BITS Briefing Note 00.4
June 2000
ISSN 1434-32
82

 

Ist die EU auf dem Weg zu einer eigenen sicherheitspolitischen Identität? Militärische und zivile Entwicklungen vor dem Gipfel von Feira

Ein Sachstandsbericht von Nadja Westphal

 

 

Europäische Sicherheit - Qui bono?

Die europäische Zielsetzung, eigenständige Handlungsoptionen für ein militärisches Krisenmanagement im Rahmen der zur Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GESVP) erweiterten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zu schaffen, hat Befürchtungen auf Seiten der USA hervorgerufen. Washington sieht das Primat der NATO als militärischer Akteur unter seiner Führung im euro–atlantischen Raum in Gefahr und will sicherstellen, daß die Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsindentität (ESVI) vor allem zur Stärkung der militärischen Fähigkeiten des transatlantischen Bündnisses beiträgt.

Erste konkrete Schritte auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik hat der Europäische Rat auf dem Helsinki-Gipfel im Dezember 1999 mit dem Beschluß des militärischen Leitziels eingeleitet: Bis zum Jahr 2003 soll der Aufbau einer Schnellen Eingreiftruppe, die im Rahmen der "Petersberg–Aufgaben"1 agieren soll, abgeschlossen sein. Die EU will dann in der Lage sein, im Krisenfall innerhalb von 60 Tagen, Streitkräfte im Umfang von bis zu 60.000 Soldaten einzusetzen und ihr militärisches Engagement für mindestens ein Jahr aufrecht zu erhalten. Europa soll auf diesem Wege eine größere Eigenständigkeit und Autonomie erhalten und zum militärischen Eingreifen bei Krisen vor allem dann befähigt werden, wenn die USA sich an einem solchen Schritt nicht beteiligen wollen. Zugleich soll mit dem Aufbau solcher Fähigkeiten das Gewicht Europas in der NATO gestärkt werden.

Das jüngste Außenminister-Treffen der NATO am 24./25. Mai in Florenz hat erneut deutlich gemacht: Die Initiative der EU–Staaten und die Reaktionen aus den USA belasten die transatlantischen Beziehungen. Die Differenzen über Ziel und Ausrichtung der Stärkung Europas im transatlantischen Verbund sind keinesfalls ausgeräumt.

 

Zwischen Konsultation und Veto

Am 19. und 20. Juni treffen sich die EU– Staats– und Regierungschefs im portugiesischen Santa Maria da Feira. Vorschläge zur Fortentwicklung der europäischen militärischen Krisenmanagementfähigkeiten, die unter der laufenden Präsidentschaft gemacht worden sind, sollen be-wertet und wichtige, unter der nachfolgenden französischen Präsidentschaft zu treffende Entscheidungen vorbereitet werden.

Der Europäische Rat wird im wesentlichen über drei Themenbereiche entscheiden: die EU-NATO Beziehungen, die Einbindung von Drittstaaten in EU–Aktivitäten des Krisenmanagements und schließlich gegebenenfalls erforderliche Änderungen des EU–Vertrages, um die neu zu schaffenden Entscheidungsstrukturen rechtlich abzusichern. Zur Zeit überarbeitet eine EU-Regierungskon-ferenz den Europäischen Vertrag mit dem Ziel einer institutionellen Reform, um die Union auf ihre Erweiterung vorzubereiten. In diesem Prozeß, der mit dem EU-Gipfel in Nizza Ende dieses Jahres abgeschlossen werden soll, will man erforderliche Änderungen mit behandeln.

