Weniger Sprengkraft, mehr Risiko – Kleine
Atomsprengköpfe auf großen U-Boot-Raketen
von Otfried Nassauer
Unter Donald Trump
verändert Washington die Konzeption
nuklearen Abschreckung rasch und mit großer Effizienz. Die
USA beginnen erneut über begrenzte, atomare Kriege
nachzudenken und dafür geeignete Waffen einzuführen.
Nuklearwaffen gewinnen an militärischer und verlieren an
politischer Bedeutung. An keiner Waffe wird das so deutlich wie an dem
gerade neu eingeführten Sprengkopf niedriger Sprengkraft
für U-Boot-gestützte Langstreckenraketen. Dieser
vergrößert die nuklearen Handlungs- und
Entscheidungsmöglichkeiten der USA massiv. Er wird
auch die NATO zu erneutem Nachdenken über nukleare Eskalation
und nukleare Teilhabe zwingen.
Als die USS Tennessee, ein nukleares Raketen-U-Boot der
Ohio-Klasse, Ende 2019 erneut zu einer Patrouillenfahrt aufbrach,
markierte dies eine Zäsur für die nukleare
Abschreckung der USA. Das U-Boot hatte zum ersten Mal eine oder mehrere
Langstreckenraketen vom Typ Trident II D5 an Bord, die einen einzelnen
Sprengkopf des neuen Typs W76-2 trugen. Dieser hat eine deutlich
kleinere Sprengkraft als die großen
Mehrfachsprengköpfe der Typen W76-1 und W88 auf den anderen
Trident-Raketen an Bord. Sie beträgt nur etwa acht Kilotonnen,
also etwas mehr als der Hälfte der Bombe, die Hiroshima
zerstörte.[ 1 ] Der W76-2 soll den USA deutlich
flexiblere
Optionen für begrenzte Nuklearwaffeneinsätzen
(Limited Nuclear Options, LNO) auf regionalen
Kriegsschauplätzen ermöglichen als die bisherige
Standardbewaffnung der strategischen Raketen-U-Boote.[ 2
] Diese
können dann neben ihrer traditionellen strategischen Rolle im
Kontext eines globalen nuklearen Schlagabtauschs auch eine Rolle in
regional begrenzten Kriegen spielen, ganz gleich, ob als Reaktion auf
den Einsatz taktischer Atomwaffen durch einen örtlichen Gegner
oder im Rahmen eines atomaren Ersteinsatzes (First Use) seitens der
USA. Die Möglichkeit, in einem Konflikt als erster zu
Nuklearwaffen zu greifen, hält sich Washington bereits seit
Jahrzehnten sowohl national als auch in der NATO explizit offen.
Das Ziel, einen solchen Sprengkopf einzuführen
verfolgt die Administration von Donald Trump von Anbeginn an. Im Januar
2018 verabschiedete sie eine National Defense Strategy, die
die Wiederkehr einer Großmächtekonkurrenz mit
Russland und China proklamierte, aber auch versprach kleinere Konflikte
wie jene mit Norkorea und dem Iran nicht aus dem Auge zu verlieren.[ 3
]
Diese Prioritätensetzung prägte wenig später
auch Trumps Nuclear Posture Review und dessen Konzept einer
maßgeschneiderten Abschreckung, jeweils zugeschnitten auf
diese potentiellen Gegner.[ 4 ] Aus der Addition der
dafür
künftig notwendigen nuklearen Fähigkeiten wurde die
Notwendigkeit abgeleitet, mehr vorhandene Nuklearwaffen weiter in
Dienst zu halten als bisher vorgesehen, die vorhandenen Pläne
für für eine umfassende Modernisierung der
vorhandenen atomare Trägersysteme und Sprengköpfe und
der nuklear-industriellen Infrastruktur weiterzuführen und zu
beschleunigen, sowie zwei nukleare Fähigkeiten neu
einzuführen: Einen seegestützten Raketensprengkopf
kleiner Sprengkraft und neue nukleare seegestützte
Marschflugkörper.[ 5 ]
Zwei Jahre später ist der Sprengkopf kleiner
Sprengkraft für U-Boot-Raketen stationiert und einsetzbar. In
einem ersten kleinen Kriegsspiel des Strategischen Oberkommandos der
USA wurde im Februar 2020 erstmals der Einsatz in Reaktion auf einen
russischen Ersteinsatz in Europa simuliert.
