BITS Briefing Note 03.3
Dezember 2003
ISSN 1434-3282


Europas Antiterrorismus-Politik
- Entstehung, Entwicklung, Perspektiven -

von Daniel Messelken

 

1.4. Die Zukunft: Konventsentwurf für eine europäische Verfassung

Einen Ausblick auf zukünftig zu erwartende europäische Politik bietet der vom Europäischen Konvent erarbeitete Verfassungsentwurf für die Europäische Union.[67] Im endgültigen Entwurf des Vertrages einer Verfassung für Europa vom 18. Juli 2003 sind einige Passagen zu finden, durch die der "Kampf gegen den Terrorismus" in den Rang einer Verfassungsaufgabe gehoben wird. Diese in Europa bisher beispiellose Überbewertung des Gewichts der Antiterrorismuspolitik wäre noch Mitte 2001 völlig unvorstellbar oder zumindest ohne jede Chance auf breiten Konsens gewesen. Die wichtigsten, die Terrorismusbekämpfung betreffenden Punkte, sind größtenteils Neuerungen, die sich in den bisherigen Verträgen nicht finden. Bemerkenswert ist vor allem die Verschiebung des Fokus auf den internationalen und den militärischen Bereich. Der Großteil der explizit relevanten Verfassungsartikel und Durchführungsbestimmungen gehört in den Bereich der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) und nicht mehr, wie in den bisherigen Verträgen, zum Bereich der justiziellen und polizeilichen Kooperation zwischen den Mitgliedsstaaten. Angeknüpft wird also an die jüngeren Maßnahmen und Standpunkte des Rates, die eine Umverlagerung der Antiterrorismuspolitik in den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik zum Ziel hatten. Die lange Zeit vorherrschende Einschätzung, dass es sich beim Terrorismus um ein in erster Linie internes und damit der (europäischen) Innenpolitik zugehöriges Problem handle, scheint vor der Ablösung zu stehen.

Als wohl eindeutigste Reaktion auf die Anschläge vom 11.09.2001 ist der Artikel 42 in den Verfassungsentwurf eingefügt worden: die so genannte Solidaritätsklausel. Von einigen (kritischen) Stimmen auch als "Terrorismusklausel" bezeichnet, legt sie fest, dass die EU im Falle eines

"Terroranschlag[s] oder einer Katastrophe natürlichen oder menschlichen Ursprungs […] alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedsstaaten bereitgestellten militärischen (sic!) Mittel" mobilisiert. Und zwar "um terroristische Bedrohungen […] abzuwenden" oder Bürger und Institutionen "vor etwaigen Terroranschlägen zu schützen".[68]

Da die Terrorismusbekämpfung damit in den Bereich der ESVP eingeordnet wird, muss auch die "Solidaritätsklausel" eher als erster und entscheidender Schritt zu einer militärischen Beistandsklausel für den Fall terroristischer Anschläge gesehen werden. Besonders bedenklich ist die zitierte uneingeschränkte Solidarität, zumal wenn man die offensichtlich uneindeutige Festlegung ihrer Anwendungsfälle mitberücksichtigt, die auch in der Ausführungsbestimmung nicht klarer festgelegt sind. Dort heißt es lediglich, dass über die Modalitäten der Anwendung der EU-Ministerrat beschließen soll und dass sich die Mitgliedsstaaten zum Zweck der Hilfe absprechen.[69] In den Artikeln zur ESVP zeigt sich der Wandel hinsichtlich der Wahrnehmung von Terrorismus als eine mit militärischen Mitteln zu bekämpfende Bedrohung noch klarer. Diese soll laut Artikel 40 der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zugeordnet werden. Dabei sollte man auch die Durchführungsbestimmungen betrachten, die ganz am Ende des Vertragswerks zu finden sind und noch deutlicher werden, als der allgemein gehaltene Artikel 40.

