Gastbeitrag
Streitkräfte und Strategien - NDR info
12. Dezember 2015


Die Russische Syrien-Intervention
Machtdemonstration auch gegenüber dem Westen?

Björn Müller


Russlands Intervention in Syrien um das Assad-Regime zu stützen, hat den Westen aufgeschreckt. Bisher traute man den Russen lediglich zu, Operationen in Nachbarstaaten durchzuführen, z.B. in Georgien und der Ukraine. Das gängige Bild war: Russlands Streitkräfte sind zwar nicht mehr so rückständig wie in den 1990er Jahren; von den agilen Interventionsarmeen westlicher Militärmächte wie Frankreich und Großbritannien ist die russische Armee aber noch weit entfernt. Doch das war ein Trugschluss. 

In rund einem Monat verlegte das russische Oberkommando zwei Fliegerstaffeln mit über 30 Kampfflugzeugen nach Syrien sowie Kampfhubschrauber, Schützenpanzer und weiteres Kriegsgerät wie Flugabwehreinheiten. Bodentruppen zur Absicherung der Militärstützpunkte in Tartus und Latakia gehören ebenfalls zum russischen Kontingent. Über dessen Stärke gibt es keine gesicherten Angaben. Wahrscheinlich handelt es sich um Teile einer Marineinfanterie-Brigade mit bis zu 500 Mann. 

Dass die Streitkräfte des Kreml eine Expeditionsarmee bis in den Nahen Osten entsenden können, überrascht westliche Militär-Strategen, wie US-General Ben Hodges. Der Oberbefehlshaber der US-Army in Europa, äußerte in einem Interview mit dem Fachblatt „Defense News“, wie beeindruckt er von der Schnelligkeit sei, mit der die Russen ihr Material nach Syrien verlegt hätten. Woher kommt die Leistungsfähigkeit der russischen Streitkräfte? Und ist der Einsatz auch eine ernst zu nehmende Machtdemonstration, eine Show of Force, gegenüber dem Westen? 

Der wichtigste Grund für die neue Leistungsfähigkeit der russischen Armee ist eine tief greifende Organisationsreform seit dem Georgienkrieg 2008. So wurde die schwerfällige Struktur großer Divisionen aufgegeben, bei der Luftwaffe wie beim Heer. Der Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations in Berlin: 

O-Ton Gressel
„Die Divisionen wurden zu Brigaden umgestellt, die ohne eine Mobilmachung und eine Teilkaderung auskommen, und voll einsatzfähig sind.“ 

Anders als beispielsweise bei der Bundeswehr, sind die meisten russischen Brigaden zu 100 Prozent mit Material und Soldaten ausgestattet. Sie können damit sehr schnell eingesetzt werden. Zumal ein Großteil der Großverbände nun aus Berufssoldaten besteht. Ein weiterer Grund für die hohe Einsatzfähigkeit der russischen Streitkräfte ist laut Militärexperte Gressel eine verbesserte Logistikkette: 

O-Ton Gressel
„Vom Ausfall eines Fahrzeugs, eines Flugzeugs, bis hin zum Zuschub von Ersatzteilen rennt diese Kette eben viel straffer, kürzer, schneller, besser organisiert und ohne viele Schreibtische dazwischen.“ 

Die bessere Logistik erlaubt den Russen, ihr Material zielgerichteter einzusetzen. 

O-Ton Gressel
„Dass macht sich jetzt bemerkbar. Wir haben eine viel höhere Einsatzbereitschaft des Materials, das vorher auch schon da war. Es wurden zwar nicht großartig neue Panzer, Flugzeuge, Schiffe etc. beschafft. Aber dass, was da ist, hat eine viel höhere Einsatzbereitschaft.“ 

 Der entscheidende Faktor der russischen Machtdemonstration in Syrien ist vor allem eine verbesserte Organisation - weniger besseres Material. Das wird deutlich, wenn man einen Blick auf das Hauptkampfmittel der Russen vor Ort wirft, ihre Kampfflugzeuge, sagt Wolfgang Richter, Militärexperte an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin: 

O-Ton Richter
„Da handelt es sich zum großen Teil um Flugzeugtypen, die aus den Zeiten des Kalten Krieges herrühren. Sie haben dort nur wenige Flugzeuge neuer Produktion. Ich denke an SU-35. Und sie setzen dort offensichtlich keine Hightech-Waffen ein, mit diesen Flugzeugen, sondern ziemlich herkömmliche Bomben.“

Die russischen Bombenangriffe in Syrien erfolgen meist zur Unterstützung von Assads Bodentruppen. Und der visuell beindruckende strategische Bomber der Russen, die Tupolew Tu-160, der in westlichen Medien als „Weißer Schwan“ viel Aufmerksamkeit erhielt, wirft lediglich sogenannte Freifallbomben ab – allerdings aus größeren Höhen. Dadurch leidet die Präzision und Opfer unter der Zivilbevölkerung werden wahrscheinlicher. Westliche Angriffstaktiken mit lasergelenkten Präzisionsbomben führen die russischen Luftstreitkräfte nur vereinzelt aus. Hier, das zeigt das Beispiel Syrien, stecken die russischen Luftstreitkräfte noch in den Anfängen. Das Vorgehen ihrer Luftwaffe ist immer noch geprägt durch die Rollen in der Sowjetzeit bzw. während der Ost-West-Konfrontation: Direkte Luftunterstützung für Bodentruppen und – bei einer Eskalation mit der NATO - der Abwurf von Atombomben.
 