Der Europäische Rat in Feira soll ein Rahmenwerk für die künftigen EU– NATO Beziehungen schaffen. Damit will die Europäische Union dem Drängen der USA nachkommen, künftiges EU-Krisenmanagement an Entscheidungen der NATO zu koppeln. Damit soll verbindlich sicher gestellt werden, daß die EU nicht gegen den Willen Washingtons agiert. Die USA verfolgen das Streben der EU nach eigenständigen, militärischen Strukturen und Fähigkeiten – die parallel zu jenen der NATO entstehen könnten – mit nicht unerheblichem Mißtrauen. Die Europäer wiederum sind realistisch genug, um zu wissen, daß ihre künftige Schnelle Eingreiftruppe vorerst nicht in der Lage sein wird, ohne Rückgriff auf die Kapazitäten der NATO – dies sind im wesentlichen solche der USA - agieren zu können. Eine Verzahnung der Strukturen beider Organisationen wird deshalb auch von vielen EU-Mitgliedern für notwendig gehalten. Allerdings wollen sie – gerade auch im Blick auf die Zukunft – den USA zwar ein Mitspracherecht, nicht aber ein generelles Mitentscheidungsrecht oder gar Vetorecht einräumen.

Die Entscheidung fällt bei den Beratungen über einen Vorschlag der portugiesischen Präsidentschaft zur Formalisierung der Konsultationen zwischen der EU und der Allianz. In den transatlantischen Beziehungen soll künftig eine Art Gleichgewicht herrschen, in dem die EU und die NATO als "mutually reinforcing organisations" also als sich gegenseitig verstärkende Organisationen handeln.

Aus europäischer Sicht gilt es mit Blick auf die EU-NATO Arbeitsteilung, im Falle eines militärischen Kriseneinsatzes mit Rückgriff auf NATO–Einrichtungen, die Autonomie der EU-Entscheidungen in Übereinstimmung mit den zu entwickelnden Regelungen für "Konsultation, Kooperation und Transparenz" zu bewahren. Inwieweit dies gelingt, wird sich zeigen, wenn die EU konkrete Konsultationen mit der NATO beginnt. Für diesen Prozeß ist zur Zeit die Einrichtung von vier bilateralen Arbeitsgruppen vorgesehen.

Darüber hinaus ist bei der künftigen Durchführung eigenständiger Militäreinsätze der EU vor allem die Einbindung der europäischen NATO–Mitglieder, die nicht EU–Mitglieder sind, zu klären. Diese könnten Interesse an einer Beteiligung an einem solchen Einsatz haben. Diese sechs Länder (Polen, Ungarn, Tschechien, die Türkei , Norwegen und Island) fordern "to be included in the project as equal partners, not only as a matter of principle(...)"2.

Die EU–Staaten wiederum wissen, daß sie, um auf NATO-Kapazitäten zurückgreifen zu können, die Zustimmung aller 19 NATO–Mitgliedstaaten benötigen. Die sechs Nicht–EU–Mitglieder sollen deshalb nach den Vorstellungen der portugiesischen Präsidentschaft in Konsultationen der EU zu Fragen des militärischen Krisenmanagements eingebunden werden, das spiegelt den Gedanken der "inclusiveness" gerade im Blick auf die künftigen neuen EU-Mitglieder wieder.

Die Union ist sich jedoch einig darüber, daß die sogenannten Drittstaaten nicht vollständig in EU-Entscheidungsprozesse einbezogen werden sollen. Allein die Vollmitglieder entscheiden, ob und wann die EU Aufgaben des militärischen Krisenmanagement übernimmt. In Entscheidungen über die konkrete Durchführung solcher Maßnahmen können auch andere Staaten mit einbezogen werden, wenn sie sich an dieser Operation beteiligen. Dasselbe Prinzip gilt auch für die neun EU–Beitrittskandidaten. Sie werden in die Beratungsgespräche eingebunden.

