Die US-Atomwaffen in der Türkei – riskant und militärisch nutzlos?
Björn Müller
Incirlik im Süden der Türkei ist die wichtigste
NATO-Basis an der Südostflanke der Allianz. Der
Luftwaffenstützpunkt ist das Drehkreuz für den Kampf gegen
die Terror-Organisation Islamischer Staat. Aber in Incirlik lagern auch
US-Atomwaffen für NATO-Einsätze, nur rund 100 Kilometer vom
Kriegsschauplatz Syrien entfernt. Bei der NATO gilt für Atomwaffen
eine strenge Geheimhaltung. Zu Anzahl, Typ und Einsatzszenarien der
Atomwaffen in Incirlik äußern sich weder die NATO noch die
USA. Der Atomwaffenexperte Oliver Meier von der Stiftung Wissenschaft
und Politik in Berlin hält fest: „Man kann allerdings
aufgrund von Expertenrecherchen davon ausgehen, dass um die
fünfzig B61 Atomwaffen dort stationiert sind. Das sind Atombomben,
die ganz klassisch von Flugzeugen abgeworfen werden und dort in
unterirdischen Bunkern gelagert werden.“
Die B61 ist eine taktische Atomwaffe für den Einsatz auf
dem Gefechtsfeld. Ende der 1960er Jahre wurde sie im Rahmen der
sogenannten nuklearen Teilhabe in Europa stationiert. Die Idee
dahinter: Die USA lagern bei NATO-Partnern wie der Türkei
Atombomben. Bei einem sowjetischen Angriff hätten Kampfflugzeuge
der USA und der Bündnispartner die Nuklearwaffen eingesetzt, um
wichtige Ziele im gegnerischen Hinterland anzugreifen oder zu
verhindern, dass zusätzliche Großverbände an die Front
herangeführt werden könnten. Taktische Atomwaffen sollten
damals die konventionelle Unterlegenheit der NATO gegenüber dem
Warschauer Pakt ausgleichen.
Doch heute, in Zeiten der asymmetrischen Anti-Terrorkriege,
bleibt offen, in welchen militärischen Szenarien die in Incirlik
gelagerten B61-Atombomben noch eine Rolle spielen. Diese Frage stellt
sich immer mehr, zumal sie gegenwärtig auch gar nicht eingesetzt
werden könnten. Ulrich Kühn vom Hamburger Institut für
Friedensforschung und Sicherheitspolitik nennt die Gründe
dafür: „Die Amerikaner selber haben dort momentan keine
Kampfflieger oder Bomber stationiert, die in der Lage wären, diese
Waffen im Konfliktfall auszubringen.
Auch die Türkei hat dort momentan nicht entsprechende
Flieger stationiert. Das heißt also, ein wirklicher
militärischer Sinn und Zweck dieser Waffen ist nicht
gegeben.“
Laut einer Analyse des Wissenschaftlichen Dienstes des
US-Kongresses besitzen die USA noch nicht einmal eine generelle
Erlaubnis der Türkei, in Incirlik jederzeit eine
US-Flugzeugstaffel für ihre Atomwaffen zu stationieren. Wollen sie
dort Kampfflugzeuge stationieren, so müssen sie jeweils die
Zustimmung der Türkei einholen. Auch das schränkt den
militärischen Nutzwert dieser Waffen ein. Im Krisenfall
könnte nicht schnell auf sie zurückgegriffen werden.
Die Atomwaffen lagern zudem rund 100 Kilometer entfernt von
der syrischen Grenze. Incirlik ist daher alles andere als ein sicherer
Standort. Denn der Kurden-Konflikt, angeheizt durch den Syrienkrieg,
könnte zum offenen Bürgerkrieg in dieser Region eskalieren;
weil hier kurdische Siedlungsgebiete liegen.
Spätestens seit dem gescheiterten Militärputsch ist
die Türkei aus Sicht vieler NATO-Mitglieder zu einem unsicheren
Kantonisten im Bündnis geworden. Die Einschätzung von
Beobachtern: Der Umsturzversuch hat die traditionell dominanten
Transatlantiker in den Streitkräften geschwächt und den
sogenannten Eurasiern Auftrieb gegeben. Diese sehen das Heil der
Türkei in einer maximalen außen- und sicherheitspolitischen
Bewegungsfreiheit und betrachten Russland als möglichen
Bündnispartner.
Eine akute Gefahr, dass die B61 in Incirlik in falsche
Hände geraten, z.B. in die Hand von Terroristen, sehen die meisten
Fachleute dennoch nicht. Und wenn sich die Lage wirklich zuspitzen
sollte, dann würden die USA schnell handeln. Joachim Krause,
Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der
Universität Kiel, geht davon aus, dass die USA vorgesorgt haben:
„Der Luftwaffenstützpunkt Incirlik ist zwar gut gesichert.