Die Gründe dafür, dass die
Einführung dieses Sprengkopfs so viel schneller als
üblich realisiert werden konnte sind leicht zu identifizieren:
Die U-Boote der Ohio-Klasse sind schon lange im Dienst und erprobt.
Für die Trägerraketen des Typs Trident-II-D5 gilt das
auch. Nur einige wenige der vorhandenen, gerade in Modernisierung
befindlichen Sprengköpfe vom Typ W76 mussten dafür
abgeändert und die Sprengkraft auf wenige Kilotonnen reduziert
werden. Auch dafür gab es schon ein Vorbild, das unter
Mitwirkung der USA vor Jahren entstand. Großbritannien nutzt
an Bord seiner von den USA geleasten Trident-Raketen schon lange einen
aus dem W76 abgeleiteten nicht-strategischen Atomsprengkopf kleinerer
Sprengkraft als Ersatz für seine 1998 aufgegebenen Atombomben
vom Typ WE 177. Diese offenbar technisch funktionierende
Lösung dürfte als Vorbild für den W76-2
genutzt worden sein. Man verzichtet darauf, den für das
Erreichen der maximalen Sprengstärke verantwortlichen zweiten
nuklearen Sprengsatz des W76, das sogenannte Secondary, zur Explosion
zu bringen. Nur der kleinere nukleare Zündsprengsatz, das
Primary, wird noch gezündet. Dann sinkt die Sprengkraft auf
wenige Kilotonnen.[ 6 ]
Diese Lösung war offenbar auch
günstig: Kostet die Modifikation eines vorhandenen atomaren
Sprengkopfs zu einer neuen Version meist etliche Milliarden Dollar, so
wurden für den W76-2 von Pentagon und Energieministerium
zusammen Kosten von weniger als 100 Mio. Dollar beantragt,
verteilt auf die Haushaltsjahre 2019 bis 2023.[ 7 ] Experten erwarten, dass
nur etwa 50 Exemplare von der neuen Sprengkopfvariante gebaut werden
sollen und auch nicht alle der 14 U-Boote der Ohio-Klasse damit
ausgestattet werden.[ 8 ] Da der Großteil der
Kosten beim
Pentagon anfällt, ist davon auszugehen, dass das
Energieministerium seinen Kostenanteil dem vorhandenen Budget
für die Modernisierung von W76-Sprengköpfen zur
Version W76-1 begleichen konnte. Schließlich traf das
Vorhaben auch im US-Kongress aus zwei weiteren Gründen auf
vergleichsweise geringen Widerstand: Das waren zum einen die geringen
Zusatzkosten und zum anderen betrug die Sprengkraft mehr als
fünf Kilotonnen und rief deshalb keine neue Debatte
über Sprengköpfe kleinster Sprengkraft hervor, die
sogenannte Mininukes.