Nichtsdestotrotz nutzen die russischen Streitkräfte Syrien, um ein wichtiges System zur Kriegsführung zu testen, das vorher noch nie zum Einsatz kam. Dabei handelt es sich um GLONASS, das russische Pendant zum amerikanischen Satellitensystem GPS. Mit GLONASS lassen sich beispielsweise Bomben präziser ins Ziel lenken; eine günstigere und genauere Variante als die Steuerung per Laser. GLONASS lenkte auch die 26 Cruise-Missiles vom Typ „Kalibr“, die Russland von Kriegsschiffen im Kaspischen Meer abfeuerte, um Ziele in Syrien anzugreifen. Der Einsatz dieser Waffen war eine Machtdemonstration Russlands gegenüber den westlichen Kontrahenten. So sieht es jedenfalls der Militärexperte Richter: 

O-Ton Richter
„Da steckt schon ein Signal dahinter. Russland zeigt dem Westen, dass es ähnlich, wie die Amerikaner, über Einsatzmöglichkeiten verfügen, die über weite Entfernungen, das Ziel sehr präzise treffen können.“ 

Mit dem Einsatz der Marschflugkörper sind die Russen in einen Bereich der Waffentechnik vorgestoßen, der bis dato als Domäne der weltweiten Militärmacht Nr. 1, den USA, galt. Dass der Einsatz von See erfolgte, hat laut Wolfgang Richter einen speziellen Grund:

O-Ton Richter
„Man zeigt, dass man nicht Rüstungskontrollverträge bricht. Denn es gibt ja den Vertrag über die Mittelstreckenraketen, die bodengestützte Marschflugkörper und Mittelstreckenraketen einschließt. Diese Waffen sind seit 1987 im bilateralen Verhältnis Russland/USA verboten. Und Russland hat deswegen die Alternative gewählt, solche Waffen von See abzufeuern.“ 

Mit dem seegestützten Einsatz der Marschflugkörper in Syrien hat Russland eine doppelte Botschaft an den Hauptkonkurrenten USA geschickt: Wir sind militärtechnisch auf Augenhöhe und auch die politische Begrenzung für den Einsatz dieses schweren Waffen-Systems können wir umgehen. 

Zudem zeigen die Russen in Syrien, das sie sich in den letzten Jahren auf den Aufbau von Luftabwehrsystemen konzentriert haben, - Fähigkeiten, die die westlichen Militärmächte im Falle einer Konfrontation mit Russland nur schwer ausschalten könnten. So sieht es zumindest der Militärkenner Gustav Gressel: 

O-Ton Gressel
„Niemand hat sich Gedanken gemacht, wie man Luftoperationen führt, in einem Gebiet, wo Russland mit Fliegerabwehr den Luftraum weiträumig in Schach halten kann. Unsere Anti-Radiation-Missiles haben da ein Reichweitenproblem. Wir haben den Angriff auf solche Systeme seit dem 1990/1991 Golfkrieg nicht mehr geübt. Also hier sind viele Kapazitäten verschwunden, wurden nicht mehr nachbeschafft. Und Russland ist ganz gezielt in diese Lücken hineingestoßen.“ 

Auf dem syrischen Kriegsschauplatz hat Russland Flugabwehreinheiten stationiert, wie den Lenkwaffenkreuzer „Moskwa“, der mit seinen Raketen vom Typ „S 300 Fort“ einen Radius von 150 Kilometern abdeckt. Russland hat sich in Syrien damit das geschaffen, was Militärs eine „Access Denial“-Option nennen – eine Möglichkeit, den Zugang der westlichen Luftstreitkräfte zum Kriegsschauplatz zu begrenzen. 

Die Art und Weise wie Russland seinen Feldzug in Syrien führt, ist ein Offenbarungseid für die westliche Eindämmungsstrategie gegen Moskau seit der Ukraine-Krise 2014. Bei NATO und EU hatte man sich auf eine statische Frontbildung gegen Russland in Europa eingestellt. Russland sollte militärisch eingedämmt und wirtschaftlich geschwächt werden. Das Kalkül ist jedoch nicht aufgegangen. Russlands Sprung nach Syrien zeigt, dass es trotz Sanktionen und so mancher Defizite im Bereich der Waffentechnologie, zu offensiven Militäroperationen weit von der Heimat fähig ist. Möglich wurde dies in erster Linie durch eine bessere Organisation der vorhandenen militärischen Fähigkeiten Russlands.