Aber ob das immer auf die Dauer angenommen werden kann, das ist auch
eine Frage. Und ich bin mir sicher, dafür gibt es auch
Evakuierungspläne. Also falls sich die Türkei destabilisieren
würde, wären die Atomwaffen das erste, was dort abgezogen
wird. Man hat auch gesehen: Während des Putschversuches im Juli
waren plötzlich zweieinhalb tausend amerikanische Soldaten da, um
sicherzustellen, dass niemand diesen Luftwaffenstützpunkt
übernimmt.“
Kein klarer militärischer Nutzen und ein
gefährliches Umfeld. Warum ziehen die USA vor diesem Hintergrund
dann nicht gleich die Atomwaffen aus Incirlik ab? Dass Washington
trotzdem an den Nuklearwaffen in der Region festhält, hat nach
Ansicht des Berliner Atomexperten Oliver Meier politische Gründe:
„Man befürchtet, dass eine Änderung der
Stationierungspraxis – ein Abzug, oder auch eine Stationierung an
anderen Orten - so interpretiert werden könnte, dass das ein
Zeichen der Schwäche der NATO wäre. Und die Türkei
könnte das möglicherweise auch so interpretieren, dass die
amerikanischen Sicherheitsgarantien und die Garantien der NATO für
die türkische Sicherheit, nicht mehr so stark sind wie
vorher.“
Für einige US-Experten macht es unter bestimmten
Bedingungen durchaus Sinn, taktische Atomwaffen ggf. auch direkt in
Krisenregionen wie dem Mittleren Osten zu stationieren. Z.B. in
Saudi-Arabien, wenn der Iran eine Atombombe entwickeln sollte. Die
Erwartung: Die Stationierung von US-Atomwaffen würde dann wiederum
Saudi-Arabien davon abhalten, seinerseits eigene Nuklearwaffen zu
bauen. So sieht es jedenfalls Stephen G. Rademaker, unter George W.
Bush Leiter des Bereichs Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle im
US-Außenministerium. „Ich bin überzeugt, dass das
US-Atomwaffenarsenal – unsere Lagerbestände und was wir
stationiert haben – unser mächtigstes Instrument ist, um die
Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern. Ich denke, wenn der Iran
eines Tages über Atomwaffen verfügen sollte, dann werden wir
in der Region Staaten wie Saudi-Arabien drängen müssen, nicht
selbst Atomwaffen zu entwickeln. Und wie überzeugen wir sie? Nun,
auf demselben Weg, auf dem wir andere Staaten überzeugt haben.
Indem wir ihnen gesagt haben: Ihr braucht keine eigenen Atomwaffen. Ihr
könnt auf unsere Nuklearwaffen vertrauen.“ Rademaker
äußerte sich im Frühjahr auf einem Symposium des Center
for Strategic and International Studies zur Rolle der taktischen
Atomwaffen in Europa.
Nach diesem Kalkül erhöhen die US-Atomwaffen in der
Türkei sogar die Sicherheit in der Unruheregion, indem sie dazu
beitragen, ein nukleares Wettrüsten konkurrierender
Regionalmächte wie Iran und Saudi-Arabien zu verhindern.
Oliver Meier von der Stiftung Wissenschaft und Politik meint
dagegen, ein Abzug der B61-Atombomben aus Incirlik wäre ein
positives Zeichen, um den weitgehend ins Abseits geratenen
Atomwaffensperrvertrag zu stärken. Die Kernaussage dieses
Nichtverbreitungs-Abkommens lautet: Die Atomwaffenstaaten
rüsten ab, dafür verpflichten sich im Gegenzug die anderen
Länder, auf den Besitz von Atomwaffen zu verzichten. Den
Syrienkrieg sieht der Atomwaffen-Experte Meier als Chance für die
Nichtverbreitungspolitik: „Ein Abzug der Waffen aus der
Türkei könnte begründet werden, mit den
Sicherheitsproblemen, die dort, insbesondere in dieser Region,
vorhanden sind. Das heißt, man müsste gar nicht unbedingt
auf die Änderungen der türkischen Politik Bezug nehmen und
könnte damit, glaube ich, auch der Türkei einen
gesichtswahrenden Ausweg bieten, einem solchen Abzug
zuzustimmen.“
Ulrich Kühn vom Hamburger Institut für
Friedensforschung und Sicherheitspolitik legt den Schwerpunkt auf ein
anderes Argument: „Ich halte es nicht für sinnvoll, jetzt
hysterisch in Rufe auszubrechen und zu sagen, diese Waffen müssen
sofort aus der Türkei abgezogen werden. Denn es ist nun mal so:
diese Waffen haben auch politisches Gewicht. Der Schritt muss dann
jedoch sein, dass diese Diskussion, was fangen wir mit diesen Waffen
eigentlich an, vorangetrieben wird.“
Diese Diskussion wird zurzeit aber nur unter Experten
geführt. Dabei ist mittlerweile klar, dass die taktischen
US-Atomwaffen nicht nur in der Türkei, sondern auch in anderen
NATO-Ländern wie Deutschland, militärisch keine Funktion mehr
haben. Auch angesichts der US-Pläne, die Atombomben mit viel Geld
zu modernisieren, wäre eine breite Debatte im Bündnis
über den eigentlichen Zweck dieser Waffen überfällig.
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