Mit den Haushaltsanträgen für 2021 hat
die Trump-Administration deutlich gemacht, dass sie das Konzept kleiner
atomarer Sprengköpfe längerfristig mit Verve
verfolgen will. Der Budgetvorschlag enthält erstmals Mittel in
Höhe von $53 Mio. für Konzeptstudien zu einem
künftigen, flexibel abwandelbaren atomaren Sprengkopf vom Typ
W93/MK7. Diese Kombination aus einem Sprengkopf neuer Bezeichnung und
einem neuen Wiedereintrittsflugkörper soll im
nächsten Jahrzehnt ältere
Trident-Sprengköpfe ablösen, vorrangig wohl den W76
in seinen verschiedenen Versionen, und zudem – wie schon der
W76 - Grundlage für eine neue Generation britischer
Trident-Sprengköpfe werden. Damit erhält das Vorhaben
legitimatorisch die höheren Weihen bündnispolitischer
Solidarität gegenüber Großbritannien. Die
Aussicht auf eine Bewilligung im Kongress wird besser. Bis 2025 sollen
bereits mehr als 1,8 Mrd. Dollar bereit gestellt
werden.[ 9
]
Noch sind die technischen Eckwerte für diesen
Sprengkopfs nicht festgeschrieben. Eine umfassende Studie soll
zunächst die technisch möglichen Optionen aufzeigen,
so der Auftrag des interministeriellen Nuclear Weapons Councils. In
diesem Kontext soll auch geprüft werden, ob nukleare
Komponenten vorhandener Sprengköpfe erneut genutzt werden
können. Die Chefin der für die Entwicklung und
Modernisierung nuklearer Sprengköpfe zuständigen
National Nuclear Secutrity Agency, Gordon-Hagerty, war vor dem
Unterausschuss für Strategische Streitkräfte des
Streitkräfteausschusses des
Repräsentantenhauses bemüht, intensive Debatten zu
meiden. Man plane – abhängig von den Ergebnissen der
Studie - keine neuen Atomwaffentests und werde - wenn möglich
– auf nukleare Komponenten zurückgreifen, die
bereits für eingeführte Sprengköpfe getestet
wurden. Auf die Frage, ob es sich um einen „neuen
Sprengkopf“ handele, wurde ausweichend
geantwortet.[ 10 ]
Da der W93/MK7 erneut als Basis für eine neue
Generation britischer Trident-Sprengköpfe dienen soll, ist
davon auszugehen, dass britische Anforderungen an dessen
Fähigkeiten in das Entwicklungsvorhaben einfließen
werden und zusätzliche Anforderungen generieren
können. Dass Großbritannien sich bereits auf eine
solche Zusammenarbeit mit den USA festgelegt hatte, erfuhr die
überraschte britische Öffentlichkeit von Mitarbeitern
der Trump-Administration, nicht von ihrer eigenen Regierung. Dem
britischen Verteidigungsminister Ben Wallace blieb keine andere Wahl
als verklausuliert am 25. Februar 2020 zu bestätigen, dass
bereits eine Zusammenarbeit mit den USA vereinbart worden sei. Er
teilte mit: „Wir werden weiterhin eng mit den USA
zusammenarbeiten um sicherzustellen, dass unsere
Nuklearsprengköpfe mit dem strategischen Waffensystem Trident
kompatibel bleiben.“[ 11 ] Die Beschaffung von
„Ersatzsprengköpfen“ werde Gegenstand
sowohl der Beschaffungsplanung als auch der dafür
erforderlichen politischen Zustimmungsprozesse in
Großbritannien sein.
Die
Militärdoktrin Russlands – Eine fragwürdige
Rechtfertigung
Fragt man in den USA, warum die Einführung
seegestützter kleiner Atomsprengköpfe so dringlich
sei, so erhält man meist ideologisch motivierte,
nukleartheologische Antworten. Die konservative US-Debatte
über russische Atomwaffen ist von der These geprägt,
Russland verfolge eine Strategie der „Eskalation, um seine
Gegner zur Deeskalation zu zwingen“ (escalate-to
de-escalate).[ 12 ] Will man genaueres wissen, so
ist oft folgendes
Szenario zu hören: Russland habe den Ersteinsatz kleiner,
taktisch-nuklearer Waffen zum Bestandteil seiner
Militärdoktrin gemacht. Geheime Manöverauswertungen
hätten gezeigt, dass Moskau plane, im Fall einer
militärischen Konfrontation – zum Beispiel im
Baltikum - als erste Konfliktpartei kleine Atomwaffen einzusetzen und
