atomstaaten, Israels Atomwaffen (200 bis 300 Atomsprengköpfe und alle dazu erforderlichen Trägersysteme) stellen für den Iran eine aktuelle Bedrohung dar. Hinzu kommt die militärische Einkreisung Irans durch die USA von allen vier Himmelsrichtungen.

Die EU ignorierte in ihrem Angebot Ende August diese Realität völlig. Ihr Angebot, auf eine Bedrohung Irans mit britischen und französischen Atomwaffen zu verzichten, ist ein Hohn und eine Beleidigung für die Intelligenz des iranischen Militärs und der Sicherheitsberater.

Obgleich die iranische Regierung wohlweislich jegliches Junktim zwischen ihrem Atomprogramm und dem Sicherheitsdilemma vermeidet, ist nicht von der Hand zu weisen, dass Irans Militär auf die Atomwaffenoption drängt. Der geplante Schwerwasserreaktor in der Nähe der Stadt Arak, der für die Produktion von waffenfähigem Plutonium geeignet ist, sowie das Programm zum Ausbau von Trägerraketen lassen auf die Absicht schließen, sich die technologischen und wissenschaftlichen Kapazitäten für die militärische Option zu verschaffen.

Dabei geht es dem Iran um die Herstellung der Balance of Power und eines Gleichgewichts des Schreckens, getreu den international immer noch vorherrschenden sicherheitspolitischen Doktrinen. Israel ist dagegen entschlossen, die atomare Vormachtstellung im Mittleren und Nahen Osten unter keinen Umständen aus der Hand zu geben und gegnerische Nuklearprojekte, wie 1981 in Irak, präventiv zu zerstören. Schenkt man einer informativen Spiegel-Titelgeschichte Glauben, stand Israel tatsächlich auch bereits zwei Mal kurz davor, Atombomben gegen arabische Nachbarn einzusetzen: 1973 im Yom-Kippur-Krieg und 1982 zu Beginn des Libanonkrieges. [6] Die USA und offensichtlich auch die EU wollen, dass Israel seine atomar gestützte militärische Vormachtstellung behält. "Viele Menschen begreifen nicht hinreichend", sagte Joschka Fischer als deutscher Außenminister in einem Zeit-Interview "warum Israel eine Position der militärischen Überlegenheit braucht." [7]

Wer aber von Israels militärischer Stärke spricht, der meint natürlich auch dessen Atomwaffenarsenal und nimmt in Kauf, dass Israel gegebenenfalls davon Gebraucht macht. Als moralische Rechtfertigung dafür wird auf das Existenzrecht des jüdischen Staates und auf die Rhetorik führender Politiker der Region, wie jüngst die inakzeptable Äußerung des iranischen Staatspräsidenten Ahmadinedschad: "der Schandfleck wird ohne Zweifel aus dem Schoß der islamischen Welt verschwinden", hingewiesen.

Das Monopol an Atomwaffen macht Israel einerseits militärisch unangreifbar, es bedroht gleichzeitig aber alle anderen Staaten in der Region und zwingt diese dazu, sich ebenfalls Atomwaffen zu beschaffen. Dadurch wird Israels Bevölkerung zur Geisel einer permanenten Angst und Unsicherheit, dass es irgendeinem Staat der Region doch noch gelingen könnte, den jüdischen Staat mit Atomwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen zu bedrohen. Aus dieser Perspektive sind Israels Atomwaffen die schlechteste aller Optionen, um sein Existenzrecht zu garantieren. "Zu viel militärische Macht bringt nicht automatisch mehr Sicherheit, sondern gefährdet sie eher", lautet der Lehrsatz des neoklassischen Realismus, der vor dem Hintergrund des atomaren Overkills im Ost-West-Konflikt formuliert und als allgemein gültig anerkannt worden ist.

Der Verdacht liegt nahe, es geht den Vereinigten Staaten bei ihrer Mittelost-Politik nicht in erster Linie um die Verteidigung der Existenz Israels, sondern darum, die Existenzängste der israelischen Bevölkerung für eigene geopolitische Ziele in einer der sensibelsten Regionen der Welt zu instrumentalisieren. Ein Zustand der Unsicherheit, der Instabilität und der permanenten gegenseitigen Bedrohung liefert einen permanenten Grund für Parteinahme, Einmischung und schließlich auch militärische Interventionen, die den eigenen geopolitischen Interessen dienlich sind.

 

Symbolisches Motiv: Atomprogramm als nationales Projekt

Das energiepolitische Motiv Irans deckt sich weitgehend mit seinem sicherheitspolitischen Motiv. Atomenergieexperten wähnen sich im Bündnis mit den Technokraten und der militärischen Elite der islamischen Republik. Doch es geht um mehr: Es geht um die Mobilisierung aller, auch der regimekritischen Iraner für ein vermeintlich nationales und Identität stiftendes Projekt.

Inzwischen ist das Atomprogramm tatsächlich für alle politischen Fraktionen im Iran, für Reformer wie für die Konservativen, auch für die studentische Opposition, die für Demokratie und den säkularen Staat eintritt, zu einem symbolischen nationalen Projekt geworden, an dessen Fundamenten gegenwärtig niemand rütteln kann und will.

Irans ehemaliger Staatspräsident und Reformer Khatami verteidigte das nukleare Projekt, da es "unseren nationalen Interessen, unserer nationalen Ehre, unserer Zukunft entspricht und unser Fortschritt davon abhängt". Noch deutlicher legt sich der konservativ orientierte Teil der iranischen Elite um den neuen iranischen Präsidenten auf das nukleare Projekt fest. "Der nukleare Brennstoffkreislauf", sagte der neue Chef von Irans Nationalem Sicherheitsrat, Larijani, "ist ein Recht und zugleich auch ein Bedürfnis, ... kein Volk kann am Zugang zu dieser Technologie gehindert werden. Dabei dürfen wir nicht übersehen, Ahmadinedschad siegte und übernahm die Macht, weil er die Idee und das Ziel für Iran verfolgte, diese Technologie zu beherrschen und den erreichten Stand zu verteidigen. Er fühlt sich diesem Anliegen nachhaltig verpflichtet. Damit ist dieses Projekt eine nationale Idee und ein nationales Ziel geworden. Es ist ein großer Fehler des Westens, dass er diese allgemein verbreitete Auffassung der Iraner ignoriert." [8]

Die Parallele zwischen Mossadeghs Projekt der Nationalisierung der iranischen Ölindustrie vor 55 Jahren und dem nuklearen Projekt liegt auf der Hand. Mossadeghs Projekt trug tatsächlich zum Nationalbewusstsein und zum Souveränitäts- und Freiheitsgefühl im modernen Iran bei. Die kollektive Erinnerung daran, dass es die USA und Großbritannien waren, die vor über einem halben Jahrhundert Mossadeghs Projekt der Nationalisierung des Erdöls gewaltsam zu Fall brachten, bestätigt viele Iraner in der Auffassung, dass es dem Westen auch diesmal darum geht, Irans Souveränität aushebeln zu wollen, und dass so wie damals die eigenständige Ölindustrie nun heute die Schaffung einer eigenständigen Nuklearindustrie im Iran verhindert werden soll.

Doch kann das nukleare Projekt seine symbolische Funktion genauso schnell wieder verlieren, wie sie entstanden ist. Das nukleare Projekt verschlingt beträchtliche Ressourcen des Landes und ist ökonomisch nicht tragfähig. Es schafft mehr Abhängigkeit und Konflikte, ohne für Irans Energiebedarf einen nennenswerten Beitrag zu leisten.

 

Wie wahrscheinlich ist ein neuer Krieg?

Die islamische Regierung hat sich auf das Recht zur Urananreicherung und die Beherrschung des gesamten Brennstoffkreislaufs festgelegt. Ein Abweichen von diesem Ziel ohne objektive Sicherheitsgarantien zur Überwindung von Irans Sicherheitsdilemma und ohne nachvollziehbare Antworten für die Möglichkeit einer selbstständigen Energieversorgung scheint so gut wie ausgeschlossen zu sein.

Einseitige Forderungen ohne seriöse Gegenleistungen, wie das EU-Angebot vom 8. August 2005 [9], sind zum Scheitern verurteilt. Auch die USA bestehen entsprechend der oben dargestellten ökonomischen, sicherheits- und geostrategischen Motive weiterhin auf ihrem Standpunkt, Iran zu einem Verzicht auf Urananreicherung zu zwingen. Die EU-Diplomatie ist gescheitert und befindet sich inzwischen im Schlepptau der amerikanischen Iran-Politik. Auch der russische Vorschlag, die Urananreicherung auf russischem Boden durchzuführen, dürfte an der Absicht Teherans scheitern, sich wegen der Atomstromproduktion nicht vom Ausland abhängig machen zu wollen.

