Wissenschaft & Frieden
02/2000

 

Zurück in die Zukunft? - Rußland und seine Nuklearwaffen

  Otfried Nassauer

 

"Rußland senkt Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen" meldete die französische Nachrichtenagentur afp am 14. Januar. Kaum im Amt, habe der neue russische Interimspräsident, Vladimir Putin, am 10. Januar eine neue "Konzeption der nationalen Sicherheit" in Kraft gesetzt. Das Papier sieht den "Einsatz aller Rußland zur Verfügung stehenden Kräfte und Mittel, einschließlich von Kernwaffen" vor, "wenn bei Notwendigkeit der Abwehr einer bewaffneten Aggression alle anderen Maßnahmen zur Krisenbeilegung ausgeschöpft wurden und sich als uneffektiv erwiesen" haben. Das Papier, so viele westliche Beobachter, erlaube nicht nur den auch von der NATO offengehaltenen Ersteinsatz nuklearer Waffen, sondern lasse erkennen, daß Moskau angesichts der Schwäche seiner konventionellen Streitkräfte davon ausgehe, Atomwaffen künftig früher einsetzen zu müssen.

Das Dokument ist die politische Grundlage für die Verabschiedung einer neuen Militärdoktrin, die im März politisch gebilligt werden soll. Deren Entwurf veröffentlichte am 9. Oktober 1999 die Zeitung "Krasnaja Swesda". Er beschreibt die Rolle nuklearer Waffen etwas präziser, soll aber erst im März 2000 in endgültiger Fassung verabschiedet werden:

Rußland sehe diese Waffen als "wirksamen Faktor der Abschreckung von Aggressionen, der Gewährleistung von militärischer Sicherheit der Russischen Föderation und ihrer Verbündeten sowie der Aufrechterhaltung der internationalen Stabilität und des Friedens." Mit dem russischen Nuklearpotential müsse "jedem Aggressor-Staat oder jeder Staatenkoalition unter beliebigen Lagebedingungen ein befohlener Schaden garantiert zugefügt werden können."

Der Entwurf der Militärdoktrin wiederholt die Negative Sicherheitsgarantie, die Rußland 1995 den nicht-nuklearen Mitgliedern des Nichtverbreitungsvertrages gegeben hatte: Rußland werde gegen Staaten, "die nicht über Kernwaffen verfügen keine Kernwaffen einsetzen, es sei denn, ein solcher Staat verwirklicht oder unterstützt gemeinsam mit einem Kernwaffenstaat oder als dessen Verbündeter eine Invasion oder einen beliebigen anderen Überfall gegen die Russische Föderation, ihr Territorium, ihre Streitkräfte oder anderen Truppen, ihre Verbündeten oder gegen einen Staat dem gegenüber sie Sicherheitsverpflichtungen hat."

Rußland behalte sich aber "das Recht auf die Anwendung von Kernwaffen vor – sowohl in Antwort auf den auf den Einsatz von Kernwaffen und anderen Massenvernichtungswaffen gegen sie oder ihre Verbündeten als auch, in kritischen Situationen für die nationale Sicherheit der Russischen Föderation und ihre Verbündeten, als Antwort auf eine Aggression großen Maßstabs mit konventionellen Waffen."

Per definitionem stellt der Einsatz nuklearer Waffen gegen einen "nur" mit biologischen und chemischen Waffen ausgestatteten Gegner einen Ersteinsatz dar, ebenso der Einsatz in Antwort in Reaktion auf einen großen konventionellen Angriff. Letzteres war auch die Strategie der NATO während der letzten zwanzig Jahre des Kalten Krieges, als davon ausgegangen wurde, Moskau sei dem Westen konventionell deutlich überlegen. Bislang aber haben lediglich die USA in ihrer nationalen Strategie die Option offengehalten, Nuklearwaffen gegen die Besitzer von biologischen und chemischen Waffen einzusetzen. Washington bedrängt die NATO seit Jahren, dies auch in die Bündnisstrategie aufzunehmen - ein politisch höchst heikles Unterfangen, da ein solcher Einsatz nicht nur gegen die Vorgehen nicht nur gegen die Negativen Sicherheitsgarantien von 1995 verstoßen würde, sondern - sollte dabei die nukleare Teilhabe im Rahmen der NATO zur Anwendung kommen - auch eine direkte Verletzung der Artikel I und II des Nichtverbreitungsvertrages darstellen würde. Nun scheint auch Moskau eine solche Erweiterung der Funktion nuklearer Waffen zu planen. Dort scheint man sich aber nicht bewußt zu sein, daß die Negativen Sicherheitsgarantien keine Ausnahme für Staaten machen die biologische oder chemische Waffen besitzen. Sonst müßte es doch verwundern, warum die Wiederholung der Garantien und die erweiterte Funktion nuklearer Waffen direkt aufeinander folgen. Die Entwicklung in den Nuklearwaffenstaaten hin zu einer Erweiterung und damit Relegitimation nuklearer Waffen wirft zudem die Frage auf, welche weitergehenden, negativen Folgen für den NVV entstehen, der im April und Mai zur Überprüfung ansteht.