darauf zu spekulieren, dass Washington keine geeignete nukleare
Reaktionsmöglichkeit besitze. Die Atomwaffen der USA seien
entweder viel zu groß um deren Einsatz zu rechtfertigen oder
es gebe recht effektive Abwehrmöglichkeiten. Moderne
russische Flugabwehrsysteme könnten zum Beispiel die
nuklearfähigen Jagdbomber der NATO abfangen. Washington werde
deshalb eher einlenken als eine Eskalation auf die strategisch-nukleare
Ebene zu riskieren. Als Strategie des „Escalate to
de-escalate“ lässt sich ein solches Szenario
öffentlichkeitswirksam verkaufen.[ 13 ]
Doch der Blick in die russische Militärdoktrin
lässt nur zwei Fälle erkennen, in denen der Einsatz
von russischen Atomwaffen erfolgen könnte: Erstens in Antwort
auf einen Angriff mit Massenvernichtungswaffen gegen Russland oder
seine Verbündeten und zweitens in Antwort auf einen
konventionellen Angriff, der die staatliche Existenz der Russischen
Föderation (nicht aber deren Verbündeter –
der Verfasser) gefährdet. In diesem Fall ist auch ein
Ersteinsatz nicht ausgeschlossen. Da dieser zweite Fall die
Gefährdung der staatlichen Existenz Russlands voraussetzt,
sind die Bedingungen für einen möglichen Ersteinsatz
deutlich enger gefasst als in der NATO oder den USA. Beide Aussagen
stehen darüber hinaus in der Tradition des sowjetischen
Denkens über die kriegsverhindernde Rolle von Kernwaffen.[ 14
]
Der Ursprung der escalate to de-escalate Lesart liegt
wohl in der US-Debatte. Dort unterstellen konservative Nukleartheologen
ihren russischen Antipoden offenbar ihre eigenen, auf
spieltheoretischer Grundlage entwickelten Ansätzen und
begründen so, dass die von ihnen für notwendig
gehaltenen Atomwaffen kleinerer Sprengkraft unbedingt beschafft und
eingeführt werden müssen.
Abschreckung durch
Kriegführungsfähigkeit
Fragt man, was die USA tun könnten, um in einem
„escalate to de-escalate“ Szenario die nukleare
Abschreckung glaubwürdiger zu machen, so lautet die Antwort
meist: Die USA brauchen prompt, flexibel über große
Entfernungen einsetzbare Kernwaffen kleiner Sprengkraft, mit deren
Einsatz sie glaubwürdig drohen können und gegen die
es keine wirksame Verteidigung gibt. Abschreckung sei eine Frage der
glaubwürdigen Fähigkeit, einen atomaren Krieg
tatsächlich führen zu können. Unverwundbar
auf U-Booten stationierte ballistische Raketen großer
Reichweite und mit einem kleinen Sprengkopf seien dafür
besonders gut geeignet.
Der kleine Sprengkopf auf strategischen Raketen-U-Booten
erfüllt Nukleartheoretikern, Militärstrategen,
Generalen und Admiralen einen lange gehegten Wunsch, die glauben, dass
Abschreckung nur glaubwürdig ist, wenn sie sich auf vorhandene
und glaubhaft einsetzbare militärische Fähigkeiten
abstützen kann, einen Krieg mit atomaren Waffen auch
führen zu können. Also den Verfechtern einer
Kriegführungsabschreckung. Anhängern einer
Abschreckung, die auf Kriegsverhinderung zielt, für die
Nuklearwaffen vor allem eine politische, den Ausbruch von Kriegen
verhindernde Rolle haben, treibt ein solcher Sprengkopf dagegen eher
Schweißperlen auf die Stirn.
Das ist aus mehreren Gründen so: Zum einen
befürchten sie, dass die Hemmschwelle vor einem
Nuklearwaffeneinsatz sinkt, wenn die Waffen eine kleine Sprengkraft
haben und aufgrund ihrer hohen Zielgenauigkeit versprechen, deutlich
geringere Kollateralschäden hervorzurufen. Für den
Besitzer solcher Waffen könnte der Anreiz steigen, diese als
erster einzusetzen, um den Gegner durch einen begrenzten Nuklearschlag
vor die Wahl zu stellen, entweder keine nukleare Antwort zu geben
reagieren oder die Auseinandersetzung auf die Ebene eines globalen
Atomkriegs zu eskalieren. Dann könnte man selbst ein
„escalate to de-escalate“ Szenario schaffen.
