TAZ
27. März 2007


Das Raketenabwehrbündnis

von Otfried Nassauer

Beim Streit um das US-Antiraketensystem in Polen und Tschechien geht es auch um die Zukunft der Nato: Ist sie mehr als nur ein willfähriges Organ der nationalen US-Politik?

Wer Raketen abwehren will, braucht Bündnispartner. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Washington, Warschau, Prag und Berlin derzeit anscheinend einigen können. Sie streiten über das geplante Raketenabwehrsystem der USA in Europa. Washington will es in Polen und Tschechien stationieren. Berlin ist - noch - dagegen. Beide Seiten hoffen, Alliierte in der Nato zu finden. Die einen sammeln Unterstützung für ihre Stationierungspläne. Die anderen suchen Bündnispartner, die eine solche Entscheidung vertagen wollen oder ganz ablehnen.

Liegt in der Überbrückung wichtiger Gegensätze zwischen den Bündnismitgliedern dieser Tage die wahre Bedeutung und Funktion der Nato? Das klingt scharf, ist aber richtig. Der hitzige Disput ist ein Zeichen für den Zustand des vorgeblich erfolgreichsten Militärbündnisses der Geschichte. Die Nato ist nicht mehr, was sie einmal war - oder zumindest vorgab zu sein: der Ort, an dem die Alliierten nach Konsultationen gemeinsam Entscheidungen treffen. Heute wird in Brüssel zwar immer wieder konsultiert, Wichtiges danach aber oft in Washington entschieden. Manchmal sucht Washington sogar nur Partner oder Truppensteller für bereits gefällte Entscheidungen. So wird die Nato zum Werkzeugkasten, aus dem nützliche Teile bei Bedarf entnommen werden können.

Gerhard Schröder hat schon bei der Münchener Sicherheitskonferenz 2005 - die Entscheidung über den Irakkrieg im Hinterkopf - auf dieses Problem hingewiesen und Änderungsbedarf angemeldet. Die Diskussion über das geplante Raketenabwehrsystem kann nun ein neues Beispiel werden. Washington hat bereits klargestellt: Das US-Raketenabwehrsystem soll stationiert werden - ganz egal, was die Nato sagt. Es sei ein nationales System und diene dem Schutz der USA. Deshalb liege die Entscheidung nur bei den Beteiligten - Washington, Warschau und Prag. Über den späteren Einsatz der Abwehrraketen wollen die USA alleine entscheiden - ohne Prag und Warschau.

Polen und Tschechien hoffen mit ihrer Bereitschaft, das Raketenabwehrsystem zu beherbergen, die USA enger an sich zu binden; Polen hofft auf ein bilaterales Sicherheitsabkommen mit Washington. Mit anderen Worten: Die Nato, auf deren Sicherheitsgarantien Polen 1997 setzte, ist Warschau nicht mehr genug. Das Problembewusstsein ist das gleiche wie bei Schröder. Nur das Fazit ist ein anderes - Polen sucht den engen Schulterschluss mit Washington.

Jüngst gelang Washington ein Überraschungseffekt: Der europäische Teil der US-Raketenabwehr soll nicht nur die USA gegen Langstreckenraketen, sondern auch Europa gegen Mittelstreckenwaffen aus dem Iran schützen. Ermöglichen soll das eine kleinere, besser manövrierbare Abfangrakete mit zwei statt bislang drei Antriebsstufen. Das verändert nicht nur die Technik, sondern auch ein Argument.

Weiter gilt zwar, dass die Bedrohung aus dem Iran bislang nicht existiert und niemand sagen kann, wann diese wirklich besteht. Richtig bleibt auch, dass der volle Nachweis, dass das Abwehrsystem wirklich Raketen abfangen kann, bislang nicht erbracht wurde. Berechtigt bleibt auch die Frage, ob das System den absehbaren Streit mit Russland wert ist.