Zu diesem Zweck hat die portugiesische Präsidentschaft vorgeschlagen, ein "European Security and Defense Framework" einzurichten, in dem sich die geplanten Entscheidungsstrukturen der EU spiegeln. Auch in den Formaten 15+6 (also EU und NATO-Staaten) sowie 15+15 (EU- und NATO-Staaten plus Beitrittskandidaten) sollen ein Ministerrat, ein "Political and Security Committee", ein Militärausschuß und ein militärischer Stab entstehen und die Mitwirkung der Nicht-EU-Mitglieder institutionell absichern. Von diesen Staaten wird auch erwartet, daß sie zum Leitziel der EU für Streitkräfte beitragen. Dabei ist eine engere Zusammenarbeit mit den sechs NATO-Staaten als mit den anderen EU-Beitrittskandidaten vorgeschlagen worden.

Die Vorstellungen für eine Kooperation mit Rußland und der Ukraine – jenen Staaten, denen die EU Zusammenarbeit beim Krisenmanagement im Kontext "Gemeinsamer Strategien" der Union offeriert hat – bleiben merkwürdig vage. Im März war die Option einer Zusammenarbeit nach Vorstellungen der portugiesischen Präsidentschaft nur für jene Fälle angedacht, in denen die EU ohne Rückgriff auf Mittel der NATO operiert. Beteiligen sich Rußland oder die Ukraine aber an einer EU-geführten Operation, dann sind auch sie – wie die EU-Staaten und alle anderen Beteiligten – zur gleichberechtigten Mitarbeit in den Ad-Hoc Strukturen der am Einsatz Beteiligten berechtigt. Die formale Billigung der Konsultationsmechanismen der EU soll in Feira erfolgen.

 

Zivile und militärische Mittel

Nach wie vor besteht innerhalb der Union Klärungsbedarf, in welchem Verhältnis militärische und nicht-militärische Instrumente des europäischen Krisenmanagements zueinander stehen sollen.

Nachdem die finnische Präsidentschaft in Helsinki mit ihren Vorstellungen für einen möglichst gleichgewichtigen Ausbau militärischer und nicht-militärischer Instrumente des Krisenmanagements gescheitert war, erging der Auftrag des Europäischen Rates an den portugiesischen EU-Vorsitz, die Fortentwicklung der zivilen Fähigkeiten und vor allem deren institutionelle Fortentwicklung als komplementäre Ergänzung zu den militärischen Kapazitäten voran zutreiben.

Zwei Berichte zu den zivilen Aspekten des europäischen Krisenmanagements werden in Feira vorgelegt. Einerseits geht es um das Aufstellen konkreter Zielsetzungen im Bereich der zivilen Fähigkeiten und andererseits um eine spezifische Zielsetzung für internationale "civilian policing capabilities".

Der Bereich des zivilen Krisenmanagements soll Polizei, Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen, Zivilschutz im Rahmen humanitärer Hilfeleistung und Aufbau ziviler Verwaltungsstrukturen umfassen. Deren Aufbau und konzeptionelle Aufgaben soll ein Ausschuß für die nicht-militärische Krisenbewältigung lenken. Dieser Ausschuß soll nun in Feira eingesetzt werden, nachdem Schweden dies schon in Helsinki vorgeschlagen hatte.

Ein weiterer Schritt soll durch die Schaffung einer sogenannten Rapid Reaction Facility (RRF) getan werden. Diese soll eine schnelle bzw. kurzfristige Mobilisierung der zivilen Ressourcen der EU für das Krisenmanagement sicherstellen und die Funktion eines Lagezentrums erfüllen. Die EU-Kommission hebt mit diesem Vorschlag die Bedeutung der zivilen EU-Kapazitäten hervor und versucht, eine effizientere Einsatzstruktur zu schaffen. Mit den Worten des Kommissars für die EU–Außenbeziehungen: Chris Patten, "Conflict prevention, removing the root causes of conflicts themselves and conflict management are at the heart of the EU´s and the Commission´s Foreign and Security Policy Agenda"3.

Zu den Aufgaben der RRF sollen u.a. die Überwachung von Grenzen, die Ausbildung von Polizisten, die Beobachtung von Wahlen, die Räumung von Minenfeldern und der Aufbau von zivilen Institutionen gehören.

