Telepolis
31. März 2004


Madrid: Die Spur führt nach Tanger

von Gerhard Piper


Am 11. März verübten islamische Fundamentalisten in Madrid verheerende Terroranschläge auf vier Vorortzüge, die 191 Tote und rund 1500 Verletzte forderten. Die spanischen Sicherheitsdienste machen die marokkanische Gruppierung Al Jamaa Al Islamia Moujaida Fi Al Magrhib, die mit der Al Qaida von Osama bin Laden in Verbindung steht, für das Massaker verantwortlich. Weil eine der vierzehn Rucksack-Bomben nicht explodierte, konnte die spanische Polizei zahlreiche Spuren sichern und mittlerweile 23 Tatverdächtige festnehmen. Die Polizei hält sich aus ermittlungstaktischen Gründen mit Angaben zurück; derweil werden in der Presse widersprüchliche Informationen über die Zahl und Identität der Täter sowie ihrer Hintermänner kolportiert. Soweit bekannt kommen vierzehn Inhaftierte aus Marokko, vier sind Syrer, zwei stammen aus Spanien, zwei sind Inder. Von den Marokkanern stammen mindestens fünf Täter aus der nordafrikanischen Hafenstadt Tanger. Nach vermutlich acht weiteren Verdächtigen wird gefahndet. Darüber hinaus konnte die Polizei an einer Ausfallstraße 34 Kilometer südöstlich von Madrid bei Morata de Tajuna eine Finca (Landhaus) ausheben, auf der die Attentäter ihre Terroranschläge vorbereiteten und die Rucksack-Bomben bauten.

Der Hauptverdächtige Jamal Zougam lebt seit 1985 in Spanien und betreibt einen Telefonladen in der Straße Tribulete, zehn Minuten Fußweg vom Bahnhof Atocha entfernt. Er wurde von zwei Zeugen als Attentäter identifiziert. Zougam ist aufgewachsen in der Altstadt von Tanger. Vor einem Jahr hat er seinen Vater, der dort als Muezzin in einer Moschee arbeitet, zum letzten Mal besucht. Durch den Stempel im Reisepass konnte die Polizei das Datum genau ermitteln, der 14. März 2003.

Für die Polizei ist Zougam kein Unbekannter. Er hatte Kontakte zu Imad Eddin Barakat Yarkas, dem früheren Chef der Al Qaida-Zelle in Spanien. Außerdem stand er in Verbindung mit zwei Mitglieder der Gruppe Al Oussououd Al Khalidine, die in die Terroranschläge in der marokkanischen Hafenstadt Casablanca am 16. Mai 2003 verwickelt sind. Damals verübten dreizehn Selbstmordattentäter fünf Anschläge, bei denen 45 Menschen ums Leben kamen und einhundert Personen verletzt wurden. Bei den beiden Bekannten handelt es sich um Abdelaziz Benyaich und Mohamed al-Fizazi, die beide ebenfalls aus Tanger stammen. Fizazi war hier Prediger in der Al Quds-Moschee im Stadtteil Beni Makaka.

Der zweite Tatverdächtige der Zuganschläge in Madrid ist Zougams älterer Halbbruder Mohamed Chaoui. Auch dieser ist kein Unbekannter für die Ermittlungsbehörden. Im Vorfeld der Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center war er bei einer Abhöraktion der spanischen Geheimdienste gegen die radikalen Islamisten belauscht worden.

Der dritte Marokkaner ist der Physiker Mohamed Bekkali. Nach unterschiedlichen Angaben stammt er entweder aus Tanger oder der Nachbarstadt Tetuan. Im Jahre 1997 emigrierte er nach Spanien, um eine Doktorarbeit zu schreiben. Seit dem Jahr 2000 arbeitete er in dem Telefonladen von Jamal Zougam. Über seine Verbindungen zu radikalen Islamisten ist bisher nichts bekannt geworden. Festgenommen wurde ebenfalls Mohamed el Hadi Chedadi aus Tanger, der seit 1985 in Spanien lebt. Dessen Bruder Said Chedadi sitzt bereits seit November 2001 als Mitglied der Al Qaida im Gefängnis, weil er Verbindungen zu den Attentätern vom 11. September hatte. Ein anderer Hauptverdächtiger aus Tanger ist der Chemiker Abderrahim Zbakh, der erst 1999 nach Spanien emigrierte. Schließlich kommt noch ein weiterer Marokkaner aus Tanger. Sein Name wird unterschiedlich mit Abdelouahid Berrak oder mit Abdelwahed Berak angegeben.

Neben diesen Festnahmen der spanischen Polizei hat der marokkanische Sicherheitsdienst Direction de la Surveillance du Territoire (DST) in den letzten Tagen im Raum Tanger/Tetuan eine "Verhaftungswelle" gestartet und mindestens 23 Personen verhört. Die marokkanische Kriminalpolizei Sureté Nationale soll im Zusammenanhang mit den Zuganschlägen ihrerseits zwei Tatverdächtige festgenommen haben. Außer den Attentätern von Madrid kommen auch zwei der Todesopfer aus Tanger – Sanae Ben Sala und Osama El Amrati.