Schließlich könnten solche Waffen auch zu der
Hoffnung verleiten, nukleare Konflikte auf Kriegsschauplätze
wie Europa oder die koreanischen Halbinsel zu begrenzen und
die USA davon abkoppeln zu können.
Dies alles verbindet sich mit der Logik der
Kriegführungsabschreckung. Es kann deshalb auch nicht
verwundern, dass das US-Militär seit 2019 seit 15 Jahren
erstmals wieder über eine
teilstreitkraft-übergreifende Grundlagenvorschrift
für „Nukleare Operationen“, die JP3-72,
verfügt.[ 15 ] Auch sie atmet den Geist der
Kriegführungsabschreckung.
Folgen für
die NATO
Die
Veränderungen in der Nuklearpolitik unter Donald Trump werden
nicht ohne Auswirkungen auf die NATO und auf deren System der Nuklearen
Teilhabe bleiben. Dafür gibt es bereits drei Anzeichen. Zum
einen hat der Militärausschuss der NATO 2019 eine neue
NATO-Militärstrategie verabschiedet, über die der
NATO-Oberbefehlshaber, General Wolters, erfreut feststellte, sie
„sehe sehr ähnlich aus wie die Nationalen
Verteidigungsstrategie“ der USA. Das Dokument mit dem Titel
„Comprehensive Defense and Shared Response“ ist als
geheim eingestuft.[ 16 ] Zum zweiten haben die USA im
Herbst 2019
wahrscheinlich die technischen Sicherheitsvorkehrungen an Bord ihrer in
Deutschland gelagerten nuklearen Bomben sowohl im Blick auf die
Hardware als auch bezüglich der Software verbessert. Dazu
wurden wahrscheinlich die bisher in Deutschland gelagerten Waffen
ausgetauscht. Diese „Use-Control“ bzw.
Use-Denial-Systeme sollen garantieren, dass die Waffen nur explodieren
können, wenn sie bei exakt den Missionen eingesetzt werden,
für die sie der US-Präsident freigegeben hat. In
allen anderen Fällen sollen sich die Waffen selbst unbrauchbar
machen. Für das 2019 beginnende US-Haushaltsjahr 2020 war
schon vor zehn Jahren ein solches Upgrade vorgesehen. Es erforderte
Änderungen, die nur in den USA vorgenommen werden
können.[ 17 ] Schließlich
konfrontiert die Stationierung
der Trident-Raketen mit W76-2 Sprengköpfen die NATO
mit der damit verbundenen Zäsur. Denn die Ausgangslage
für europäische Wünsche nach
Mitspracherechten beim Einsatz atomarer Waffen in Europa
verändert sich grundlegend.
Während des Kalten Krieges und im Grundsatz bis
in das vergangene Jahr, ließen sich europäische
Mitsprachewünsche im Hinblick auf Atomwaffeneinsätze
in Europa immer mit mindestens einem der folgenden Argumente
begründen:
- Der Einsatz atomarer Waffen erfolgt vom Territorium
europäischer Staaten aus.
- Die US-Waffen kommen aus Depots in Europa.
- Viele nuklearfähige Trägersysteme
gehören europäischen Staaten und werden von Soldaten
dieser Ländern betrieben.
- Schließlich lagen während des
Kalten Krieges auch viele Ziele dieser Waffen auf dem Territorium
europäischer Staaten.
Im Kern galt: Sollte der Zusammenhalt in der NATO nicht
komplett riskiert werden, so mussten sich die Regierungen diesseits und
jenseits des Atlantiks ins Benehmen setzen. Der US-Präsident
traf die letzte Entscheidung über die Freigabe nuklearer
Waffen. Ohne Konsultation mit oder gar gegen den erklärten
Willen der betroffenen europäischen Staaten, konnten atomare
Waffen aber auch nur um den Preis eines potentiellen Zerfalls der NATO
eingesetzt werden. Dies galt im politischen Sinn unabhängig
davon, ob die europäischen Staaten in der NATO oder in ihrem
bilateralen Verhältnis zu den USA je im juristischen Sinn ein
Mitsprache- oder Mitentscheidungsrecht hatten.