"Die in Artikel I-40 Absatz 1 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstützung für Drittstaaten bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.[70]"

War in den so genannten Petersberg-Aufgaben, die bisher die Aufgaben der EU-Außenpolitik festlegten, der Bereich Antiterrorismus nicht eingeschlossen, so wird dieser im Verfassungsentwurf explizit erwähnt, das Aufgabenspektrum also erweitert.[71] Dies ist insofern von entscheidender Bedeutung, als auf diese Weise zumindest juristisch keine Hindernisse für militärische Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung jedweder Art mehr bestehen. Erneut scheint vor allem die spanische Präsidentschaft eine wichtige Rolle bei der Aufnahme dieser Forderung gespielt zu haben.[72] Besonders in dem Ausdruck "mit allen diesen Missionen" und dem darauf folgenden Abschnitt aus dem oben zitierten Paragraphen wird aber zugleich die Widersprüchlichkeit des Ansatzes deutlich und unwillentlich auf die Heterogenität und mangelnde Ausgereiftheit des Konzeptes verwiesen.

Nimmt man noch die vom Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), Javier Solana, zeitgleich mit dem Verfassungsentwurf vorgestellten Leitlinien für die europäische Sicherheitspolitik hinzu, wird die Zielrichtung noch deutlicher. Dort wird Terrorismus zunächst pauschal als "strategische Bedrohung" eingestuft (ohne dass er genauer beschrieben würde). Später werden auch die Grundzüge der bisherigen Verteidigungspolitik in Frage gestellt und eine Art offensive Verteidigung gefordert, die das eigentliche Konzept der Verteidigung ad absurdum führen würde:

"Unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung, das bis zum Ende des Kalten Krieges galt, ging von der Gefahr einer Invasion aus. Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen."[73]

Da die neuen Bedrohungen zudem "dynamischer Art" seien (was damit genauer gemeint ist, bleibt unklar), erhöhe sich die von ihnen ausgehende Gefahr, wenn ihrem Entstehen zu lange tatenlos zugesehen werde. Daher müsse "vor dem Ausbrechen einer Krise" gehandelt werden. Konflikten und Bedrohungen könne "nicht früh genug vorgebeugt werden." Schließlich gelte es "eine strategische Kultur [zu] entwickeln, die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen begünstigt."[74]

Die Bedeutung des Artikels 40 Absatz 3 des Konventsentwurfs – "Die Mitgliedsstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" – bekommt so ein völlig neues Gewicht. Abgesehen davon drängt sich die Frage geradezu auf, was ein derartige Absichtserklärung in einer Verfassung zu suchen hat.[75] Sicherlich sind in den neuen Entwürfen auch positive Ansätze enthalten, wie etwa die zivile Konfliktverhütung. Der Türöffner für den Paradigmenwechsel hin zu präventiven militärischen Aktionen gegen Terrorismus auch außerhalb des Gebiets der EU ist aber erschreckend offensichtlich und dominant.

Die wenigen Bestimmungen des Verfassungsentwurfs, die sich in Kontinuität zu der bisherigen Antiterrorismuspolitik (verstanden als Teilbereich der justiziellen Kooperation) befinden, stellen dagegen keine bedeutenden Weiterentwicklungen dar. Laut Artikel 41 und seinen Durchführungsbestimmungen im hinteren Teil der Verfassungsvorlage wird zwar eine weitere Harmonisierung der Rechtssysteme sowie die vollständige gegenseitige Anerkennung angestrebt. Dies alles sind aber Aufgaben und Ziele, die bereits Bestandteil bestehender Abkommen bzw. Vorhaben sind. Auffällig ist dagegen, dass in diesen Paragraphen die Terrorismusbekämpfung – anders als im Vertrag von Maastricht – nicht mehr explizit als Anwendungsfall erwähnt ist. Die Terrorismusbekämpfung wird nun dem Bereich der Außenpolitik, das heißt der intergouvernementalen Kooperation, zugeordnet. Implizit wird damit die von terroristischen Gruppen ausgehende Bedrohung als externe designiert. Die Vergemeinschaftung der Antiterrorismus-Politik wird damit zunächst einmal verschoben, die nationalen Regierungen behalten ihre Souveränität und ihren Einfluss weiterhin, genauso wie Kontrollmöglichkeiten durch das EP oder nationale Parlamente weiterhin beschränkt bleiben.

Im Vergleich zur bisherigen Praxis zeigt sich also auch hier ein deutlicher Wandel. Dies umso mehr, wenn man die oben gemachten Feststellungen zur qualitativen Veränderung der ESVP berücksichtigt. Beide Ergebnisse zusammengenommen lassen die Schlussfolgerung zu, dass eine deutliche Neuausrichtung der Antiterrorismuspolitik und damit einhergehend eine Neugewichtung der Zuständigkeiten angestrebt wird.