Zugleich machen die Konzeption nationaler Sicherheit und der Entwurf der Militärdoktrin aber auch deutlich, daß Nuklearwaffen eine vor allem politische, den Weltmachtstatus Russlands abstützende Funktion haben und ein klassisches Abschreckungsdenken unter dem Vorzeichen einer gesicherten Zweitschlagsfähigkeit vorherrscht.

Zahlenmäßig wirkt das russische Nuklearpotential auf den ersten Blick weiterhin imposant. Rußland verfügte im vergangenen Jahr nach den Zählregeln des START-Vertrages noch über mehr als 6.500 strategische Atomsprengköpfe, für die 756 Interkontinentalraketen, 592 U-Boot-gestützte Raketen und 74 Langstreckenbomber als Trägersysteme existierten. Es gelang der russischen Föderation eine neue Langstreckenrakete vom Typ SS-27 zu entwickeln und – wenn auch deutlich langsamer als vorgesehen - bei den Streitkräften einzuführen. Jüngst wurde mit der Ukraine vereinbart, daß dort nach dem Zerfall der Sowjetunion verbliebene strategische Blackjack-Bomber im Tausch gegen ukrainische Energieschulden nach Rußland überführt werden. Der Papierform nach ist Rußlands strategische Nuklearmacht damit nur wenig schwächer als die USA, deren Trägersysteme knapp 8.000 Sprengköpfe tragen konnten.

Doch geben diese Zahlen Aufschluß über das einsetzbare strategische Nuklearpotential Rußlands? Ganz sicher nicht. Dies liegt zu einen daran, daß die Sprengkopfzahlen "nach START" zum Teil theoretischer Natur sind. Zum anderen muß berücksichtigt werden, daß jedes Trägersystem (und seine Sprengköpfe) solange mitgezählt werden, bis es verifiziert eliminiert ist. Somit sind diese Zahlen vor allem im Blick auf die russische Seite, die bei der teuren Nuklearabrüstung deutlich hinter den USA hinterherhinkt - deutlich zu hoch. Rußland verfügte zwar angeblich noch über 592 U-Boot-gestützte Raketen, es kann jedoch nur mit Mühe jederzeit je ein U-Boot zu Patrouillen im Nordmeer und im Pazifik aussenden. Die Zahl einsetzbarer strategischer Nuklearwaffen bei den Russischen Streitkräften sinkt zudem durch den natürlichen Alterungsprozeß rasch immer weiter ab. Um 2008 - so die verbreitete Annahme - wird Rußland allein deshalb vermutlich über deutlich weniger als 1.800 einsetzbare strategische Nuklearsprengköpfe verfügen. Russische Sprengköpfe haben aus technischen Gründen einen Lebensdauerzyklus von etwa 10-15 Jahren, amerikanische einen von etwa 30 Jahren. Klar und allgemein akzeptiert ist: Rußland verfügt nicht über die Mittel, ebensoviele Sprengköpfe und vor allem Trägersysteme nachzuproduzieren, wie wegen Überalterung außer Dienst gestellt werden müssen.