Russland klagt, es werde zwar informiert, aber nicht ernsthaft konsultiert. Es betrachtet den Stationierungsplan als Bruch des Nato-Versprechens, keine strategisch bedeutsamen militärischen Fähigkeiten auf dem Gebiet der neuen Nato-Mitglieder zu stationieren. Damit wollte die Nato bei ihrer Erweiterung 1997 russischen Einkreisungsängsten begegnen. Zehn Jahre später schert Washington aus.

Richtig bleibt auch, dass Russlands nukleare Abschreckungs- und Zweitschlagsfähigkeit durch zehn Abfangraketen in Polen nicht gleich in Frage gestellt würde, nur weil neben iranischen auch einige wenige russische Raketen abgefangen werden könnten. Unzutreffend aber wird ein oft benutztes Argument der Vergangenheit: Es geht nicht länger um ein System, das nur dem Schutz der USA dient. Auch Europa - um genau zu sein, der größte Teil der europäischen Nato - soll geschützt werden.

Das macht das Vorhaben politisch zu einem Fall auch für das Bündnis: Die Nato diskutiert seit Jahren über Raketenabwehrsysteme. Bislang einigte sie sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Nationale Fähigkeiten zur Abwehr von taktischen Raketen, die Nato-Kontingente bei Auslandseinsätzen bedrohen könnten, sollen zu einem taktischen Raketenabwehrsystem integriert werden. Entscheidungen über leistungsstärkere Abwehrsysteme, die Zentren in Europa verteidigen könnten, wurden vertagt. Washington prescht jetzt vor. Die zögerliche Nato, so wird suggeriert, könne vom US-Schutzschirm vorläufig kostenfrei profitieren und ihn später auf eigene Kosten erweitern.

Zwar weiß keiner, ob die Raketenabwehr in Europa besser funktionieren würde als jene in Alaska. Noch gibt es die neue Abfangrakete nicht. Unklar bleibt, ob mit ihr technisch das Versprechen verwirklicht werden kann, auch Mittelstreckenraketen abzufangen. Offen ist sogar, ob das je durch Tests geklärt werden kann. Denn um sie zu testen, müsste Washington Mittelstreckenraketen abschießen, um diese dann abzufangen. Das aber ist verboten. Denn der INF-Vertrag, mittels dessen Pershing-II- und SS-20-Raketen abgerüstet wurden, untersagt den USA und Russland den Besitz von Raketen mit 500-5.500 Kilometern Reichweite.

Hinter der aktuellen Debatte über das US-Raketenabwehrsystem in Europa steckt mehr, als auf den ersten Blick zu vermuten ist. Es geht um den künftigen Charakter der Nato und die künftige Strategie der Allianz. Letztere soll möglichst schon bis 2009 formuliert werden. Wie sie entsteht, wird über den Charakter der Allianz mit entscheiden.

Wie weit folgt die Nato den Veränderungen der nationalen US-Strategie? Die USA haben unter George W. Bush die Rolle nuklearer Waffen und ihr Abschreckungskonzept deutlich verändert. Konventionelle und nukleare Offensivkapazitäten sowie Raketenabwehrsysteme bilden heute eine Einheit. Gegnerische Raketen, die mit einem eigenen Angriff nicht zerstört werden können, sollen abgefangen werden. Überraschungsangriffe sollen abgewehrt werden, bevor der Gegenangriff erfolgt. Präventivangriffe auf vorhandene, entstehende oder befürchtete Massenvernichtungswaffen und Raketenpotenziale staatlicher und nichtstaatlicher Gegner sind eingeschlossen. Dafür werden neue konventionelle und nukleare Waffen entwickelt.

Ist die Nato als Ganze bereit, dabei mitzugehen? Oder nur einzelne Staaten? Es verwundert nicht, dass Washington den betroffenen europäischen Ländern derzeit zwei Fragen vorlegt: Wie haltet ihr es mit der Raketenabwehr? Und wie mit den Atomwaffen in Europa, mit der nuklearen Teilhabe? Nur wer beide Ansinnen zurückweist, signalisiert Washington, dass Europa den USA ein eigenständiger sicherheitspolitischer Partner sein kann und will.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS