Ein heimtückischer Plan
Mohssen Massarrat
Was wäre geschehen, hätte die Hisbollah in höchster Bedrängnis
Mittelstrecken-Raketen auf Tel Aviv abgefeuert?
Erklärtes Hauptziel der israelischen Intervention im Libanon war es, die
Hisbollah-Milizen zu zerschlagen und eine Sicherheitszone im Süden des Landes
einzurichten. Offiziell hieß es, die Bedrohung durch die Katjuscha-Raketen der Hisbollah
sollte dauerhaft unterbunden werden. Bald wurde freilich klar, es ging um wesentlich mehr.
Es ging auch um den Iran und einen "Neuen Nahen Osten". Warum aber hatte dieser
Krieg, der trotz der Waffenruhe noch nicht beendet ist, sehr viel mit dem Iran-Konflikt zu
tun? Und weshalb hat Washington einen Waffenstillstand systematisch hinaus gezögert?
Die Hisbollah war 1982 mit Hilfe der iranischen Revolutionsgarden gegründet worden, um
den schiitischen Glaubensbrüdern im Kampf gegen die israelische Invasion im Libanon
beizustehen, entwickelte sich dann aber zum wichtigsten sicherheitspolitischen
Verbündeten Teherans im militärischen Kräfteverhältnis (balance of power) zu Israel.
Die Hisbollah empfing nicht nur Wirtschaftshilfe aus dem Iran, sondern auch
Rüstungsgüter, darunter Kurzstreckenraketen, die Nordisrael, und Mittelstreckenraketen,
die Tel Aviv erreichen können. Vom strategischen Kalkül waren letztere als
Abschreckungspotenzial gegen Israels Atombomben gedacht, da mit diesen Flugkörpern
israelisches Kernland erreichbar ist. Ein uns aus dem Ost-West-Konflikt sattsam bekanntes
sicherheitspolitisches Muster - das Gleichgewicht des Schreckens. Als neuartig im
israelisch-iranischen Abschreckungssystem musste der Umstand gelten, dass die eine Seite
über Atombomben verfügt, während die andere mit konventionellen Waffen das Kernland des
Gegners erreichen - genauer: theoretisch erreichen könnte. Trotz der praktischen
Unzulänglichkeiten des iranischen Gegenpotenzials (erstens befanden sich die Raketen in
der Hand eines Alliierten mit eigenen Interessen, zweitens blieb deren Zerstörungskraft
eher beschränkt) wurde es durch seine psychologische Wirkung und symbolische Bedeutung
aus israelischer Sicht durchaus als existenzielle Gefahr eingestuft. Hierin lag der
tiefere Sinn des israelischen Kriegsziels - es ging letztlich darum, dem Iran sein
sicherheitspolitisches Faustpfand zu nehmen. Eine generelle Ausschaltung der
Angriffswaffen der Hisbollah hätten zudem - angesichts eines weiterhin denkbaren
Militärschlages der USA und Israels gegen den Iran - auch die strategischen Planungen der
US-Militärs von einem gravierenden Problem befreit.
Man muss unter diesen Umständen davon ausgehen, dass die Entführung der beiden
israelischen Soldaten durch die Hisbollah für Israel ein willkommener Anlass war, um mit
einer lange geplanten Operation nicht nur die Hisbollah zu treffen, sondern auch den Iran
sicherheitspolitisch zu entwaffnen. Mit anderen Worten: Israel wollte nicht nur die
Bedrohung an der Nordgrenze los werden, sondern auch die Abschreckung gegen seine
Kernwaffen aus dem Weg räumen und damit ein entscheidendes Hindernis im Falle einer
Intervention gegen den Iran. Dies erklärt auch, weshalb die USA und Großbritannien für
Israels Bodenoffensive grünes Licht gaben.
Unter diesen Umständen haben sich in der politischen Führung des Iran all jene
durchgesetzt, die dafür plädieren, die Urananreicherung und somit die Option auf die
eigene Atombombe als Gegengewicht zu Israels Nukleararsenal nicht aus der Hand zu geben.
Für Präsident Ahmadinedschad und andere treiben die EU-3 und die USA ein doppeltes
Spiel: Einerseits bieten sie mit ihrem Kompromisspaket ökonomische und
sicherheitspolitische Anreize - andererseits wurde der Libanon-Krieg wie das Vorspiel
einer Intervention gegen den Iran geführt.
Denn es muss in Betracht gezogen werden - hätte eine schwer in die Enge getriebene
Hisbollah ihre Drohung tatsächlich wahr gemacht und Tel Aviv mit Mittelstreckenraketen
iranischer Bauart angegriffen, wäre eine Eskalation unausweichlich gewesen. Die USA und
Israel hätten einen solchen Angriff als Angriff auf Israels Existenz gewertet und
vermutlich nicht gezögert, am UN-Sicherheitsrat vorbei umgehend den Iran zu bombardieren.
Mit ihren massiven Vorstößen am Boden schien es die israelische Armee geradezu darauf
angelegt zu haben, Hisbollah zu einem derart folgenschweren Vorgehen zu provozieren. Es
bedarf keiner übermäßigen Fantasie, um anzunehmen, dass die iranische Führung ein
solches Szenario mit aller Kraft verhindern wollte. Davon zeugt die Tatsache, dass man
sich jenseits allen propagandistischen Säbelrasselns mit praktischen Hilfen für die
Hisbollah zurückhielt. Unter anderem wurden Freiwillige, die im Libanon kämpfen wollten,
an der Ausreise gehindert. Vieles spricht auch für die Annahme, dass die Hisbollah davon
überzeugt wurde, sich nicht zum Einsatz von Mittelstreckenraketen hinreißen zu lassen.
Die verbalen Radikalismen von Mahmud Ahmadinedschad sollten nicht darüber
hinwegtäuschen, dass die Mehrheit der politischen Führung in Teheran pragmatisch und
realistisch genug war, um zu sehen, welche Bedrohung zuletzt auch dem Iran erwuchs. Die
Hardliner in der US-Führung sahen im Libanon-Feldzug die Gelegenheit, ihr nächstes
Kriegsabenteuer vom Zaun zu brechen. Mit der jetzigen Waffenruhe, so sie denn Bestand hat,
ist dieser Plan vorerst gescheitert - am Widerstand der Hisbollah, aber auch, weil ihre
Führung nicht in die Falle getappt ist, Mittelstreckenraketen gegen Tel Aviv einzusetzen.
Bush wird unbeirrt weiter von einem "Neuen Nahen Osten" träumen, und Olmert
weiter daran glauben, mit dem Blut von Palästinensern und Libanesen lasse sich Israels
Sicherheit erhöhen. Offen ist, ob sich Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier
darüber im Klaren sind, dass sie mit ihrer wochenlangen Weigerung, Israel zu einem Stopp
seiner Angriffe aufzufordern, Mitverantwortung für einen heimtückischen Plan trugen, der
den Mittleren Osten an den Rand eines flächendeckenden Krieges brachte.
Mohssen Massarrat, geboren im Iran, ist Professor für
Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück. Seit Jahren aktiv in der
Friedensbewegung war er Mitbegründer der Koalition für Leben und Frieden. Mohssen
Massarat hat zahlreiche Bücher zu den internationalen Wirtschaftsbeziehungen, zum Nahen
und Mittleren Osten sowie zur Friedens- und Konfliktforschung geschrieben, unter anderem
Globalisierung und Nachhaltigkeit. Bausteine einer neuen Weltordnung, Amerikas
Weltordnung. Hegemonie und Kriege um Öl sowie Das Dilemma der ökologischen Steuerreform.
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