Nach Presseberichten soll der Hintermann der Zuganschläge der Marokkaner Abdelkarim el Mejjati sein. Dieser soll sich drei Tage vor dem Massaker in Madrid aufgehalten und unmittelbar nach dem Anschlag wieder nach Marokko zurückgekehrt sein. Als Hintermann des Hintermanns gilt der Jordanier Abu Mussab Zarkoui, der widerum für Osama bin Laden "arbeiten" und für zahlreiche Anschläge auf die US-Besatzungstruppen im Irak verantwortlich sein soll.

Für die Polizei ist die Verbindung nach Tanger eine wichtige Spur. Möglicherweise kennen sich einige Attentäter noch aus Tanger oder haben sich im Exil zufällig getroffen und wegen ihrer gemeinsamen Herkunft engeren Kontakt angeknüpft. Soweit bekannt sind sie als "normale" Moslems nach Spanien eingewandert und haben sich erst hier radikalisiert. Wahrscheinlich wurden die Einzelheiten der Zuganschläge in Madrid geplant, aber die spanischen Behörden vermuten, dass sich die Hintermänner in Marokko aufhalten. Damit stellt sich die Frage, welche Verbindungen die Attentäter in der letzten Zeit nach Nordafrika unterhalten haben.

Die Straße von Gibraltar trennt Spanien von Marokko. Aber dieser internationale Seeweg ist kaum 15 Kilometer breit. Er verbindet das Mittelmeer mit dem Atlantik und trennt zugleich Europa von Afrika, den reichsten vom ärmsten Kontinent. Die größte Stadt auf marokkanischer Seite ist Tanger mit seinen mit 526.000 Einwohnern. Die Attentäter aus Tanger bestätigen den schlechten Ruf, den die Hafenstadt hat. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts war sie eine "internationale Zone", in der Spanien, Frankreich, England und Italien offiziell das Sagen hatten (www.marokko.net/info/staedte/html/tanger.html). Damals blühten Piraterie und Schmuggel, war Tanger ein Treffpunkt für Agenten, Intellektuelle (Samuel Beckett, Paul Bowles, Truman Capote, Tennessee Williams etc.) und Superreiche, wie die Woolworth-Erbin Barbara Hutton. Tagtäglich wurden in den Cafes am Petit Socco oberhalb der Altstadt Drogen, Waffen, Autos und Mädchen gehandelt. Von dem einzigen Reichtum ist nichts geblieben außer der Kriminalität, in dem die Attentäter von Madrid aufgewachsen sind. Die Altstadt, die so genannte Kasbah, besteht aus einem Gewirr kleiner und kleinster Gassen, wo sich ein Haus an das andere schmiegt. (Photo 1) Aus diesem Häusermeer ragt auf einer Bergkuppe der rosa Turm einer Moschee weithin sichtbar heraus. (Photo 2) Ausländische Touristen sollten nach Sonnenuntergang diese Gegend lieber meiden. Vertreter der lokalen Mafia haben die Stadt noch immer fest im Griff. Sie bieten schon im Hafen fremden Besuchern ihre Dienste als Tourismusführer und Beschützer an.


Photo 1: Blick über die Altstadt von Tanger auf den Hafen mit der Mole für die Fährschiffe aus Spanien
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Photo 2:Turm der Jemaa Kebira-Moschee am Suq Dahel
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Tanger ist die einzige Stadt im Norden Marokkos, die Fährverbindungen nach Europa unterhält. Die Schiffe fahren nach Tarifa an der Südspitze Spaniens, Algeciras oder der britischen Kronkolonie Gibraltar. Die Passagierlinie nach Tarifa ist am kürzesten und bietet die besten Straßenverbindungen auf spanischem Gebiet (http://www.frs.info/es/fares.jsp?route=01&lang=DE). Sie wird allerdings nur von einer Schifffahrtsgesellschaft angeboten, der Förde Reederei Seetouristik (FRS) aus Flensburg (www.frs.de), die ansonsten in der Nord- und Ostsee ihren Transportservice anbietet. Seit dem Jahr 2000 fährt die moderne "HSC Tanger Jet", die 558 Passagieren und 60 Autos aufnehmen kann, fünfmal täglich zwischen beiden Städten hin und her. (Photo 3&4) Ein Hinweisschild an Bord gibt folgende Erklärung ab: "Crewmitglieder, die während ihrer Dienstzeit unter dem Einfluss von Alkohol und/oder Drogen stehen, stellen eine Gefahr für die Sicherheit des Schiffes dar. Daher versichert die FRS-Gruppe, dass sie alles tun wird, damit so etwas nicht vorkommt."