Unklarheit herrscht auch über die Zahl taktischer, Nuklearwaffen die Russische Föderation weiterhin einsatzbereit hält. Anders als im Bereich strategischer Waffen gibt es hier bislang keine vertraglichen, Transparenz und Datenaustausch vorschreibenden Regelungen. Auf westliches Drängen, über diese Waffen z.B. im Rahmen des NATO-Rußland-Rates zu einem Informationaustausch zu kommen, reagierte Moskau eher zugeknöpft. Die Reduzierung taktisch nuklearer Waffen nach dem Ende des Kalten Krieges erfolgte weitestgehend auf Basis einseitiger Schritte, die beide nuklearen Supermächte 1991/92 angekündigt haben. Im Westen herrschen vielerorts Zweifel, ob Rußland seinen einseitig übernommenen Verpflichtungen vollständig nachgekommen ist oder konnte.

Um die zehntausend taktische Nuklearwaffen vermuteten manche westlichen Analytiker vor wenigen Jahren noch in Moskaus Arsenalen und befürchteten, daß hier ein signifikantes Ungleichgewicht zu den USA entstanden sei. Dort sollen nur noch etwa 1.000 taktische Nuklearwaffen im Dienst gehalten werden. Rußland dürfte heute kaum über mehr als 5.000 taktische Nuklearwaffen verfügen; viele dieser Waffen sind zudem zur Delaborierung vorgesehen. Schon 1997 bezifferte der kenntnisreiche stellvertretende Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Alexei Arbatov, die Zahl der im Dienst verbliebenen taktischen Nuklearwaffen auf 3.800. Andere russische Wissenschaftler schätzten das verbliebene Potential 1998 auf ingesamt 5.700 Sprengköpfe. Einig sind sich allerdings die meisten Beobachter, daß im neuen Jahrtausend die Zahl der einsetzbaren taktischen Nuklearwaffen schnell auf etwa 1.000 Systeme absinken dürfte. Dies auch deshalb, weil sich Rußland bei Modernisierung und Neuproduktion von Sprengköpfen auf den Erhalt seiner strategischen Nuklearfähigkeit konzentriert und die verfügbaren Ressourcen hier konzentriert. Ein größeres Programm zur Modernisierung der taktischen Nuklearwaffen Rußlands - immer wieder einmal tauchte das Gerücht auf, der Bau von bis zu 20.000 neuen Mini-Nuklearwaffen sei geplant - hat sich bislang nicht bestätigen lassen.

Diese Trends haben Auswirkungen auf die von manchen westlichen Analytikern befürchtete Umsetzung einer russischen Variante der NATO-Strategie der flexiblen Antwort. Die dafür erforderliche einsatznahe Stationierung taktisch nuklearer Waffen zur Unterstützung konventioneller Operationen würde Rußland vor nicht unerhebliche Probleme stellen. Viele der während des Kalten Krieges von den sowjetischen Streitkräften genutzten Depots liegen außerhalb des heutigen Rußlands. Nicht selten waren dies die moderneren, besser ausgestatteten Depots. Dort, wo Rußland heute taktische Nuklearwaffen mit operativem Nutzen stationieren müßte, gibt es dagegen oft keine geeigneten, reaktivierbaren Lager für diesen Bestimmungszweck. Sie müßten mit hohen Kosten neu eingerichtet werden.

Schließlich ist zu berücksichtigen: Die deutlichen Worte, die mancher russische Politiker zur erweiterten Rolle nuklearer Waffen verliert sind oft auch vor einem anderen Hintergrund zu lesen —Mit diesen Äußerungen stützt Rußland seine Ansprüche auf Mitspracherechte bei Fragen der europäischen und internationalen Sicherheit, seine Rolle als Großmacht und - innenpolitisch gedacht - als den USA ebenbürtige Supermacht, an der man nicht vorbei kann. Oft zeigt dies auch außenpolitische Wirkungen – die westliche Presse reagiert und verstärkt damit den Glauben, daß Rußlands Nuklearmacht Rußlands Einfluß in der Welt garantiert.

Diese wirklichen Interessenslagen Moskaus spiegeln sich dagegen eher im rüstungskontrollpolitischen Verhalten. Der Kreml ließ trotz des tiefen Konfliktes mit der NATO wegen des Kosovo-Einsatzes die Verhandlungen über ein KSE 2 Abkommen nicht scheitern. Und trotz der immer wieder vertagten Ratifizierung des START-2 Abkommens durch die Duma werden weiterhin bilaterale technische Gespräche mit den USA über ein künftiges START-3 Abkommen geführt. Die Absicht START-II in Rußland durchzusetzen wurde nie aufgegeben.

