Gastbeitrag
Streitkräfte und Strategien - NDR info
31. Oktober 2009


Eskalation oder Ausstieg am Hindukusch?
Obamas schwierige Entscheidung

Gastbeitrag von Thomas Horlohe


Barack Obama benötigt eine neue, eine verbesserte Version seiner Afghanistan-Pakistan-Strategie, „AfPak 2.0“ sozusagen. Hierfür nimmt sich der Präsident Zeit. Seit Mitte Oktober hat er sein Sicherheitskabinett zu einer ganzen Serie intensiver Sitzungen zusammengerufen. Wann Obama seine Entscheidung treffen wird, darauf legen sich seine Sprecher nicht fest. Es werde wohl noch einige Wochen dauern.

Spätestens mit der Verkündung der AfPak-Strategie im März hat Obama den Konflikt am Hindukusch zu „seinem“ Krieg gemacht. Nun hat ausgerechnet die verbündete Karsai-Regierung ihm eine erste Niederlage beigebracht - an den Wahlurnen, nicht auf dem Gefechtsfeld. Ein überaus bemerkenswerter und zutiefst beunruhigender Vorgang. Denn er untergräbt das Vertrauen der US-Bevölkerung in ihren Präsidenten. Im April, also unmittelbar nach Bekanntgabe seiner neuen Strategie, hatte die Zustimmungsrate zu Obamas Afghanistan-Politik noch 63 Prozent be-tragen. Laut einer Umfrage der WASHINGTON POST und des Fernsehsenders ABC von Mitte Oktober ist sie inzwischen auf 45 Prozent abgesunken. Mittlerweile stehen 47 Prozent der Befragten der Afghanistan-Politik skeptisch gegenüber.

Obamas politische Gegner wittern ihre Chance und erhöhen den Druck. Richard Cheney, Ex-Verteidigungsminister, vor kurzem noch mächtiger Vizepräsident, geistiger Vater des Irak-Krieges und selbst ernannte Gallionsfigur der republikanischen Rechten kritisiert die lange Bedenkzeit, die sich Obama genommen hat:

O-Ton Cheney (overvoice)
„Nachdem der Präsident im März seine Afghanistan-Strategie angekündigt hat, scheint er nun vor den notwendigen Entscheidungen zurückzuschrecken und unfähig zu sein, seinem Kommandeur die Truppen zu geben, die er benötigt, um seinen Auf-trag auszuführen. (…) Das Weiße Haus muss aufhören zu zaudern, während die Streitkräfte Amerikas sich in Gefahr befinden.“

Auch dieses Vorgehen ist ungewöhnlich: Der Vizepräsident einer wegen ihrer Kriegspolitik gerade abgewählten Regierung geht den amtierenden Präsidenten polemisch und deutlich unter der Gürtellinie an und wirft dem Oberbefehlshaber mangelnde Unterstützung der eigenen Truppen vor. Die Cheney-Kritik erinnert an die US-amerikanische Spielart der „Dolchstoß-Legende“, die seit dem Vietnam-Krieg unterschwellig das Verhältnis zwischen Militärs und Regierung belastet. Ihr Tenor: Zivilisten haben den Befehlshabern im Feld die Truppen verweigert, die sie für den Sieg benötigt hätten.

Robert Gates, Verteidigungsminister unter George Bush und auf Bitten Obamas weiter im Amt, hält betont sachlich dagegen:

O-Ton Gates (overvoice)
„Man sollte sich daran erinnern, dass die Debatte innerhalb der Bush-Regierung über die Truppenaufstockung im Irak drei Monate dauerte, von Oktober bis Dezember 2006. (…) In Wirklichkeit ist es doch so, dass selbst wenn der Präsident entscheiden würde, zusätzliche Kampftruppen nach Afghanistan zu schicken, die ersten Soldaten dort nicht vor Januar eintreffen könnten.“

Zwei Alternativen liegen Obama zur Auswahl vor: Der erste Vorschlag stammt von General McChrystal. In seinem am 30. August abgelieferten 60-seitigen Zustands-bericht zeichnet der ISAF-Befehlshaber ein düsteres, kritisches, ja dramatisches Bild der Lage in Afghanistan. McChrystal will das Konzept der Aufstandsbekämpfung, die sogenannte Counterinsurgency- bzw. COIN-Doktrin konsequent anwenden und den Schutz der afghanischen Bevölkerung in den Mittelpunkt seiner Anstrengungen stellen. Ihr Vertrauen müsse gewonnen werden, um das Blatt zu wenden. Die Be-kämpfung von Taliban- und Al QaidaKämpfern ist für den US-General zweitrangig. Die Aufstandsbekämpfung in Afghanistan erfordere zwischen 40.000 und 80.000 US-Soldaten zusätzlich.

Der zweite Vorschlag kommt von Vizepräsident Joe Biden. Der ehemalige Senator hält in der Demokratischen Partei eine Truppenaufstockung für politisch kaum durch-setzbar. Vor allem aber schreckt ihn die Aussicht, auf unabsehbare Zeit weiterhin hohe Verluste für ein korruptes Regime in Kabul in Kauf nehmen zu müssen. Biden will eine Beschränkung auf den Antiterrorkampf gegen Al Qaida und ihre ver-bündeten Taliban. Geführt werden soll dieser Kampf vorzugsweise mit Spezialein-heiten und unbemannten Flugkörpern.