Aus dem NATO–Umfeld verlautet, daß die Allianz der RRF positiv gegenüber steht: eine Ergänzung zwischen NATO– Streitkräften und potentieller europäischer "army of civilian experts" wäre für die Allianz bei Einsätzen wie im Kosovo eine willkommene Entlastung von der Wahrnehmung ungeliebter nicht-militärischer Aufgaben, die aus militärischer Sicht lediglich "Kräfte binden"

Der Gipfel in Feira soll somit die übermässige Betonung des militärischen Krisenmanagement während des Helsinki-Gipfels ausgleichen. Gerade gegenüber der Öffentlichkeit sollen nicht-miltärische Kapazitäten der EU im Bereich Krisenmanagement betont werden.

Bis zum Herbstgipfel des Europäischen Rates soll geklärt werden, wie das militärische Leitziel von Helsinki erreicht werden kann. Dazu soll auf einer "Geberkonferenz" festgelegt werden, welche Staaten zu welchen militärischen Beiträgen bereit sind. Zudem soll in Zusammenarbeit mit den EU–Verteidigungsministern unter Hochdruck die Entwicklung von "collective capability goals" in den Bereichen Streitkräfteführung, strategische Aufklärung und strategischer Transport vorangetrieben werden – eine Europäische Defense Capabilities Initiative. Damit sollen längerfristig die autonomen Handlungsoptionen der EU bei der militärischen Krisenbewältigung erweitert werden. Vorbereitende Entscheidungen wurden z.B. auf dem deutsch-französischen Gipfel am 9. Juni 2000 mit dem Beschluß für den Bau eines Militärtransportflugzeuges (Airbus A400M) und im Hinblick auf die Erweiterung der europäischen Aufklärungskapazitäten getroffen.

Vor diesem Hintergrund erscheint eine Balance zwischen ziviler und militärischer Komponente des europäischen Krisenmanagements zumindest fragwürdig.

 

Auf dem Weg nach Nizza

Wegweisende Entscheidungen in der europäischen Sicherheits – und Verteidigungspolitik werden für die zweite Jahreshälfte unter französischer Präsidentschaft erwartet:

Wie könnte die weitere Ausgestaltung des europäischen Krisenmanagements aussehen? Im Spektrum der EU-Positionen fordern vor allem die Franzosen die Weiterentwicklung der autonomem militärischen Kapazitäten, so z.B. den Aufbau spezifischer europäischer Kräfte, die unabhängig von der NATO zum Einsatz gebracht werden können. In diesem Kontext kommt der Entscheidung über die Zukunft der WEU große Bedeutung zu, insbesondere der Frage, ob diese Institution erhalten bleibt und welche ihrer Ressourcen und Kompetenzen auf die EU übertragen werden. Das Streben nach Minimierung der Einflußmöglichkeiten der NATO auf EU-Entscheidungen und damit der US–Führungsrolle wird weiter für Konfliktstoff im euro–atlantischen Verhältnis sorgen.

Langfristig wollen die Europäer in der Lage sein, eine dem Kosovo–Einsatz vergleichbare Intervention durchzuführen, ohne auf die Unterstützung der NATO angewiesen zu sein. Dies ist für die EU-Staaten eine Frage der Emanzipation von den USA.

 

Endnoten:
1 Diese umfassen: humanitäre Einsätze, Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen
2 Peter Finn Six in NATO upset over EU corps plan, The Washington Post, 09. April 2000.
3 EU Commission proposes new rapid reaction facility for crisis management, http.//www.eurunion.org/news/press/2000/2000019.htm

 

Nadja Westphal arbeitet während eines Forschungsaufenthaltes beim BITS.

 

 


BITS dankt der Ford Foundation und der W. Alton Jones Foundation für ihre Unterstützung unserer Arbeit.