BITS Briefing Note 03.3
Dezember 2003
ISSN 1434-3282


Europas Antiterrorismus-Politik
- Entstehung, Entwicklung, Perspektiven -

von Daniel Messelken [1]


This note is also available as a pdf-file

 

 

"Die Gegenwart lehrt uns, dass Sicherheit im 21. Jahrhundert für uns alle, besonders aber für die USA und Europa, nicht mehr in den traditionellen Kategorien des 20. Jahrhunderts definiert werden kann."[2]  

 

 

 

Mit diesen Worten brachte der deutsche Außenminister Joschka Fischer die sicherheitspolitische Debatte vor einigen Wochen auf den Punkt. In seiner Rede an der Princeton University am 19.11.2003 nannte er vor allem den (islamistischen) Terrorismus als neue Herausforderung für die internationale Staatengemeinschaft. Diesem "neuen Totalitarismus" kann laut Fischer nur mit einer umfassenden Antwort, einer des "effektiven Multilateralismus", erfolgreich begegnet werden. Die Bedrohungsanalyse, die der Diskussion um die weitere Entwicklung der Sicherheitspolitik zugrunde liegt, konzentriert sich in Europa und den USA zunehmend auf die "sicherheitspolitischen Restrisiken", zu denen auch der Terrorismus gezählt wird. Grundsätzlich geht es dabei um Risiken, die von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, die das Gewaltmonopol des Staates in Frage stellen oder es sich teilweise aneignen (Stichwort: "failing/failed states"). Diese Risiken werden verstärkt, wenn die Gefahr der Proliferation von Massenvernichtungswaffen mit ins Spiel kommt. Aufgrund der Ungleichverteilung der Kräfte und der Bedrohung durch zahlenmäßig meist kleine Gruppen ist oft auch die Rede von "asymmetrischen Risiken" – eine Neuauflage von David gegen Goliath gewissermaßen; nur kann David heute nicht mit Sympathien rechnen.

Nun ist die Bedrohung durch terroristische Gruppierungen freilich keine völlig neue. Gerade in Europa hat es auch in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder (zumeist regionale) Konflikte gegeben, in denen auch terroristische Gewalt eingesetzt worden ist. Neu ist hingegen die Regelmäßigkeit von "großen" Anschlägen, deren Zerstörungskraft außerdem zugenommen hat, während die Zielrichtung derartiger Aktionen zuletzt meist diffus blieb. Relativ neu ist auch die Einsicht einiger Staaten, dass diesen Restrisiken nicht im Alleingang und nicht ausschließlich mit militärischen Mitteln begegnet werden kann. Multilaterale Kooperationen auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Mitteln werden also in wachsendem Maße angestrebt, um die Gefahr, die von den verbleibenden Risiken ausgeht, zu minimieren.

Ziel dieser Briefing Note ist es, den zurückgelegten Weg zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik für den Spezialfall der Antiterrorismus-Politik zu verfolgen. Dazu werden die Hauptlinien europäischer Antiterrorismus-Politik seit 1970 nachgezeichnet und ihre Veränderungen aufgezeigt. Einzelmaßnahmen werden daher weniger im Mittelpunkt stehen. Der Fokus wird darauf liegen, langfristige Entwicklungen von Strategien nachzuvollziehen.

Ausgangspunkt und Leitlinie der Überlegungen ist das Dilemma, das oftmals in der Dichotomie "Freiheit oder Sicherheit" zum Ausdruck gebracht wird. Einerseits gehört es seit jeher zu den Kernaufgaben jeder Regierung, die Bürger ihres Staates vor (willkürlicher) Gewalt zu schützen, also auch vor terroristischer Gewalt. Viele Staaten, darunter die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU), sind der Auffassung, dass dafür eine Vertiefung der grenzüberschreitenden Kooperation auf verschiedenen Ebenen eine notwendige Voraussetzung ist. Als souveräner Staat in spe ist die EU jedenfalls gezwungen, sich Gedanken über ihre Aufgaben und Kompetenzen auch bei der Terrorismusbekämpfung zu machen. Andererseits ist der Begriff des "Terrorismus" äußerst dehnbar und eignet sich daher zur (politischen) Instrumentalisierung. Als Terrorismus werden verschiedenste Formen zumeist nicht-staatlicher Gewalt bezeichnet und darüber die Verfolgung der Urheber legitimiert. Allzu leicht lassen sich die verfolgten Gruppen und die Methoden, die dabei verwendet werden, relativ weit fassen. Angesichts der behaupteten, oft diffusen Gefahr werden von den Regierungen Beweise und Begründungen nicht unbedingt geliefert, von der Öffentlichkeit aber auch nicht immer gefordert.