Künftig ist das grundlegend anders: Seit der
Stationierung der ersten Trident-Raketen mit Sprengköpfen vom
Typ W76-2 können die USA aus internationalen
Gewässern von einem US-Boot eine US-Rakete mit einem einzigen
US-Sprengkopf als bevorzugtes Mittel eines begrenzten atomaren
Ersteinsatz nutzen und dabei noch wählen, ob das Ziel dieses
Einsatzes auf dem Territorium Russlands oder eines anderen Landes
liegt. Da US-Raketen-U-Boote der NATO auch in Krise und Krieg nicht
mehr unterstellt werden, braucht Washington jetzt keinerlei
europäisches Mittun mehr, wenn es die Schwelle zu einem auf
den europäischen Kriegsschauplatz begrenzten
Nuklearwaffeneinsatz überschreiten will.
Das macht, gerade weil es, den nuklearen Ersteinsatz und
damit das Überschreiten der nuklearen Schwelle die betrifft,
die Zäsur aus. Schon als die NATO in den späten
1960er Jahren begann, detaillierte Konsultationsmechanismen
für den Nuklearwaffeneinsatz einzuführen, war dies
der zentrale Diskussionsgegenstand. Es entstanden zwei Dokumente. Das
eine betraf generelle Richtlinien für Konsultationen
über Fragen des NATO-Einsatzes atomarer Waffen. Das andere
zielte auf eine zentrale Einzelfrage, Konsultationen über den
erstmaligen Einsatz (initial use) nuklearer Waffen durch die NATO, also
das Überschreiten der nuklearen Schwelle. Dieses Papier betraf
damit zugleich die Frage nach dem Primat der Politik und nach der
politische Kontrolle über die militärische nukleare
Planungen. Zweifellos war das aus europäischer Sicht die
wichtigste Frage, bei der man mitreden oder mitentscheiden wollte. Wann
und in welcher Form soll ein erster Einsatz nuklearer Waffen erfolgen?
Die NATO hielt sich ja wie die USA auch die Möglichkeit eines
Ersteinsatzes offen (first use).
Deutschland und die Zukunft der Nuklearen Teilhabe
„Deutschland bleibt über die nukleare
Teilhabe in die Nuklearpolitik und die diesbezüglichen
Planungen der Allianz eingebunden.[ 18 ] So steht es im
Weißbuch
der Bundesregierung aus dem Jahr 2016 und so gilt es bis heute. Die
Bundesregierung will die deutsche Beteiligung an der nuklearen Teilhabe
fortzusetzen. Das Verteidigungsministerium drängt deshalb auf
eine rasche Beschaffung von 30 Flugzeugen des Typs F18-F, die den
Tornado ablösen sollen. Dieser Flugzeugtyp muss jedoch noch
für den Einsatz als nuklearer Jagdbomber zertifiziert werden.
Unklar ist, ob die F-18F anders als der Tornado alle
zusätzlichen operativen Möglichkeiten der
modernisierten Atombombe B61-12 nutzen könnte, wie zum
Beispiel deren deutlich verbesserte Zielgenauigkeit und die
Fähigkeit zum Einsatz gegen verbunkerte Ziele. Die
Stationierung dieser Bombe soll in wenigen Jahren beginnen. Sie wird
über hochmoderne Use-Control-Features verfügen, die
möglicherweise indirekt auch die technische Einsetzbarkeit von
Jagdbombern in der nuklearen Rolle so einschränken, dass diese
nicht mehr als primäres Mittel für einen nuklearen
Ersteinsatz und das Überschreiten der nuklearen Schwelle
gelten können.