Die Vorgespräche für ein START-III Abkommen fußen auf den Grundlagenvereinbarungen zwischen den Präsidenten Jelzin und Clinton während des Helsinki-Gipfels 1997, in der u.a. auch festgelegt wurde, über die Problembereiche "verifizierbare Abrüstung atomarer Sprengköpfe" und "taktische Nuklearwaffen" zu verhandeln. Sie werden in Genf geführt.

Die in Helsinki vereinbarte künftige Obergrenze für die Zahl erlaubter Atomwaffen ist aus russischer Sicht mit 2.000- 2.500 zu hoch; Rußland möchte die Zahl auf maximal 1.500 beschränkt wissen. Eine solche Absenkung war seitens der USA bislang für ein viertes START-Abkommen ins Auge gefaßt worden. Deutlich spiegelt sich das russische Interesse, Kosten für die Modernisierung und Aufrechterhaltung seines strategischen Nuklearpotentials zu sparen.

Unklar ist derzeit, ob und welche Fortschritte bei diesen Gesprächen bereits Fortschritte in den Frage der Einbeziehung taktischer Nuklearwaffen und des verifizierbaren Sprengkopfabbaus erzielt wurden.

Ähnlich wie im Bereich strategischer Waffen muß Rußland an weiteren, signifikanten Reduzierungen gelegen sein. Nur so lassen sich die Kosten für eine teure Modernisierung sparen. Nur so kann das russische Interesse, die US-Nuklearwaffen der NATO in Europa, die Rußland als strategische, weil russisches Territorium bedrohende Waffen, sehen muß, durch Rüstungskontrolle zu beseitigen, gewahrt werden.

Ob und welche Fortschritte aber in diesen Verhandlungen insgesamt erreicht werden können, wird sich nicht zuletzt daran entscheiden, ob Moskau und Washington Einigung über die Zukunft des ABM-Vertrages erzielen können. Dieser Vertrag ist aus Moskauer Sicht das Fundament aller bilateralen Verträge, mit denen die Zahl strategischer Atomwaffen begrenzt werden. Er sichert, daß der Gegner verwundbar bleibt und es darf deshalb nicht verwundern, wenn russische Politiker oder Regierungsmitglieder immer wieder einmal damit drohen, daß Rußland sich bei einem Ausscheiden Washingtons aus dem ABM-Vertrag automatisch nicht mehr an die Verträge über die Begrenzung strategischer Nuklearwaffen gebunden fühle.

Unter Putins Präsidentschaft könnte Rußland allerdings bereits sein, den USA auf dem Weg zu einem Kompromiß bei START-III und ABM-Vertrag sichtbar entgegenzukommen. Dies macht eine der selten beachteten Veränderungen deutlich, die Putin an Jelzin's Konzept der nationalen Sicherheit vornehmen ließ: In der Fassung Jelzins vom 5. Oktober 1999 lautet die entscheidende Passage: Die Außenpolitik Rußlands ist auszurichten "auf das Erreichen eines Fortschritts im Bereich der Kontrolle über Kernwaffen, die Aufrechterhaltung strategischer Stabilität und den Erhalt und die Festigung des Vertragsregimes von 1972 zur Begrenzung der Raketenabwehrsysteme." (Nesawisimoje wojennoje obosrenije, Nr 46 (169), 26.11.1999) Unter Putin wird bereits zehn Tage nach Übernahme der Interims-Präsidentschaft Kompromißbereitschaft signalisiert: Hier lautet das Ziel "die Anpassung der existierenden Vereinbarungen über Rüstungskontrolle an die neuen Bedingungen in den internationalen Beziehungen". (Nesawisimoje wojennoje obosrenije 14.1.2000, http://nvo.ng.ru/concepts/2000-01-14/6_concept.html )

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS). Er arbeitet u.a. an einem durch die Ford-Stiftung geförderten Projekt zu den NATO-Rußland-Beziehungen.