Im Namen eines neu postulierten Grundrechts auf Sicherheit wird von Seiten der Staaten oftmals das ursprünglichere und immanentere Grundrecht der Bürger auf Freiheit eingeschränkt. Die Proklamierung eines Grundrechts auf Sicherheit durch die Staaten stellt aber eine geradezu paradoxe Figur dar, deren Folgen den Begriff des Grundrechts umkehren. Werden Grundrechte seit ihrer Durchsetzung im Allgemeinen als Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat verstanden (im Fall der Freiheit also unter anderem als Recht der Bürger auf Nicht-Eingriff des Staates in die Privatsphäre), kann das Grundrecht auf Sicherheit eigentlich nur als Recht des Staates auf ordnungsgemäßes Verhalten seiner Bürger interpretiert werden. Sicherheit ist also keine logische oder hinreichende Voraussetzung für Freiheit. Dennoch bleibt es offensichtlich Aufgabe des Staates, seinen Bürgern einen angemessenen Grad an Sicherheit zu garantieren.[3]

Der erste Abschnitt der vorliegenden Briefing Note untersucht, inwiefern sich überhaupt ein Konsens zwischen den Institutionen und Staaten darüber entwickelt hat, was Ziel und Mittel der Terrorismusbekämpfung sein soll. Neben einem historischen Abriss der Entwicklungen in Europa seit den 1970er Jahren wird auch auf die Diskussionen nach dem 11. September 2001 und auf die Vorbereitungen für eine Europäische Verfassung eingegangen.

Im zweiten Abschnitt werden mögliche Auswirkungen der jüngsten Entwicklungen auf den Fortgang und die Richtung der europäischen Integration dargestellt. Gefragt wird dabei, welche Politik-Bereiche oder Akteure auf der Ebene der EU von der Terrorismusdebatte profitieren konnten, beziehungsweise welche Konsequenzen die jetzigen politischen und administrativen Entscheidungen für die verschiedenen Aspekte des europäischen Integrationsprozesses haben könnten.

Schließlich wird im letzten Teil noch einmal auf Kernpunkte eingegangen, die bislang – mit Absicht oder nicht – nur unzureichend von der EU und ihren Mitgliedsstaaten behandelt worden sind und weiterhin Aufmerksamkeit beanspruchen sollten. Wenn es auch im politischen Tagesgeschäft attraktiver sein mag, auf eine "Lösung" durch Aussitzen zu warten, kann es dadurch doch zu erheblichen Einschränkungen der Bürgerrechte kommen. Gleichfalls kann die gegenwärtige Umdefinierung des Terrorismus zu einer in erster Linie externen Bedrohung, auf die mit militärischen Mittel geantwortet werden sollte, zu einer wesentlich aggressiveren Außen- und Sicherheitspolitik führen.

1. Terrorismusbekämpfung in den europäischen Institutionen seit 1970

Die Entwicklung der europäischen Antiterrorismus-Politik lässt sich historisch grob in zwei abgeschlossene Abschnitte einteilen. Veränderungen, die den Übergang zu einer dritten Epoche bedeuten würden, lassen sich in der aktuellen und für die Zukunft geplanten Politik der Europäischen Union ausmachen. Inhaltliche Veränderungen der konkreten Maßnahmen fallen bei dieser Einteilung mit Umgestaltungen der organisatorischen Strukturen der europäischen Kooperation und Integration zusammen, so dass die verschiedenen Ansätze der Terrorismusbekämpfung verschiedenen Akteuren beziehungsweise Stufen der Integration zugeordnet werden können. Das erste Kapitel nimmt diese Gliederung auf: Zunächst wird es um die Kooperation im Rahmen des Europarates und bis zum Maastrichter Vertrag gehen. Der nächste historische Abschnitt begann 1992 und dauert noch an. Eine dritte Etappe würde mit einer gemeinsamen europäischen Verfassung beginnen, wie sie zur Zeit als Entwurf zur Diskussion steht.