Die Beschaffung neuer Trägerflugzeuge
für die nukleare Teilhabe ist jedoch mit Kosten von mehreren
Milliarden Euro verbunden, der Betrieb wird weitere Milliarden
benötigen. Das Vorhaben wirft also eine bislang nicht
gestellte Frage auf: Ist es sinnvoll, Milliarden für neue
Flugzeuge auszugeben, wenn die nuklearen Teilhabe keine
Rückversicherung mehr dagegen darstellt, dass die USA einen
auf Europa begrenzten Ersteinsatz nuklearer Waffen in Europa auch gegen
den Willen der Europäer und mit nationalen substrategischen
Mitteln durchführen können? Vielleicht war diese
Aussicht der Anlass dafür, dass der amerikanische
NATO-Oberbefehlshaber Wolters sich vor dem Kongress kürzlich
als als „Anhänger eines flexiblen
Ersteinsatzes“ bezeichnete.[ 19 ] Was aber unterscheidet einen
flexiblen Ersteinsatz von einem normalen Ersteinsatz?
Die mit der nuklearen Teilhabe verbundene Erwartung der
Europäer, man könne gegebenenfalls Einfluss auf einen
Ersteinsatz von US-Atomwaffen nehmen, dürften durch die
Modernisierung des Nukleararsenals der USA wohl hinfällig
werden. Damit wird der geplante Kauf von nuklearfähigen
US-Kampfflugzeugen aber auch zu einem Selbstbetrug. Er erfüllt
seinen eigentlichen Sinn nicht mehr.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
|
Fußnoten:
[ 1 ] Siehe: Arkin, William M./ Kristensen, Hans M: US Deploys New
Low-Yield Nuclear Submarine Warhead, 29.1.2020,
https://fas.org/blogs/security/2020/01/w76-2deployed/ Alle in diesem
Beitrag verlinkten Quellen wurden am 18.4.2020 zuletzt eingesehen.
[ 2
] Zur Geschichte der Idee des regional begrenzten Atomkriegs in der
Diskussion über die Nuklearstrategie der USA vgl. Larsen,
Jeffrey
A. & Kartchner, Kerry M. (ed): On Limited Nuclear War in the
21st
Century, Stanford University Press, 2014 und Kaplan, Fred: The Bomb
– Presidents, Generals and the Secret History of Nuclear War,
Simon & Schuster, 2020
[ 3
] Siehe: Department of Defense: Summary of the 2018 National Defense
Strategy of the United States of America, Washington DC, Januar 2018,
im Internet:
https://dod.defense.gov/Portals/1/Documents/pubs/2018-National-Defense-Strategy-Summary.pdf.
[ 4
] Siehe: Department of Defense: Nuclear Posture Review 2018, Washington,
Februar 2018, im Internet:
https://media.defense.gov/2018/Feb/02/2001872886/-1/-1/1/2018-NUCLEAR-POSTURE-REVIEW-FINAL-REPORT.PDF
[ 5
] Für eine nähere Darstellung siehe: Nassauer, Otfried:
Tailored Deterrence – Eine Nuklearpolitik für Donald
Trump,
in: Wissenschaft und Frieden, Heft 1-2018, S. 14-17 oder im Internet:
https://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID=2256
[ 6
] Vgl. dazu: Plesch, Dan: The Future of Britain's WMD, Foreign Policy
Centre, London, 2006 und: Plesch, Dan / Ainslee, John: Trident
–
Strategic Dependence and Sovereignty, Working Paper, SOAS, University
of London, 2016. Die Arbeiten zeigen, dass sowohl an der technischen
als auch an militärisch-operativ Unabhängigkeit des
britischen Nuklearpotentials ernsthafte Zweifel angebracht sind.
