Das Raketenabwehrbündnis
von Otfried Nassauer
Beim Streit um das US-Antiraketensystem in Polen und Tschechien geht es auch um die
Zukunft der Nato: Ist sie mehr als nur ein willfähriges Organ der nationalen US-Politik?
Wer Raketen abwehren will, braucht Bündnispartner. Das ist der kleinste gemeinsame
Nenner, auf den sich Washington, Warschau, Prag und Berlin derzeit anscheinend einigen
können. Sie streiten über das geplante Raketenabwehrsystem der USA in Europa. Washington
will es in Polen und Tschechien stationieren. Berlin ist - noch - dagegen. Beide Seiten
hoffen, Alliierte in der Nato zu finden. Die einen sammeln Unterstützung für ihre
Stationierungspläne. Die anderen suchen Bündnispartner, die eine solche Entscheidung
vertagen wollen oder ganz ablehnen.
Liegt in der Überbrückung wichtiger Gegensätze zwischen den Bündnismitgliedern
dieser Tage die wahre Bedeutung und Funktion der Nato? Das klingt scharf, ist aber
richtig. Der hitzige Disput ist ein Zeichen für den Zustand des vorgeblich
erfolgreichsten Militärbündnisses der Geschichte. Die Nato ist nicht mehr, was sie
einmal war - oder zumindest vorgab zu sein: der Ort, an dem die Alliierten nach
Konsultationen gemeinsam Entscheidungen treffen. Heute wird in Brüssel zwar immer wieder
konsultiert, Wichtiges danach aber oft in Washington entschieden. Manchmal sucht
Washington sogar nur Partner oder Truppensteller für bereits gefällte Entscheidungen. So
wird die Nato zum Werkzeugkasten, aus dem nützliche Teile bei Bedarf entnommen werden
können.
Gerhard Schröder hat schon bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2005 - die
Entscheidung über den Irakkrieg im Hinterkopf - auf dieses Problem hingewiesen und
Änderungsbedarf angemeldet. Die Diskussion über das geplante Raketenabwehrsystem kann
nun ein neues Beispiel werden. Washington hat bereits klargestellt: Das
US-Raketenabwehrsystem soll stationiert werden - ganz egal, was die Nato sagt. Es sei ein
nationales System und diene dem Schutz der USA. Deshalb liege die Entscheidung nur bei den
Beteiligten - Washington, Warschau und Prag. Über den späteren Einsatz der Abwehrraketen
wollen die USA alleine entscheiden - ohne Prag und Warschau.
Polen und Tschechien hoffen mit ihrer Bereitschaft, das Raketenabwehrsystem zu
beherbergen, die USA enger an sich zu binden; Polen hofft auf ein bilaterales
Sicherheitsabkommen mit Washington. Mit anderen Worten: Die Nato, auf deren
Sicherheitsgarantien Polen 1997 setzte, ist Warschau nicht mehr genug. Das
Problembewusstsein ist das gleiche wie bei Schröder. Nur das Fazit ist ein anderes -
Polen sucht den engen Schulterschluss mit Washington.
Jüngst gelang Washington ein Überraschungseffekt: Der europäische Teil der
US-Raketenabwehr soll nicht nur die USA gegen Langstreckenraketen, sondern auch Europa
gegen Mittelstreckenwaffen aus dem Iran schützen. Ermöglichen soll das eine kleinere,
besser manövrierbare Abfangrakete mit zwei statt bislang drei Antriebsstufen. Das
verändert nicht nur die Technik, sondern auch ein Argument.
Weiter gilt zwar, dass die Bedrohung aus dem Iran bislang nicht existiert und niemand
sagen kann, wann diese wirklich besteht. Richtig bleibt auch, dass der volle Nachweis,
dass das Abwehrsystem wirklich Raketen abfangen kann, bislang nicht erbracht wurde.
Berechtigt bleibt auch die Frage, ob das System den absehbaren Streit mit Russland wert
ist.