Aber zunächst noch eine Bemerkung vorweg, die die methodische Vorgehensweise und inhaltliche Eingrenzung dieser Studie betrifft. Die Europäische Union (EU) als Staat in spe, anders gesagt als "Staat im Werden", müsste wie auch ihr Entstehungsprozess vom Ziel der Schaffung supranationaler (hier: europäischer) Zuständigkeiten über den Weg der Vergemeinschaftung und Verrechtlichung geprägt sein. Dies würde auf immer mehr Politikfeldern einen nationalen Souveränitätsverzicht in der Folge der Anerkennung und Umsetzung supranationaler Verrechtlichungsergebnisse bedeuten. Beispiele für derartige bereits vertiefte Integrationsprozesse finden sich heute unter anderem in den Bereichen Zoll, Wirtschaft und als Musterbeispiel dem Euro. Die EU-Kommission, der Europäische Gerichtshof (EUGH) und das Europäische Parlament (EP) seien beispielhaft als Institutionen genannt, die die Vergemeinschaftung repräsentieren.

Neben dem Vergemeinschaftungsprozess haben sich die Nationalstaaten ein weiteres paralleles Harmonisierungsmodell unterhalb der Integration geschaffen: das System der Europäischen Räte und der intergouvernementalen Zusammenarbeit. Dieses können sie in Bereichen nutzen, in denen sie (noch?) nicht auf Souveränität verzichten wollen, und sich trotzdem auf seine Ergebnisse legitimierend beziehen, wenn der Kontrolle der nationalen Parlamente ausgewichen werden soll. Da auch das Europäische Parlament und die europäische Rechtssprechung auf dieses System keinen Zugriff haben, können auf diese Weise exekutive Machtbefugnisse ausgeweitet werden.

Zwischen der intergouvernementalen Kooperation und den bei der EU-Kommission vergemeinschafteten Bereichen bestand üblicherweise ein Wechselverhältnis von Konkurrenz und Kooperation, eine Art "Checks and Balances". Aus verschiedenen Gründen ist es in den letzten Jahren aber zu einem Machtkampf zwischen den supranationalen und intergouvernementalen Institutionen und deren Interessen gekommen. Als Gründe sind u.a. zu nennen (1) konkurrierende Bedürfnisse bei Erweiterung der Union und der Vertiefung der europäischen Kooperation, (2) nationale Haushaltsengpässe, die eine Verlagerung der Kosten auf vergemeinschaftete Haushaltstitel attraktiver machen, (3) doppelte Zuständigkeiten in mehrfach oder überlappend erfassten Bereichen. Die (Art der) Debatte im Konvent ist ein Beispiel für diese Schwierigkeiten. Im Bereich der Sicherheitspolitik, die einen der Kernbereiche nationalstaatlicher Souveränität darstellt, ist in der Folge ein verstärkter Widerstand gegen die Vergemeinschaftungsprozesse aufgekommen.

Es ist hier nicht möglich, die Frage der Vergemeinschaftung versus intergouvernementaler Zusammenarbeit voll als Analyseraster einzubeziehen. Das würde eine weitaus genauere Analyse der verschiedenen Akteure und ihrer jeweiligen, sich ändernden Interessen erfordern, für die hier der Raum fehlt und die daher einer anderen Arbeit vorbehalten bleiben muss. Ziel der vorliegenden Studie ist das Nachzeichnen langfristiger Entwicklungslinien in der europäischen Antiterrorismus-Politik. Dennoch muss das Problem "Vergemeinschaftung oder intergouvernementale Zusammenarbeit" an einigen Stellen gewissermaßen als Erklärungsschema mitgedacht werden, auch wenn es im Text nur punktuell angedeutet werden kann.

1.1. Die Anfänge der gemeinsamen Antiterrorismus-Politik im Rahmen des Europarates und der Europäischen Gemeinschaft

Terrorismus wurde von den europäischen Staaten erstmals als eine gemeinsame Bedrohung behandelt, als diese sich in den 1970er Jahren mit einer Serie terroristischer Angriffe konfrontiert sahen. Unter anderem die Anschläge bei der Olympiade 1972 in München, die Entführung Hanns-Martin Schleyers und damit zusammenhängend die Entführung der Landshut im Herbst 1977 haben dazu geführt, dass Terrorismus nicht mehr nur als interne Bedrohung angesehen und behandelt wurde.[4] In dieser Zeit wurde sowohl eine ansteigende Vernetzung von Organisationen wie der baskischen Euskadi Ta Askatasuna (ETA) oder der irischen Irish Republican Army (IRA) untereinander deutlich, als auch mit der Palestine Liberation Organization (PLO). Insbesondere die zunehmende Internationalisierung der Kooperation und Organisation terroristischer Gruppierungen bei der Durchführung von Aktionen führte zu dieser neuen Einschätzung. Auf diesen Internationalisierungstrend antworteten die europäischen Staaten mit einer Intensivierung der zwischenstaatlichen Konsultationen und Kooperation. Jedoch erwies sich die Umsetzung der Kooperationsabsicht damals als schwierig und langwierig. Zu unterschiedlich waren anfangs die Vorstellungen und Interessen der Staaten.[5] Bis ins Jahr 2002 gab es nur in sechs europäischen Staaten spezifische Antiterrorismus-Gesetze.[6] Und das waren die Staaten, die selber Erfahrungen mit terroristischen Anschlägen gesammelt hatten. Die Gesetze dieser Staaten, die jeweils als Reaktion auf akute, selber erfahrene Bedrohungen entstanden sind, waren jedoch alles andere als einheitlich bzw. ähnlich, sondern auf jeweils spezifische terroristische Bedrohungen zugeschnitten. Außerdem waren die Gesetze natürlich von der spezifischen politischen Kultur und den Rechtstraditionen geprägt. Die als terroristisch geahndeten Tatbestände wiesen in ihrer Beschreibung deutliche Unterschiede auf. Auch was das Strafmaß angeht, gab es zum Teil erhebliche Differenzen. Eine gemeinsame europäische Herangehensweise an das spezielle Problem Terrorismus gab es noch nicht.

Diese Tatsache lässt sich damit erklären, dass die Terrorismusbekämpfung (mehr als andere Kooperationsvorhaben) Kernbereiche der staatlichen Souveränität berührt und daher ein politischer Abstimmungs- und Vertrauensbildungsprozess am Anfang stehen muss. Staatliche Kernaufgaben wie die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit müssen vom Einzelstaat in diesem Fall an supranationale Ebenen abgegeben oder zumindest kooperativ mit anderen Staaten ausgeübt werden. Die Voraussetzungen dafür, also gegenseitiges Vertrauen und eine gemeinsame politische Kultur, müssen erst geschaffen werden. Je weiter politische Systeme oder Kulturen auseinander liegen, desto eher gilt für sie das alte Diktum, wonach des einen Terrorist des andern Freiheitskämpfer ist.[7] Das jeweilige Verständnis, das die Staaten vom Terrorismus haben, wird stark von national und historisch unterschiedlichen Elementen beeinflusst. Bis heute konnte im Rahmen der UNO trotz mehrfacher Versuche keine Übereinkunft für eine international anerkannte Definition des Phänomens erzielt werden.[8]

Mitte der 1970er Jahre wurden in (West-) Europa als Reaktion auf die Analyse der Bedrohungslage verschiedene Kooperationsmaßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus ins Leben gerufen. Diese waren in den Rahmen der allgemeinen Kriminalitätsbekämpfung integriert und keine eigenständigen Antiterrorismus-Kooperationen. Terrorismus wurde als ein Spezialfall der (organisierten) Kriminalität gesehen. Dementsprechend fielen die Maßnahmen zu seiner Bekämpfung in den Bereich der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit. Bei Gal-Or, die 1985 eine erste umfangreiche und zudem äußerst informative Studie zur Terrorismusbekämpfung vorlegte, findet sich eine kurze und prägnante Beschreibung des damaligen Verständnisses internationaler Antiterrorismus-Kooperation:

"International cooperation in the suppression of terrorism is the continuation of relevant efforts undertaken individually by various states. It supplements what cannot be completely achieved in the domestic field alone."[9]

Internationale Zusammenarbeit zeichnete sich im damaligen Verständnis vornehmlich durch ihren subsidiären Charakter aus, d.h. sie ergänzt einzelstaatliche Politik ohne diese zu ersetzen. Die alleinige und abschließende Zuständigkeit des Einzelstaates wurde nicht in Frage gestellt.

Am 27. Januar 1977 verabschiedete der Europarat nach mehrjährigen, weitgehend geheim gehaltenen Beratungen die European Convention on the Suppression of Terrorism (ECT).[10] Aufbauend auf einem "Klima des gegenseitigen Vertrauens",[11] das zwischen den Staaten des Europarates erreicht worden sei, stellt die Konvention in erster Linie eine Erweiterung der im Rahmen des Europarates bestehenden Vereinbarungen über Auslieferung und Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung dar.[12] Die ECT steht demnach in der Tradition des Prinzips aut dedere aut iudicare. Nach diesem Prinzip müssen gefasste (terroristische) Straftäter (bzw. als solche verdächtigte) entweder der eigenen Justiz vorgeführt werden, oder an Staaten ausgeliefert werden, die dies ersuchen. Damit soll vermieden werden, dass (terroristische) Straftäter sich ihrer Bestrafung durch Flucht in ein anderes Land entziehen. Neben den genannten Auslieferungsabkommen stützt sich die ECT aber auch expressis verbis auf die Europäische Menschenrechtskonvention vom 4.11.1950. Einerseits sei durch diese das gegenseitige Vertrauen begründet, das – auch aus moralischer Sicht – die Auslieferung rechtfertige; andererseits gebiete der Schutz der Menschenrechte neben dem Respekt für die Grundrechte der Täter aber auch ein Engagement zum Schutz der Bürger vor terroristischer Gewalt.[13] In der angehängten Erklärung zur ECT heißt es dazu, dass nicht nur die Menschrechte der Täter, sondern auch die der Opfer in Betracht gezogen werden müssten.[14]

Durch die ECT wird in besonders schweren Fällen der Schutz aufgehoben, den der Terminus "politisch motiviert" vorher Straftätern bot und so ihre Auslieferung verhindert hatte. Dazu werden in Artikel 1 der Konvention jene Straftaten aufgelistet, die – im Sinne einer Fiktion – nie als politisch motiviert angesehen werden.[15] Die Konvention beinhaltet also keine echte Definition des Terrorismus. Sie führt lediglich auf, was als terroristische Tat gelten kann und soll. Dies betrifft Straftaten, die gegen bereits vorhandene internationale Konventionen verstoßen, oder schwere Delikte, die sich gegen die physische Integrität von Personen richten. Die Interpretationshoheit im jeweiligen Einzelfall verbleibt bei den um die Auslieferung ersuchten Staaten. A priori existiert keine gemeinsame Position zwischen den Unterzeichnerstaaten. Im Vertragstext drückt sich diese Uneinigkeit im umstrittenen Artikel 13 aus, der den Staaten erlaubt, zum Zeitpunkt der Unterzeichnung Vorbehalte geltend zu machen und damit die Anwendung der Konvention an Einzelentscheidungen zu knüpfen. Zwar ist eine derartige Möglichkeit in internationalen Verträgen durchaus üblich. Da jedoch von diesem Recht, der Konvention sozusagen unter Generalvorbehalt beizutreten, die Mehrheit der Unterzeichnerstaaten Gebrauch gemacht hat, wurde die Idee, auf die sich die Konvention gründete, in gewisser Weise ad absurdum geführt. Insbesondere halten sich beinahe alle unterzeichnenden Staaten in ihren schriftlich niedergelegten Vorbehalten die Möglichkeit offen, Straftaten weiterhin als politisch motiviert anzusehen und ihre Urheber daher nicht auszuliefern.[16]

Aufgrund der bei der Unterzeichnung oder Ratifizierung durch die Unterzeichnerstaaten erklärten Vorbehalte nach Artikel 13 der ECT, ist diese letztlich nicht anwendbar geworden.[17] Ein politischer Konsens zur Terrorismusbekämpfung, der für die vorbehaltlose Umsetzung der ECT notwendig gewesen wäre, war in (West-) Europa Ende der 1970er Jahre nicht zu erreichen.[18] An dieser Stelle sollte angemerkt werden, dass Ende der 1970er Jahre auch noch nicht von einem gemeinsamen Demokratieverständnis in Europa gesprochen werden konnte, und mit Spanien und Portugal zwei Staaten gerade erst ihre Diktaturen überwunden hatten. Folglich waren auch die Rechtsstandards und Rechtspraxis sehr unterschiedlich, so dass die vorbehaltliche Einigung durchaus auch politisch geboten schien.

Auf Beschluss der Justiz- und Innenminister der Europäischen Gemeinschaft wurde 1975/76 unter der Bezeichnung "TREVI" ein regelmäßiger Konsultationsrahmen dieser Ministerien geschaffen.[19] Diese Zusammenarbeit war zwar ein regulärer, aber nur informeller Kooperationsrahmen auf drei Stufen (Minister, Hohe Beamte, Arbeitsgruppen), der nicht vertraglich institutionalisiert war und über kein ständiges Sekretariat verfügte. Bei der Einrichtung wurden von den beteiligten Staaten die Bereiche Terrorismusbekämpfung und Kooperation der nationalen Polizeistellen als Arbeitsschwerpunkte vereinbart.[20] 1976 gab es zunächst zwei Arbeitsgruppen: AG TREVI 1 Terrorismusbekämpfung und AG TREVI 2 Polizeifragen. Später kamen Gruppen mit den Arbeitsgebieten Organisierte Kriminalität (ab 1985), Vorbereitung des Schengener Abkommens (ab 1989) und Vorbereitung Europols (ab 1991) hinzu. Treffen fanden halbjährlich auf Ministerebene statt.

Die Einrichtung des TREVI-Rahmens erfolgte unter anderem aus der Einschätzung, dass die bisher vorhandenen Strukturen, etwa von Interpol, auf die Bedrohungen durch terroristische Gruppen nicht in geeigneter Form reagieren könnten, beziehungsweise zu schwerfällig seien.[21] Informationen über die genauen Tätigkeiten der verschiedenen TREVI-Akteure (unterhalb der Ministerebene) zu finden ist bis heute so gut wie unmöglich. Die Aktivitäten und Sitzungen waren von Anfang an geheim. Die Öffentlichkeit wurde einzig über einige Ergebnisse informiert. Bei den hier interessanten TREVI-Arbeitsgruppen 1 und 2 gilt dies sowohl für die Beteiligten auf Ministerebene als auch für die personellen Fragen und die Finanzierung. Eine demokratische Kontrolle, etwa durch das Europäische Parlament, war somit ausgeschlossen. Informationen über die Tätigkeiten der Gruppe wurden von Zeit zu Zeit lediglich freiwillig an die zuständigen parlamentarischen Stellen weitergeleitet. Die staatlichen Souveränitätsbereiche wurden nicht angetastet. Im gemeinschaftlichen Recht der Europäischen Gemeinschaft (EG) war TREVI bis zum Maastrichter Vertrag nicht verankert. Die Entscheidung über die Form der Mitwirkung blieb also den Regierungen der Einzelstaaten überlassen.[22] Die intergouvernemental angelegte Kooperationsform führte zu einer Dominanz von Vertretern der Exekutive in den Gremien. TREVI entwickelte sich in der Folge zu einem "policy-making network", das zumindest unter den Spezialisten zu einer "common culture"[23] führte. Die verschiedenen TREVI-Arbeitsgruppen gelten im Allgemeinen als Vorläufer der später im Vertrag von Maastricht errichteten gemeinsamen Polizeibehörde Europol, auch wenn letztere nicht als logische Folge in einer durch TREVI vorgezeichneten Entwicklung zu sehen ist.

Die europäische Antiterrorismus-Politik vor Maastricht (1992) kann mit einigem Recht lediglich als Ausdruck psychologisch-politischer Gesten an die jeweilige, nationale Bevölkerung gewertet werden. Für diese Sicht spricht, dass die Politik fast immer nur auf Anschläge etc. reagierte, während in "ruhigen Zeiten" praktisch keine Fortsetzung der Arbeit oder Intensivierung der Kooperation zu beobachten war. Andererseits muss man berücksichtigen, dass das gesamte System der verschiedenen europäischen Konventionen (wie der ECT) im größeren Kontext des Projekts eines europäischen Rechtsraums zu sehen ist, das sich zu dieser Zeit noch in der Gründungsphase befand.[24]

 

Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung in Europa 1975 bis 1992

26.06.1976 Rat Justiz und Inneres der EG: Beschluss zur Einrichtung der TREVI-Gruppen.
27.01.1977 Europarat: Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus in Europa (ECT).
04.12.1979

EG-Staaten: Dubliner "Übereinkommen über die Anwendung des Europäischen Übereinkommens zur Bekämpfung des Terrorismus."

nächste Seite