1.5. Resümee: Drei Arten der Terrorismusbekämpfung

Betrachtet man die Entwicklung der europäischen Antiterrorismuspolitik, so lassen sich drei Herangehensweisen identifizieren. Diese decken sich in weiten Teilen mit den Etappen der historischen Entwicklung, wie sie oben definiert wurden, das heißt von ca. 1970 bis zu den EU-Verträgen, der Abschnitt von Maastricht bis heute und die angestrebten Veränderungen gemäß des Verfassungsentwurfs.

Zunächst wird Terrorismus als gemeinsames, aber vorwiegend internes Problem wahrgenommen, dem auf dem Weg zwischenstaatlicher Kooperation via Abkommen begegnet wird. Bestes europäisches Beispiel hierfür ist die Konvention zur Terrorismusbekämpfung von 1977. Gegenmaßnahmen und damit die Bekämpfung des Terrorismus gehören in den Bereich der zwischenstaatlichen justiziellen Kooperation und gegenseitigen Hilfe ("legal assistance"). Die Schritte, die gegen terroristische Gruppierungen oder Personen unternommen werden, sind reaktiv und beziehen sich auf begangene Straftaten beziehungsweise deren Urheber. Prävention funktioniert in dieser Logik durch Abschreckung der potenziellen Täter durch die zu erwartende justizielle Verfolgung und Bestrafung.

Später, und dies ist die zweite Variante, wird die Kooperation, jedenfalls in der Theorie, zur justiziellen Integration erweitert beziehungsweise vertieft. Die zwischenstaatlichen Abkommen, die als Ziel zumeist die Auslieferung der Täter hatten, aber die jeweils nationalen Strafrechte nicht betrafen, werden durch gemeinsame Rechtsetzung bzw. die gegenseitige volle Anerkennung der Rechtssysteme ersetzt. Ziel dieser Vorgehensweise ist die Vereinheitlichung der Strafbarkeit und Strafmaße terroristischer Straftaten, um international agierende Gruppen grenzübergreifend verfolgen zu können und ihre Auslieferung zu vereinfachen. Das Auslieferungsverfahren wird nach der erfolgten gegenseitigen Anerkennung und erreichten Homogenisierung der Rechtsetzung durch einen gemeinsamen Haftbefehl ersetzt, und somit die Überstellung an das zuständige Gericht extrem vereinfacht.[76] Nach den Beschlüssen vom Juni 2002 befindet sich die EU zur Zeit auf dieser Stufe der Entwicklung.

Diese beiden Vorgehensweisen gegen den Terrorismus zeichnen sich dadurch aus, dass Antiterrorismuspolitik als ein Spezialfall der Bekämpfung der (organisierten) Kriminalität angesehen wird. Der Kampf gegen Terrorismus findet innerhalb des Rahmens der justiziellen Kooperation statt. Diese Varianten, offensichtlich vor allem die letztere, erfordern die Bereitschaft zum Souveränitätsverzicht durch Supranationalisierung und damit ein gewisses Maß an politischer Einigkeit und gegenseitigem Vertrauen. Dies vor allem deswegen, weil sie – wie oben gesehen – Kernbereiche staatlicher Souveränität berühren. In der EU hat der Ausbau dieser Ebene der Zusammenarbeit gut 30 Jahre in Anspruch genommen.

Die dritte Möglichkeit dem Problem Terrorismus zu begegnen, ist die von den USA vertretene Politik, der sich die EU gegenwärtig annähert. Terrorismus wird darin als primär militärische Bedrohung wahrgenommen. Seine Bekämpfung fällt somit vor allem in die Außen- und Sicherheitspolitik. Mittel der justiziellen und polizeilichen Kooperation kommen allenfalls sekundär, verknüpft zum Beispiel mit der Debatte um "Einsätze der Bundeswehr im Inneren", in Betracht und verlieren somit enorm an Bedeutung.[77] Vor allem bedeutet dies, dass neben den militärischen Mitteln auch die militärische Logik Anwendung auf den Bereich der antiterroristischen Maßnahmen findet. Besonders in der Bedrohungsanalyse und der Auswahl des Handlungszeitpunkts kommt es dadurch zu entscheidenden Verschiebungen, die zu einer deutlich "pro-aktiveren" Vorgehensweise führen, die auch präventive nicht-zivile Maßnahmen einschließt. Über die Erfolgsaussichten derartiger Aktionen herrscht weitgehend Uneinigkeit, sie werden jedoch allgemein skeptisch beurteilt. Inwieweit innerhalb der EU über derartige Herangehensweisen ein Konsens erzielt werden kann, muss sich erst noch zeigen. Auch hier werden schließlich genuin einzelstaatliche Souveränitätsaspekte berührt, jedoch mit dem Vorteil (der "Chance", wie es bei Solana heißt), dass es auch einen gemeinsamen externen Gegner gibt, auch wenn dieser von niemandem konkret benannt werden könnte.