Russland klagt, es werde zwar informiert, aber nicht ernsthaft konsultiert. Es
betrachtet den Stationierungsplan als Bruch des Nato-Versprechens, keine strategisch
bedeutsamen militärischen Fähigkeiten auf dem Gebiet der neuen Nato-Mitglieder zu
stationieren. Damit wollte die Nato bei ihrer Erweiterung 1997 russischen
Einkreisungsängsten begegnen. Zehn Jahre später schert Washington aus.
Richtig bleibt auch, dass Russlands nukleare Abschreckungs- und Zweitschlagsfähigkeit
durch zehn Abfangraketen in Polen nicht gleich in Frage gestellt würde, nur weil neben
iranischen auch einige wenige russische Raketen abgefangen werden könnten. Unzutreffend
aber wird ein oft benutztes Argument der Vergangenheit: Es geht nicht länger um ein
System, das nur dem Schutz der USA dient. Auch Europa - um genau zu sein, der größte
Teil der europäischen Nato - soll geschützt werden.
Das macht das Vorhaben politisch zu einem Fall auch für das Bündnis: Die Nato
diskutiert seit Jahren über Raketenabwehrsysteme. Bislang einigte sie sich auf den
kleinsten gemeinsamen Nenner. Nationale Fähigkeiten zur Abwehr von taktischen Raketen,
die Nato-Kontingente bei Auslandseinsätzen bedrohen könnten, sollen zu einem taktischen
Raketenabwehrsystem integriert werden. Entscheidungen über leistungsstärkere
Abwehrsysteme, die Zentren in Europa verteidigen könnten, wurden vertagt. Washington
prescht jetzt vor. Die zögerliche Nato, so wird suggeriert, könne vom US-Schutzschirm
vorläufig kostenfrei profitieren und ihn später auf eigene Kosten erweitern.
Zwar weiß keiner, ob die Raketenabwehr in Europa besser funktionieren würde als jene
in Alaska. Noch gibt es die neue Abfangrakete nicht. Unklar bleibt, ob mit ihr technisch
das Versprechen verwirklicht werden kann, auch Mittelstreckenraketen abzufangen. Offen ist
sogar, ob das je durch Tests geklärt werden kann. Denn um sie zu testen, müsste
Washington Mittelstreckenraketen abschießen, um diese dann abzufangen. Das aber ist
verboten. Denn der INF-Vertrag, mittels dessen Pershing-II- und SS-20-Raketen abgerüstet
wurden, untersagt den USA und Russland den Besitz von Raketen mit 500-5.500 Kilometern
Reichweite.
Hinter der aktuellen Debatte über das US-Raketenabwehrsystem in Europa steckt mehr,
als auf den ersten Blick zu vermuten ist. Es geht um den künftigen Charakter der Nato und
die künftige Strategie der Allianz. Letztere soll möglichst schon bis 2009 formuliert
werden. Wie sie entsteht, wird über den Charakter der Allianz mit entscheiden.
Wie weit folgt die Nato den Veränderungen der nationalen US-Strategie? Die USA haben
unter George W. Bush die Rolle nuklearer Waffen und ihr Abschreckungskonzept deutlich
verändert. Konventionelle und nukleare Offensivkapazitäten sowie Raketenabwehrsysteme
bilden heute eine Einheit. Gegnerische Raketen, die mit einem eigenen Angriff nicht
zerstört werden können, sollen abgefangen werden. Überraschungsangriffe sollen
abgewehrt werden, bevor der Gegenangriff erfolgt. Präventivangriffe auf vorhandene,
entstehende oder befürchtete Massenvernichtungswaffen und Raketenpotenziale staatlicher
und nichtstaatlicher Gegner sind eingeschlossen. Dafür werden neue konventionelle und
nukleare Waffen entwickelt.
Ist die Nato als Ganze bereit, dabei mitzugehen? Oder nur einzelne Staaten? Es
verwundert nicht, dass Washington den betroffenen europäischen Ländern derzeit zwei
Fragen vorlegt: Wie haltet ihr es mit der Raketenabwehr? Und wie mit den Atomwaffen in
Europa, mit der nuklearen Teilhabe? Nur wer beide Ansinnen zurückweist, signalisiert
Washington, dass Europa den USA ein eigenständiger sicherheitspolitischer Partner sein
kann und will.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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