Durch die Logik vom scheinbar unauflösbaren Gegensatz zwischen den Konfliktparteien gerät eine weitere Konfliktzuspitzung - letztlich auch ein Krieg - immer mehr in den Bereich der Wahrscheinlichkeit, und dies trotz der massiven Rückschläge für die USA und die Neokonservativen im Irak.

Die US-Regierung glaubt, ohne Bodentruppen und durch die Zerstörung von Irans Atomanlagen aus der Luft die iranische Bedrohung abzuwenden und dabei im Unterschied zum Fall Irak die Weltöffentlichkeit auf ihrer Seite zu haben.

Washington verfügt über detaillierte Planungen für einen Luftangriff gegen iranische Atomanlagen. Seymour Hersh, die Koryphäe im investigativen Journalismus der USA, enthüllte im ebenso renommierten wie vorsichtigen "New Yorker" Mitte Januar 2005 die Angriffsabsichten der US-Neokonservativen.

"Bei meinen Recherchen während der beiden vergangenen Monate wurde ich allerdings mit viel undiplomatischeren Auffassungen konfrontiert. Die Falken in der Regierung rechnen damit, dass sich schon bald das Scheitern der europäischen Vermittlungsbemühungen mit Teheran herausstellen wird." Dann sei der Zeitpunkt gekommen, an dem die US-Regierung zur Tat schreiten müsse. "Wir reden hier nicht über irgendwelche Positionspapiere des Nationalen Sicherheitsrats", betonte der frühere Spitzenagent. "Über diese Hürde sind die längst hinweg. Es geht nicht mehr darum, ob sie irgendetwas gegen Iran unternehmen. Sie werden es tun." (Hersh in: Der Spiegel 4/2005)

Scott Ritter, ehemaliger Irak-UN-Beauftragter, will von der dezidierten Absicht der USA wissen, Iran durch eine Resolution im UN-Sicherheitsrat verpflichten zu wollen, der IAEA sowohl die Kontrolle seiner nuklearen wie auch aller militärischen Einrichtungen zu jedem Zeitpunkt und ohne Voranmeldung zu erlauben. Da jedoch der Iran - wie vorauszusehen ist - eine derart weitreichende Resolution als Angriff auf die eigene Souveränität auffassen und daher zurückweisen würde, fühlte sich die US-Regierung hinreichend legitimiert, mit oder auch ohne Zustimmung des Sicherheitsrates gegen den Iran Krieg zu führen [10] und z. B. Irans nukleare und militärische Anlagen aus der Luft zu bombardieren.

Daniel Ellsberg, der durch die Veröffentlichung von Geheimdokumenten des Pentagons zum Vietnamkrieg zum vorzeitigen Ende des Krieges beitrug, hält es für wahrscheinlich, dass die US-Regierung einen Luftkrieg gegen den Iran unternehmen wird, und zwar zu einer Zeit, die ihr politisch geeignet erscheint. [11]

Glaubte man den Aussagen in dem Unternehmenskreisen nahestehenden Magazin "Vertrauliche Mitteilungen aus Politik, Wirtschaft und Geldanlage", dann hätten US-Unterhändler bereits im Oktober 2005 mit den Vertretern wichtiger Industrienationen und internationaler Finanzinstitutionen Stützungsmaßnahmen für Börsen- und Währungskurse vereinbart, die im Falle eines Krieges gegen den Iran ergriffen werden sollten. Dabei ginge es vor allem darum zu verhindern, dass der US-Dollar seine Funktion als Öl-Leitwährung verliert. "Die Gesprächsteilnehmer wurden instruiert, dass das Eingreifen der USA im März 2006 erforderlich werden könnte. Die Planungen gehen offenbar von einem möglichen Angriff zu diesem Termin aus." [12]

Indizien für eine Art psychologische Kriegsvorbereitung erhärten die Annahme ernsthafter Kriegsabsichten der Vereinigten Staaten. Dazu gehört die systematische Stigmatisierung Irans als unglaubwürdige Konfliktpartei. Die in den neunziger Jahren begangenen Rechtsbrüche werden immer wieder aufgefrischt, obwohl Irans Atomanlagen inzwischen zu den weltweit bestkontrollierten gehören. Zu beobachten sind auch die systematischen "Enthüllungen", die das Unglaubwürdigkeitsstigma festigen sollen.

Im November 2005 wurde die Meldung der Entdeckung eines Laptops mit geheimen Details lanciert. Tatsächlich liegt dieser Laptop dem CIA aber bereits seit einem Jahr vor und enthält keineswegs derart hochstilisierte Geheiminformationen.

Ein fünfseitiges Dokument mit Zeichnungen zum Bau von Atombomben wurde ebenfalls im November als neue Enthüllung deklariert. Tatsächlich hatte aber der Iran selbst dieses Dokument der IAEA übergeben. [13] Besonders gravierend ist die Umkehrung der Beweislast für den Iran, keine Absicht zum Bau von Atombomben zu hegen. Da jegliche iranische Beteuerung in Zweifel gezogen werden kann, dürfte der Iran immer auf der Anklagebank sitzen. Zu den psychologischen Kriegsvorbereitungen gehören auch die periodisch aufgestellten Behauptungen, der Iran sei für das Chaos im Irak mitverantwortlich, weil er die Terroristen unterstütze und mit der Al Kaida zusammenarbeite.

 

Die Rolle der EU und Alternativen zu einem neuen Krieg

Die EU-Diplomatie scheiterte nicht nur an Teheran, sondern auch an Washington.

Durch die Ablehnung jedweder, für Iran unverzichtbarer Sicherheitsgarantien hatte Washington die EU-Diplomatie in der Hand und ließ sie mit der Absicht, den Fall vor den UN-Sicherheitsrat zu bringen und selbst den weiteren Ablauf in die Hand zu nehmen, scheitern. Den EU-Drei Deutschland, England und Frankreich bleibt jetzt - sofern sie sich aus der Iran-Falle der USA nicht herauslösen - keine andere Wahl, als der US-Taktik im Sicherheitsrat zu folgen und schließlich auch einen Luftkrieg der USA moralisch zu legitimieren. Auch Russland, das sich bisher gegen eine mögliche Resolution des Sicherheitsrates gewandt hat, droht angesichts eines voraussehbaren Scheiterns seiner Initiative das gleiche Schicksal wie der EU, der US-Eskalationsstrategie nichts mehr entgegensetzen zu können.

Mögliche Alternativen zu einem drohenden Krieg sind allesamt komplex und erscheinen sogar mehr oder weniger als utopisch. Aber es gibt sie, und es kommt darauf an, sie von der visionären auf eine politisch-praktische Ebene zu bringen:

Erstens die multilaterale Kontrolle sämtlicher Atomanlagen in Industrie- und Entwicklungsländern entsprechend des Vorschlags von El Baradei, und damit die völkerrechtliche Gleichstellung aller Staaten. Dieser Weg wäre konsequent und auch ein entscheidender Schritt in Richtung einer weltweiten Abrüstung von Atomwaffen. Allerdings muss damit gerechnet werden, dass kein Atomwaffenstaat sich darauf einlassen wird, und dass damit dieser Weg vorerst keine Antwort auf den Atomkonflikt mit Iran liefert.

Zweitens die multilaterale Kontrolle der Urananreicherungsanlagen Irans und auch anderer Schwellenländer mit einem Atomprogramm auf internationalem Boden, wie vom SIPRI vorgeschlagen worden ist. Auf eine derartige Möglichkeit würden sich der Iran und auch andere Länder nicht einlassen, da sie letztlich dazu führen würde, zwei Klassen von Staaten mit unterschiedlichen Rechten zu schaffen. Die Abhängigkeit vom Ausland bliebe bei dieser Alternative bestehen, eine objektive Sicherheitsgarantie für die dauerhafte Lieferung von nuklearen Brennstäben könnte die UN letztlich nur im Falle eines UN-Gewaltmonopols geben. Andernfalls besteht immer die Möglichkeit, dass die USA oder andere Staaten die Brennstofflieferung militärisch verhindern. Zudem macht dieser Vorschlag den Weg für eine flächendeckende Weiterverbreitung von Atomkraftwerken in den Entwicklungsländern frei. Darüber hinaus gibt dieser Weg keine Antwort auf Irans Sicherheitsdilemma und die Abrüstung im Nahen und Mittleren Osten.

Drittens der Vorstoß zu konkreten Schritten für ein System der gemeinsamen Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten analog zum KSZE-Prozess mit dem Ziel der Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in der gesamten Region. Dies ist zwar auch kein einfacher Weg, aber er verspricht größere Realisierungschancen und ist gleichzeitig auch eine zukunftsfähige Antwort auf viele andere grenzüberschreitende Konfliktfelder, wie z.B. territoriale Streitigkeiten, ethnische Konflikte, grenzüberschreitende Nutzung von Energiequellen und Gewässern etc. Die USA werden sicherlich über einen derartigen Vorstoß nicht glücklich sein. Dagegen ist die Perspektive eines befriedeten Mittleren und Nahen Ostens für Europa in vieler Hinsicht von existenzieller Bedeutung. Auch Russland und China hätten keinen konkreten Anlass, dagegen zu sein, und dürften einen Vorstoß in diese Richtung wahrscheinlich unterstützen. Die EU ist die einzige politische und moralische Kraft, mit diesem Vorschlag aufzuwarten und ihn mit konkreten Schritten zu koppeln. Dazu gehört die Einberufung einer baldigen regionalen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit, die seriös vorbereitet und demnächst durchgeführt werden müsste. Damit wird nicht zuletzt Iran signalisiert, sein Sicherheitsdilemma ernst zu nehmen, so dass auch der Iran sich aller Wahrscheinlichkeit nach bis auf Weiteres zu einem Verzicht auf Urananreicherung bereit erklären könnte.

Dieser Vorstoß müsste, um innerhalb von Europa akzeptanzfähig zu sein und auch Israels vermutlich massive Gegnerschaft abzumildern, mit konkreten Vorschlägen sowie unzweifelhaften und objektiven Sicherheitsgarantien für die Existenz Israels z.B. durch die USA und die EU gekoppelt sein. [14]

Die EU sollte dem Iran gleichzeitig auch den Vorschlag unterbreiten, ihm regenerative Energietechnologien zu liefern und das Land bei der Etablierung eines zukunftsfähigen und umweltfreundlichen zweiten Standbeins zur Energieversorgung zu unterstützen. Dieser Weg öffnet ein neues Fenster des Friedens und setzt mit der Perspektive zur Schaffung einer Organisation der regionalen Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (OSZMNO) einen Prozess in Gang, dem sich auf Dauer kein Staat der Region, weder der Iran noch Israel, wird verschließen können.


 

Dieser Text entstand Ende November/Anfang Dezember 2005. Dr. Mohssen Massarrat ist Professor für Politik und Wirtschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück mit den Forschungsschwerpunkten Mittlerer und Naher Osten, Energie, Friedens- und Konfliktforschung, Nord-Süd-Konflikt.


Fussnoten:

[1] Thränert, Oliver, 2005: Das iranische Atomprogramm, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 48/2005

[2] Diese einflussreiche Gruppe kann die iranische Regierung für ihre Ziele sogar unter Druck setzen. Das Atomprogramm hat mittlerweile insofern auch den Zweck, die große Expertenschar weiterzubeschäftigen, um so ihre Auswanderung nach Europa und vor allem in die USA zu verhindern, wo die meisten von ihnen ausgebildet wurden.

[3] Vgl. Massarrat, Mohssen, 2004: Iran's energy policy: Current Dilemmas and Perspective for a sustainable energy policy, in: International Journal of Environmental Science and Technology, Vol. 1, Nr. 3/2004.

[4] Vgl. dazu IAEA-Information Circular: Framework for a long-term agreement between the Islamic Republic of Iran and France, Germany & the United Kingdom, with the support of the high representative of the European Union, 8.August 2005 (www.bits.de, Iran-Archiv).

[5] Safdari, Cyrus, 2005: Die iranische Sicht der Dinge. Teheran verteidigt sein Recht auf zivile Nutzung der Atomenergie, in: LE MONDE diplomatique, November 2005.

[6] Der Spiegel, 5/2004.

[7] Die Zeit vom 12. Mai 2005.

[8] Shargh (persischsprachige Tageszeitung) vom 9. August 2005.

[9] Vgl. auch Caroline Pailhe "Troika der Unentschlossenen", in: Le Monde diplomatique vom November 2005. Sie zitiert einen EU-Diplomaten, der das EU-Angebot als "eine hübsche leere Schachtel, eingewickelt in viel Geschenkpapier" charakterisierte.

[10] Ritter, Scott, 11. September 2005, Website des Autors.

[11] Interview mit der TAZ vom 17. November 2005.

[12] Vertrauliche Mitteilungen aus Politik, Wirtschaft und Geldanlage vom 8. November 2005, Nr. 3840.

[13] Ottfried Nassauer, Direktor des Berliner Informationszentrum für transatlantische Beziehungen.

[14] Dieser Vorschlag beruht auf Überlegungen des Verfassers in "Blätter für deutsche und internationale Politik", 1/2005, S. 25-28; derselbe: Der Konflikt um Irans Atomprogramm, in: "FriedensForum", 1/2005, und derselbe: Hand in Hand in den Krieg?, in: "Blätter für deutsche und internationale Politik", 11/2005