2. Terrorismus-Debatte und Fortgang der europäischen Integration.


2.1. Stärkung der "Dritten Säule" (justizielle Kooperation)?

Die bisher verabschiedeten und umgesetzten europäischen Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung finden sich zumeist unter dem Stichwort der Kriminalitätsbekämpfung im Rahmen des "Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts", deren Gründung der Vertrag von Amsterdam bis zum Mai 2004 vorsieht. Das bedeutet, dass sie im Bereich der justiziellen und polizeilichen Kooperation angesiedelt sind und damit hauptsächlich die "Dritte Säule" der inner-EU-Beziehungen betreffen. Diese Entwicklung setzte sich auch in den von der EU nach dem 11.09.2001 beschlossenen Maßnahmen fort. Sowohl der Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung, inklusive der Definition, als auch der europäische Haftbefehl (EU-interne Auslieferung) und die unter anderem mit den USA abgeschlossenen externen Auslieferungsabkommen gehören zunächst zur internationalen polizeilich-justiziellen Kooperation.[78]

Institutionell bedeuten die bisher beschlossenen politischen Maßnahmen daher eine Stärkung der inner-europäischen und vor allem polizeilich-justiziellen Kooperation. In weiten Teilen wird diese bisher jedoch weiterhin als zwischenstaatliche Kooperation aufgebaut bzw. durchgeführt und der Schritt zur Schaffung gemeinsamer Zuständigkeiten und Vergemeinschaftung nicht oder nur selten gegangen. So wird etwa die gegenseitige Anerkennung der Rechtssysteme der Schaffung gemeinsamer Regeln vorgezogen. Die Aufgabe staatlicher Souveränität und deren Übertragung an EU-Institutionen steht nicht zur Debatte. Es bleibt eine Stärkung der intergouvernementalen Kooperation ohne großen Kompetenzgewinn für die EU.

Was fehlt, ist vor allem der politische Wille und die (Risiko-)Bereitschaft zur Umgestaltung der Zusammenarbeit hin zu einer echt vergemeinschafteten Politik. Das führt zu einem Beibehalten der komplizierten und langsamen bisherigen Kooperationsmechanismen. Die längeren Verfahren haben zwar durchaus berechtigte Kontrollfunktionen, gehen aber oftmals auf Kosten der Effizienz des gemeinschaftlichen Handelns. Entscheidungen über gemeinsame Maßnahmen müssen auch weiterhin einstimmig getroffen werden.[79] An diesem Prinzip, das noch für viele Bereiche der EU gilt, ist bisher nicht gerüttelt worden, auch wenn im Rahmen der Antiterrorismus-Politik die Notwendigkeit engerer und beschleunigter Kooperation erkannt worden ist. Es ist daher umso erstaunlicher mit welcher Geschwindigkeit die oben beschriebenen Maßnahmen auf intergouvernementaler Ebene trotz des Einstimmigkeitsgebotes durchgesetzt werden konnten, gerade auch in Anbetracht der Natur und Tragweite ihrer Inhalte.

Die verabschiedeten und umgesetzten Rahmenbeschlüssen haben zu einer Vereinheitlichung des europäischen Rechts und zu einer vereinfachten Kooperation zwischen den nationalen Justiz- und Polizeibehörden geführt: Die europäische Terrorismusdefinition belegt zumindest eine in ihren Grundlinien gemeinsame Problemanalyse, die als Baustein für eine gemeinsame Politik dienen dürfte. Mit dem europäischen Haftbefehl werden die bisher komplizierten und bürokratischen Auslieferungsabkommen innerhalb der EU abgeschafft und die rechtliche Integration vorangetrieben (wenn auch zunächst nur mittels gegenseitiger Anerkennung). Ob diese verstärkte und beschleunigte Kooperation allerdings auf den Einzelfall der Terrorismusbekämpfung beschränkt bleibt, oder ob die terroristischen Anschläge zu einem "riesigen Schritt vorwärts"[80] im Bereich der justiziellen und inneren Kooperation führen werden, kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht beurteilt werden.

