Gastbeitrag
Streitkräfte und Strategien - NDR info
02. Juli 2016


Die Türkei unter Erdogan
Vom Stabilitätsanker zum unberechenbaren Bündnispartner?

Andreas Flocken


In dieser Woche ist das Land erneut Ziel eines verheerenden Terroranschlags geworden. Mehr als 40 Tote, über 200  Verletzte. Der Anschlag auf dem Atatürk-Flughafen in Istanbul geht offenbar auf das Konto der Terror-Organisation Islamischer Staat. Immer wieder kommt es aber auch zu Attentaten kurdischer Extremisten.  Die  türkische  Regierung  sieht  sich  im  Krieg  mit  der  verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und ihren Splitterorganisationen. Die Anschläge, aber auch die Politik der Regierung in Ankara, drohen das Land immer mehr zu destabilisieren. Präsident Erdogan versucht, mit harter Hand gegenzusteuern, duldet  keine  Kritik  an  seinem  Kurs,  polarisiert.  Die  Opposition  bekommt  das immer wieder zu spüren.  

Auch  auf  dem  internationalen  Parkett  zeigte  sich  Erdogan  bisher  machtbewusst, scheute keine Konflikte. Stichworte sind der Abschuss des russischen Kampfflugzeugs im vergangenen Jahr, der EU-Flüchtlingsdeal, die Eiszeit mit Israel nach der Tötung von neun pro-palästinensischen Aktivisten vor der Küste des Gaza-Streifens - und zuletzt hatte die Regierung in Ankara einem Parlamentarischen  Staatssekretär  des  Bundesverteidigungsministeriums  verboten, Bundeswehr-Soldaten  auf  dem  türkischen  Stützpunkt  Incirlik  zu  besuchen  - offenbar eine Reaktion auf die Resolution des Bundestages, in der die Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges als Völkermord verurteilt wurden. 

Das NATO-Mitglied Türkei, einst Stabilitätsanker in der Region, gilt inzwischen unter Erdogan als unsicherer Kantonist und schwieriger Partner. Das Land, so die Befürchtung, könnte ins Chaos abgleiten. 

Offenbar hat inzwischen auch die Regierung in Ankara erkannt, dass sich die Türkei  international immer mehr isoliert  hat.  In  dieser Woche  nun  unternahm Erdogan einen Befreiungsschlag. Er entschuldigte sich bei Präsident Putin für den Abschuss des russischen Kampfflugzeuges.  

O-Ton Erdogan (overvoice)
„Ich  habe  in  meinem  Brief  an  Herrn  Putin  unser  tiefstes  Bedauern  über  den Vorfall zum Ausdruck gebracht.“ 

Außerdem wurde mit Israel ein Versöhnungsabkommen unterzeichnet – sechs Jahre nach dem Sturm des Gaza-Solidaritätsschiffes durch die israelische Marine.
 
Der türkische Regierungschef Yildirim setzt jetzt insbesondere auf einen Neubeginn bei den wirtschaftlichen Beziehungen. Schließlich waren zu Hochzeiten drei  Millionen  Russen  und  bis  zu  eine  halbe  Million  Israelis  als  Touristen  ins Land gekommen.

O-Ton Yildirim (overvoice)
„Praktisch betrachtet hat der Normalisierungsprozess nunmehr begonnen. Dem werden die wirtschaftlichen Beziehungen folgen. Und das bedeutet, dass auch der Tourismus schnell wieder belebt werden kann.“ 

Aber auch gegenüber Deutschland setzte Ankara inzwischen auf Deeskalation. Verteidigungsministerin von der Leyen wurde erlaubt, die deutschen Soldaten in Incirlik zu besuchen. Von dort starten Bundeswehr-Tornados zu Aufklärungsflügen über Syrien und den Irak. Ob demnächst aber auch wieder  Staatssekretäre  des  Verteidigungsministeriums  oder  Bundestagsabgeordnete und deutsche Journalisten die Truppe besuchen  dürfen – das ist noch ungewiss. Das Verteidigungsministerium  versucht,  den  Konflikt  herunterzuspielen. Ministeriumssprecher Jens Flosdorff: 

O-Ton Flosdorff
„Auf operativer Ebene läuft in Incirlik alles in sehr guter, kooperativer Zusammenarbeit mit den örtlichen Verantwortlichen. Auch in der Ägäis-Mission läuft das weiter reibungslos in guter, vertrauensvoller Zusammenarbeit mit den türkischen Autoritäten, die dort sind.“  

Die  Regierung  in  Ankara  -  im  Moment  ist  sie  also  auf  Versöhnungskurs. Die Frage bleibt allerdings, ob dieser dauerhaft sein wird. Die Türkei ist unter der Führung des ungestümen Recep Tayyip Erdogan inzwischen selbst für NATO-Mitglieder ein unberechenbarer Partner. Keine guten Aussichten für das bereits jetzt schwierige internationale Krisenmanagement in der Region.


 

Andreas Flocken ist Redakteur für die Hörfunk-Sendung "Streitkräfte und Strategien" bei NDRinfo.