Obama sieht sich vor die Wahl gestellt zwischen Aufstandsbekämpfung – Counterinsurgency – und Antiterrorkampf – Counterterrorism. Pikanterweise werden damit erneut zwei gegensätzliche Positionen artikuliert, die bereits in den Vorüber-legungen zur Afghanistan-Pakistan-Strategie AfPak vom März eine Rolle spielten. In der Endfassung wurden sie dann stillschweigend miteinander vermengt. Die neue Strategie, also „AfPak 2.0“, wird diesen Fehler ausbügeln müssen.

Beide Alternativen dürften Obama nicht überzeugt haben. McChrystals Strategie er-fordert viele zusätzliche Truppen, einen langen Atem, die Bereitschaft, hohe Verluste in Kauf zu nehmen und bietet dennoch keine verlässliche Ausstiegsperspektive. Vor allem aber berücksichtigt McChrystals Ende August abgeschlossener Bericht noch nicht die Folgen der manipulierten Präsidentschaftswahl vom 20. August. Die zentrale Frage einer Strategie der Aufstandsbekämpfung für Afghanistan wird von McChrystal gar nicht gestellt: Wie soll das ungeliebte westliche Militär die afghanische Bevölkerung gegen die Taliban und gegen die Regierung in Kabul schützen? Denn zunehmend erweist sich die korrupte Regierung Karsai als wichtigster Rekrutierungshelfer für die Taliban.

Hinzu kommt, dass McChrystal nur einen Teil des Gesamtproblems angehen kann. Denn er ist nur für Afghanistan zuständig - nicht aber für Pakistan. Auf der anderen Seite der Grenze führt die pakistanische Armee einen konventionellen Feldzug gegen unkonventionell kämpfende Taliban. Der zivile Wiederaufbau in den von Taliban geräumten Distrikten bleibt im Ansatz stecken. Vom Schutz der Bevölkerung als Operationsziel ist man dort weit entfernt. Die pakistanischen Taliban haben in einer beispiellosen Anschlagsserie, unter anderem gegen das Armeehauptquartier in Rawalpindi, unter Beweis gestellt, dass sie schnell, flexibel und grausam zielgenau eskalieren können.

Andererseits wirken auch die Vorstellungen von Vizepräsident Biden unausgereift. Terroristenjagd mit Fernbedienung? Wenn es möglich sein soll, den Antiterrorfeldzug mit einer klugen Kombination von Satellitenaufklärung, Drohnen und Spezialtruppen erfolgreich zu führen - warum ist das dann nicht schon längst geschehen?

Präsident Obama weiß, dass „AfPak 2.0“ kein Misserfolg werden darf. Es steht viel auf dem Spiel. Einen dritten Versuch hat er nicht. Die Vorschläge, die ihm bislang vorgelegt wurden, werden seinen Anforderungen nicht gerecht. Deshalb hat er seine Berater zurück an die Arbeit geschickt, um mit besseren Optionen wieder zu kommen. Es sei an der Zeit, belehrte Obama unlängst einige Kongressabgeordnete, das Scheinargument beiseite zu schieben, es gehe darum, entweder die Truppen zu verdoppeln oder abzuziehen. Klar ist, die neue Afghanistan-Pakistan-Strategie darf keine Blaupause für einen Abnutzungskrieg sein, für welches hehre Ziel auch immer. Aber auch alles was nach Rückzug aussieht, sollte vermieden werden. Die amerikanische Öffentlichkeit liebt Sieger. Verlierern verzeiht sie nicht.

Doch über „AfPak 2.0“ wird nicht am Hindukusch entschieden, sondern an der Heimatfront. Dort, in den Talkshows des US-Fernsehens und in den Kommentar-spalten der großen Tageszeitungen, wird in diesen Tagen immer häufiger eine historische Analogie bemüht, die es in sich hat: Vietnam.

„Lessons in Disaster“, heißt der Titel eines Sachbuches. Frei übersetzt: „Was man aus einer Katastrophe lernen kann.“ Dieses Buch wird mittlerweile dem Präsidenten und seinen Beratern als Lektüre empfohlen. Sein Autor, Gordon M. Goldstein, erklärt warum:

O-Ton Goldstein (overvoice)
„Die Parallelen zwischen Vietnam und Afghanistan sind wirklich verblüffend und wahrhaft besorgniserregend. […] Sowohl in Vietnam wie in Afghanistan haben wir ein großes Nachbarland, das eine Aufstandsbewegung unterstützt und stärkt. In beiden Ländern sehen wir eine korrupte oder unfähige Stellvertreterregierung an der Macht. In beiden Fällen kämpfen wir keinen konventionellen Krieg. Wir kämpfen gegen eine Aufstandsbewegung, führen eine Form des militärischen Konflikts, die wir weit weniger gut beherrschen als alle anderen. Und in beiden Situationen sehen wir uns daheim und international schwindender öffentlicher Unterstützung für einen Konflikt gegenüber, für den offenbar kein identifizierbarer Endpunkt in Sicht ist. Wir stehen wirklich vor einem äußerst schwierigen Problem.“

Vietnam hat Präsident Johnson zur Verzweiflung getrieben und die Nation traumatisiert. So weit will es Obama nicht kommen lassen. Das zurückgewonnene Ansehen der USA in der Welt wird Präsident Obama kaum für ein fragwürdiges En-gagement am Hindukusch aufs Spiel setzen wollen.