Die Erfahrung zeigt jedoch, dass einmal aufgebaute Strukturen, auch wenn sie ursprünglich als Ad-hoc-Maßnahmen nur provisorischen Charakter hatten, eine Eigendynamik entwickeln können und äußerst selten wieder abgebaut werden.[81] Daher lassen die Rahmenbeschlüsse und die Erweiterung der Zuständigkeiten von Europol auch einen Trend zur echten Integration erkennen. Bei der Überführung der bisher für eine Übergangszeit geschaffenen Lösungen in dauerhafte, vergemeinschaftete Strukturen ist aber besonders darauf zu achten, dass demokratische Kontrollfunktionen (wieder) eingeführt werden und die zu schaffenden Rechtsstandards nicht lediglich die Institutionalisierung des kleinsten gemeinsamen Nenners bedeuten.[82]

Gegen eine stärker vergemeinschaftete Politik und gegen einen Trend zur Integration auf dem Bereich der Antiterrorismus-Politik spricht jedoch die Verlagerung dieses Aufgabengebietes in den parlamentarisch nicht kontrollierten Bereich der intergouvernmentalen Zusammenarbeit im Rahmen der ESVP. De facto wurden die Exekutiven gestärkt und die Vergemeinschaftung damit verhindert oder zumindest aufgeschoben.

In der Literatur unumstritten ist die Feststellung, dass die Anschläge vom 11.09.2001 als Katalysator gewirkt haben, durch den eine beschleunigte Verabschiedung und wohl auch eine Verschärfung vorgesehener Maßnahmen bewirkt worden ist. Nicole Gnesotto, Gründungsdirektorin des Instituts für Sicherheitsstudien der EU, bringt es mit der Diagnose "was unmöglich war, wird mehr als notwendig"[83] auf den Punkt. In der Folge dieser Entwicklung kann von einer Stärkung der europäischen Integration gesprochen werden, die sich in der gegenseitigen Anerkennung der Rechtssysteme genauso wie in den gemeinsamen Maßnahmen in bisher äußerst umkämpften Themenbereichen manifestiert.

Mittlerweile lässt sich feststellen, dass auf dem Gebiet des Antiterrorismus die "Gesetzgebungsmaschinerie schrittweise zu einem Stopp gekommen ist."[84] Dies kann zum einen daran liegen, dass die erreichten Regelungen als ausreichend und als der Bedrohungsanalyse angemessen angesehen werden. Zum anderen könnte es aber auch darin begründet sein, dass zur Zeit kein akuter Anlass gegeben ist, der Anstoß (oder Begründung) für weitere Schritte wäre. Nach den Anschlägen vom 15.11.2003 und 20.11.2003 in Istanbul, die die ersten schweren terroristischen Anschläge in Europa seit längerem waren und die zudem in einem potenziellen Anwärterland auf EU-Mitgliedschaft stattgefunden haben, bleibt offen, ob neue Entwicklungen in der Antiterrorismus-Politik zu erwarten sind. Sollte es Absichten oder Vorhaben für neue Maßnahmen schon vor den Anschlägen gegeben haben, wäre nun aus Sicht der Regierungen sicherlich ein eher günstiger Moment gekommen.