[ 7
] Wolf, Amy F.: A Low-Yield, Submarine-Launched Nuclear Warhead: Overview
of the Expert Debate, Congressional Research Service, Washington DC, 10
January 2020, S.1
[ 8
] Siehe Arkin/Kristensen, a.a.O. Im Internet:
https://fas.org/blogs/security/2020/01/w76-2deployed/
[ 9
] Vgl. Mehta, Aaron: Inside America’s newly revealed nuclear
ballistic missile warhead of the future, Defense News, 24.2.2020, im
Internet:
https://www.defensenews.com/smr/nuclear-arsenal/2020/02/24/inside-americas-newly-revealed-nuclear-ballistic-missile-warhead-of-the-future/
[ 10
]
Vgl.: U.S. Congress, House Armed Services Committee, Subcommittee on
Strategic Forces Hearing: “The Fiscal Year 2021 Budget
Request
for Nuclear Forces and Atomic Energy Defense Activities”,
3.3.2020, im Internet:
https://armedservices.house.gov/hearings?ID=9ED78812-3EB8-4456-804A-8B42EAD9B1A6.
Ähnlich beschwichtigende Argumente kennzeichneten bereits
das
Lebensdauerverlängerungsprogramm zur B61-12, dessen Umfang mit
fortschreitenden Konzept- und Definitionsarbeiten immer
größer wurde. Vgl.: Nassauer, Otfried /
Piper,
Gerhard: Atomwaffenmodernisierung in Europa – Das Projekt
B61-12,
Berlin 2012 oder: http://www.bits.de/public/pdf/rr-12-1.pdf
[ 11
] Vgl.: Ministry of Defence (UK): Defence Secretary announces programme
to replace the UK’s nuclear warhead. London 25.2.2020, im
Internet:
https://www.gov.uk/government/news/defence-secretary-announces-programme-to-replace-the-uks-nuclear-warhead
[ 12
]
Siehe z.B.:Kroenig, Matthew: Deterring Russian Nuclear De-escalation
Strikes, Atlantic Council of the United States, Washington, 2018; im
Internet:
https://ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/resources/docs/Atlantic%20Council_StrategyDeterringRussianNuclearDeEscalation.pdf
[ 13
] Russland hält diese Lesart der USA für
unbegründet und
unerklärlich. Vgl. zum Beispiel: N.N.: Moscow dismisses NATO
allegations re possibility of nuclear strike on Baltic states, Baltic
Times, 6.3.2020, im Internet:
https://www.baltictimes.com/moscow_dismisses_nato_allegations_re_possibility_of_nuclear_strike_on_baltic_states/
[ 14
] Präsident der Russischen Föderation:
Militärdoktrin der
Russischen Föderation - Präzisierte Redaktion,
Moskau,
Dezember 2014 (übersetzt von Rainer Böhme, Dresdner
Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik, Arbeitspapier 113, Dresden,
2015), im Internet: http://www.bits.de//NRANEU/docs/MilDok14.pdf
[ 15
] Siehe: Joint Chiefs Of Staff: Nuclear Operations, Joint Publication
3-72, Washington, 11.6.2019, im Internet:
https://fas.org/irp/doddir/dod/jp3_72.pdf.
[ 16
] Siehe: U.S. Senate, Committee on Armed Services: Hearing to Receive
Testimony on United States European Command and United States
Transportation Command in Review of the Defense Authorization Request
for Fiscal Year 2021 and the Future Years Defense Program, 25.2.2020,
S.11 und 33. Im Internet:
https://www.armed-services.senate.gov/download/20-05_02-25-2020.
Das
Dokument führt scheinbar die früher seaparaten
Militärausschuss-Dokumente mit den Hauptnummern MC 161 und MC
400
zusammen und ist insofern nicht grundsätzlich neu.
[ 17
] Vgl.: National Nuclear Security Administration: FY09 Refurbishment
Plannig Schedule, Washington, 2008, im Internet:
https://fas.org/programs/ssp/nukes/images/nnsachart.pdf
[ 18 ] Bundesministerium der
Verteidigung: Weißbuch 2016, Berlin, 2016, S.65
[ 19 ] Siehe: U.S. Senate,
Committee on Armed Services: Hearing to Receive
Testimony on United States European Command and United States
Transportation Command in Review of the Defense Authorization Request
for Fiscal Year 2021 and the Future Years Defense Program, 25.2.2020,
S. 36. Im Internet:
https://www.armed-services.senate.gov/download/20-05_02-25-2020.
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