Photo 3: Die "Tanger Jet" bei der Einschiffung im Hafen von Tarifa mit einem Jeep der spanischen Grenzpolizei Guardia Civil
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Photo 4: "Festung Europa": Container der Policía Nacional im Hafen von Tarifa zwecks Ausweiskontrolle der Passagiere
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Allein im Jahr 2001 wurden 250.000 Passagiere befördert. In der Regel handelt es sich um Spanier oder in Spanien lebende Marokkaner, die vom "kleinen Grenzverkehr" profitieren, Touristen von den Campingplätzen bei Tarifa oder Gastarbeiter, die ihren Urlaub in der Heimat verbringen. Niemand weiß, wie oft sich Mitglieder einer Terrorgruppe als Kuriere unter die Passagiere gemischt haben. Noch nie ist es während der 35-minütigen Überfahrt zu einem Zwischenfall gekommen oder ein Terrorist bei der Ein- oder Ausreise in Tarifa bzw. Tanger festgenommen worden. Allerdings beschränkten sich die Grenzkontrollen bisher auf die übliche Überprüfung der Personalausweise. Auf spanischer Seite kontrollieren zugleich die Policía Nacional und die Guardia Civil; nach der Einfahrt in den Hafen von Tanger kommen drei marokkanische Grenzbeamte in Zivil an Bord, die die Reisepässe abstempeln und die Personaldaten in ihre Laptops eintippen, bevor die Passagiere das Schiff verlassen dürfen. In Zukunft muss mit einer strengeren Überprüfung gerechnet werden. Die Spanier bauen seit 1998 ihre Grenzsicherungen an der "Frontera Sur" aus (http://www.guardiacivil.org/revista/result.jsp?id=593). Terroristen werden sich dadurch nicht abschrecken lassen, und so dienen die Maßnahmen eher der Abwehr illegaler Einwanderer. Darüber hinaus ist noch nicht absehbar, wie sich das Massaker von Madrid auf die politischen Beziehungen zwischen Marokko und Spanien auswirken wird.

Von den 23 Festgenommen befinden sich 14 Personen in U-Haft, vier Personen wurden wieder freigelassen, der Rest befindet sich noch in Incomunicado-Haft. Sie dürfen gemäß den spanischen Anti-Terrorgesetze weder einen Anwalt sprechen noch sonstigen Besuch empfangen. Außer den genannten Personen wurden bisher u.a. folgende Personen festgenommen: Faisal Alluch (Marokko), Said Ahmidam (Marokko, wieder freigelassen), Hamid Ahmidam (Marokko), Walid Altaraki Almasri (Syrien), Mohamad Badr Ddin Akkad (Syrien), Mustafá Chukri (Marokko, wurde von der marokkanischen Polizei festgenommen), Mouhammad Almallah Dabas (Syrien, wieder freigelassen), Basel Ghayoun (Syrien), Vinay Kholy (Indien), Suresh Kumar (Indien), Fouad El Morabit Anghar (Marokko, wohnte zeitweise in Darmstadt und wurde wieder freigelassen), Khalid Oulad Akcha (Marokko, sitzt seit 2001 im Gefängnis, wurde aber im Zusammenhang mit den Zuganschlägen erneut vernommen), Naima Oulad Akcha (die einzige Frau aus Marokko), Farid Oulad Ali (Marokko, wurde wieder auf freigelassen), José Emilio Suárez Trashorras (Spanien, half "unabsichtlich" bei der Beschaffung des Sprengstoffes), Antonio Toro Castro (Spanien), Rafa Zuher (Marokko). Außerdem nahmen die spanischen Behörden in den letzten Wochen weitere Personen fest, die als islamistische Extremisten gelten, aber in die Zuganschläge nicht verwickelt sind: Abdelkrim Benesmali, Djamel Boudjelthia, Alí Kaouka, Hocine K. A., Mohamed Nebbar, Mohamed Tahraouí.

Nachtrag: Seit dem 31. März konnten die spanischen Behörden folgende Personen festnehmen: Mustafá Ahmidam (Marokko, wieder freigelassen), Otman El Gnaout und A. F. (Marokko). Nach folgenden Personen läuft eine Öffentlichkeitsfahndung: Said Berraj (Marokkaner aus Tanger), Amer El Azizi, Rabei Osman El Sayed, Mohammed Oulad Akcha (Marokkaner aus Tetuan), Rachid Oulad Akcha (Marokkaner aus Tetuan) und Sanel Sjekirika. Folgende Personen kamen bei einer Explosion einer konspirativen Wohnung am 3. April 2004 in Madrid, Stadtteil Leganés, zu Tode: Sarhane Ben Abdelmajíd (Tunesier, mit einer Marokkanerin verheiratet, galt als "spiritus rector" der Bande), Jamal Ahmidan (Marokkaner aus Tetuan), Agdennabi Kounjaa (Marokkaner aus Taourit) und Asri Rifaat Anouar. Zwei weitere Todesopfer sind noch nicht identifiziert.

In einem Schreiben an die konservative Tageszeitung ABC vom 3. April 2004, das von den Behörden als echt eingestuft wird, hat die "Grupo Ansar – Al Qaida en Europa" Spanien den Krieg erklärt. Die Sicherheitsbehörden haben die Kontrollen im öffentlichen Nahverkehr, an den Atomkraftwerken und den Petrochemischen Raffinerien (Barcelona, Taragona, Cartagena, Puertollano etc.) verstärkt.

 

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).