2.2. Stärkung der "Zweiten Säule" (GASP/ESVP)?

Im ersten Kapitel wurde aufgezeigt, dass Antiterrorismus-Politik in Europa lange Zeit hauptsächlich im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit angesiedelt war. Einerseits lag dies an der Natur und Analyse der Bedrohung, auf die die Staaten (-gemeinschaft) seit den 1970er Jahren reagierten. Andererseits könnte man in dieser Tatsache auch eine gewisse europäische (Nachkriegs-) Tradition sehen, gegen Bedrohungen der inneren Sicherheit zunächst und soweit irgend möglich mit zivilen Mitteln vorzugehen. Spätestens seit dem 11.09.2001 gibt es aber weltweit und auch innerhalb der EU Ansätze, die eine stärkere militärische und außenpolitisch orientierte Vorgehensweise gegen terroristische Bedrohungen befürworten, so auch z.B. Solanas "Sicherheitsstrategie für Europa". Ob dies nur ein Trend oder eine dauerhafte Abkehr von der "Zivilmacht Europa" ist, gehört zu den Fragen, denen nun kurz nachgegangen werden soll. Vor allem geht es um eine Bewertung der Frage, wie weit die Ereignisse der letzten beiden Jahre zu einer stärkeren Vereinheitlichung und Integration auf dem Gebiet der gemeinsamen Außenpolitik im Rahmen der "Zweiten Säule" geführt haben.

Stärker noch als bei der Beurteilung der Entwicklung innerhalb der "Dritten Säule" gehen die Meinungen zur europäischen Außen- und Sicherheitspolitik auseinander. Insbesondere auf die Frage, inwieweit von einer gemeinsamen europäischen Reaktion auf die Anschläge des 11.09.2001 gesprochen werden kann, scheint keine einheitlich Antwort zu existieren.

Insgesamt überwiegen zur Zeit die kritischen Stimmen, die die Meinung vertreten, dass es auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach dem 11.09.2001 nicht zu einer stärkeren Europäisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gekommen ist. Stellvertretend hält Howorth, unter dem Aspekt möglicher Vergemeinschaftung, fest:

"The most immediately notable feature of European responses to 11 September was renationalisation of security and defence reflexes."[85]

Angesichts der Ereignisse und der daraus schnell abgeleiteten neuen Bedrohungsszenarien, konzentrierte man sich im Bereich der Sicherheitspolitik zunächst auf die Ebene der Nationalstaaten, was in gewisser Weise als ein Fall von Desintegration verstanden werden kann, oder was zumindest auf die Gefahr eines Rückschrittes auf dem Weg zur Vergemeinschaftung hinweist. Zwar ließ eine gemeinsame Reaktion der EU nur einige Tage auf sich warten.[86] Jedoch kam es zuerst "nur" zu nationalen Erklärungen und bilateralen Gesprächen, zum Beispiel mit den USA. Auch wenn dadurch die Tatsache der später erfolgten gemeinsamen Reaktion nicht geschmälert wird, so zeigt sich doch, dass die EU selbst von ihren Mitgliedsstaaten eben noch nicht als vollwertiger internationaler Akteur angesehen wird.

Die GASP/ESVP bleibt weiterhin ein eher umstrittener Bereich der gemeinsamen Politik. Zu sehr stehen sich hier unterschiedliche Interessen und Auffassungen gegenüber. Sie ist zudem einer der Bereiche, in denen das Konkurrenzverhältnis zwischen intergouvernementaler Kooperation und vergemeinschafteter Politik besonders ausgeprägt ist. Deutlich hat sich dies Anfang 2002 etwa am Streit um die deutsch-französisch-britischen Dreiergipfel und die daraus erwachsende Diskussion um das so genannte Directoire gezeigt. Unübersehbar wurden die Differenzen schließlich in der Frage um den Irakkrieg, der bekanntermaßen zu einer außenpolitischen Spaltung der Union geführt hat.

Trotzdem lässt sich feststellen, dass innerhalb der EU-Staaten, nicht zuletzt durch die Ereignisse der letzten Jahre, zunehmend an die Notwendigkeit einer gemeinsamen Sicherheitspolitik geglaubt und diese immer ambitionierter verfolgt wird. Der 11. September 2001 spielt dabei als Auslöser von Diskussionen und Überlegungen unbestritten eine entscheidende Rolle - darf aber im Bereich GASP/ESVP nicht überbewertet werden.[87] Die Diskussionen in und um diesen Politikbereich sind wesentlich älter. Der Diskussionsrahmen ist daher auch in jüngster Zeit zum Beispiel durch die Festlegungen des Amsterdamer Vertrags von 1997 oder die Erfahrungen des Kosovo-Krieges von 1999 mit bestimmt.

"[B]ut in general the idea that the 11 September attacks have been a ‘moteur d’intégration accrue’ does not apply to the European Defence and Security Policy."[88]

Einer der Gründe dafür dürfte in der Tatsache liegen, dass bei Bedrohungen von Außen die Bürger "Schutz" bei den Nationalstaaten suchen, wie sie es "gewohnt" sind. Zumindest ist dies die verbreitete Einschätzung der Regierungen, die in derartigen Fällen ihre Fähigkeit, den Bürgen Schutz zu bieten, betonen. So lässt sich auch die oben erwähnte reflexartige nationale Reaktion auf den 11.09.2001 erklären. Gnesotto sieht daher die Gefahr einer für die Integration eher kontraproduktiven Entwicklung, wenn sich die Staaten zunächst auf eigene Maßnahmen und Kapazitäten konzentrieren:

"Risiken der Verwischung europäischer Integrationen existieren. Zunächst, weil jede Frage um Leben und Tod den Nationalstaaten eine verstärkte Legitimität und Autonomie zurückgibt. Kooperieren heißt nicht zwangsläufig integrieren. Der Kampf gegen den Terrorismus setzt auch einer Verstärkung der staatlichen Apparate […] voraus, die Bedrohung durch Attentate verstärkt das territoriale Zugehörigkeitsgefühl der Bevölkerungen, der Schutz der Bürger hebt das nationale Interesse wieder in den ersten Rang der Prioritäten."[89]

Auch wenn die Antiterrorismus-Politik und die zu ihr gehörigen Maßnahmen zunehmend von einem komplexen und international organisierten Netzwerk von Akteuren getragen und gestaltet werden, bleiben die Nationalstaaten doch häufig der eigentliche Bezugsrahmen.

"A complex, multilateral governance emerges, within which national sovereignty still prevails as the main framework of reference."[90]

Das Ziel und die Notwendigkeit einer integrierten, alle Wirkinstrumente der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten zur Terrorismusbekämpfung zusammenfassenden "Sicherheitspolitik aus einem Guß",[91] gerät dabei oft aus dem Blick und steht hinter den kurzfristigen Zuständigkeitsinteressen und Ressortegoismen der Akteure zurück.

Eine Stärkung der "Zweiten Säule" ist daher – wenn überhaupt – erst mittelfristig zu erwarten und setzt eine stärkere Identifikation der Nationalstaaten mit der EU voraus. Nur dann ist eine stärker vergemeinschaftete und weniger intergouvernemental ausgerichtete Politik denkbar und realisierbar. Fraglich bleibt dabei vor allem, inwieweit es gelingen wird, eine europäische Position unabhängig von und gleichzeitig im Dialog mit der USA zu definieren und welche Rollen dann einer eventuellen EU-Eingreiftruppe und der NATO zugewiesen werden. Die Stellung der EU wird dabei von der Kohärenz ihres Auftretens als internationaler Akteur abhängen.

3. Terrorismusbekämpfung als Gefahr für Demokratie und Menschenrechte in Europa.

Abschließend soll hier nur kurz auf einige Defizite und Probleme der europäischen Antiterrorismus-Politik eingegangen werden, obwohl ihnen eigentlich größere Aufmerksamkeit zugemessen werden müsste.

Wie aus dem zweiten Abschnitt hervorgeht, ist ein Hauptmangel der europäischen Antiterrorismuspolitik, dass eine gemeinsame, vergemeinschaftete Politik nicht in ausreichender Form erreicht werden konnte. Sie wird immer noch zu Gunsten der Souveränität der Einzelstaaten zurückgestellt und bleibt daher im Bereich der intergouvernementalen Zusammenarbeit. Gemessen an der vorherrschenden Risikoanalyse und der verbreiteten Einschätzung, dass nur ein gemeinsames und koordiniertes Vorgehen langfristig erfolgreich sein kann, besteht noch großer Handlungsbedarf. Zwar wird Terrorismus bereits als gemeinsame Bedrohung wahrgenommen und auch die Notwendigkeit einer kooperativen und kohärenten Gegenstrategie gesehen. Das zeigt sich beispielsweise in dem unter Leitung von Solana erarbeiteten Entwurf für eine europäische Sicherheitsstrategie.[92] In der Praxis bleibt es aber bei gemeinsamen Absichtserklärungen und dann der Bevorzugung nationaler Politiken. Die EU ist somit als internationaler Akteur sicherheitspolitisch nicht oder nur sehr bedingt handlungsfähig, was sich sowohl auf ihre externe als auch ihre interne Glaubwürdigkeit negativ auswirkt.

Dadurch bleibt die europäische Kooperation (die es ja, wie gesehen, gibt) dem intergouvernementalen Bereich zugeordnet. Die Folgen sind entsprechend: nationale Interessen können unter dem Deckmantel europäischer Notwendigkeiten verfolgt werden, und die demokratische Kontrolle durch das EP ist so gut wie aufgehoben. Davon profitieren in erster Linie die Regierungen bzw. Bürokratien. Sie können die Maßnahmen im Bereich Terrorismusbekämpfung mehr oder weniger an tagespolitisch aufkommenden Problemen ausrichten und gewinnen so ein erhebliches Maß an Flexibilität für ihre Handlungen.

Aber auch die gemeinsam beschlossenen und in Gesetze umgesetzte Maßnahmen eröffnen Probleme. So wird vielfach – und dies vollkommen zu Recht – bemängelt, dass in den neuen Regelungen, wie dem europäischen Haftbefehl, und der gemeinsamen Terrorismusdefinition die individuellen Menschenrechte und Grundfreiheiten nicht ausreichend geschützt sind. Es darf zumindest bezweifelt werden, ob bisher und nach der anstehenden Erweiterung der Union die Rechtssysteme innerhalb der EU gleichwertig sind, und Angeklagte in allen Staaten mit vergleichbaren Verfahren zu rechnen haben. Ein weiterer gewichtiger Kritikpunkt ist insbesondere die Aufweichung des Datenschutzes im Rahmen der justiziellen Kooperation, zum Beispiel über Europol und Eurojust.[93] Eine Aufweichung oder Gefährdung des Datenschutzes droht aber auch auf internationaler Ebene. Dies wurde zuletzt etwa in der Frage um die Weitergabe sensibler Passagierdaten (so genannte Passenger Name Records) an US- Behörden deutlich. Es ist höchst zweifelhaft, ob derartige Maßnahmen bzw. derartige Daten bei der Terrorismusprävention irgendeinen reellen Zweck erfüllen und den Ermittlern helfen können. Klar ist aber andererseits, dass zugesicherte Datenschutzbestimmungen verworfen werden, und zunehmend "gläserne Bürger" unter Generalverdacht gestellt werden.

Ebenso um die Verteidigung elementarer Grundrechte geht es bei der Kritik an der so genannten Terroristenliste. Diese seit Ende 2001 aufgestellte und regelmäßig aktualisierte und ergänzte Liste enthält die Namen derjenigen Einzelpersonen und Gruppen, bei deren Verfolgung die EU-Mitgliedsstaaten sich zur gegenseitigen Hilfe verpflichten. In diesem Fall bleibt unklar, welche Information zur Aufnahme auf die Liste führen, woher diese stammen und wie sich die betroffenen Personen und Gruppen gegebenenfalls gegen ihr Auftauchen auf der Liste gerichtlich wehren können. Dass im allgemeinen auch keine Beweise öffentlich gemacht werden, ist unter rechtsstaatlichen Maßstäben nur schwer zu vertreten und widerspricht dem Prinzip der Unschuldsvermutung.

Es besteht außerdem die mehr als reelle Gefahr, dass die Antiterrorismus-Politik als Deckmantel für Maßnahmen genutzt wird, zum Beispiel in den Bereichen der Asylpolitik, Grenzsicherung und Migrationskontrolle, die ansonsten mit europäischen Rechtsstandards und den Menschenrechtserklärungen nicht in Einklang zu bringen wären.[94] Ein Beispiel für eine derartig missbräuchliche Verwendung findet sich in einem Vorschlag, den die spanische Ratspräsidentschaft Anfang 2002 vorlegte. In diesem ging es um die Einrichtung eines "Standardformulars für den Austausch von Informationen über Vorfälle mit terroristischem Hintergrund."[95] Explizit ging es bei dem Vorschlag in erster Linie um den Austausch von Informationen über Demonstranten, z.B. der "Globalisierungsgegner". Dies wird nicht nur in der Formulierung des in mehreren Revisionen unterbreiteten Vorschlags deutlich, sondern auch durch die Tatsache gestützt, dass es bereits seit dem 17.09.2001 ein Standardformular zum Informationsaustausch über "echten" Terrorismus gab (dessen Erarbeitung vor dem 11.09.2001 begonnen worden war).[96]