TAZ
25. Januar 1994


Die Nato zeigt sich unfähig, neue Optionen zu eröffnen - Wo endet Europa?

Otfried Nassauer


Gipfelluft ist dünne Luft. Diese Erfahrung bestätigt der jüngste Nato-Gipfel. Angekündigt als der lange erwartete Schritt substantieller Öffnung nach Mittel- und Osteuropa und zum Erfolg verdammt, weil US-Präsident Clinton nach einjähriger Konzentration auf die Innenpolitik außenpolitische Führungsqualität, Kompetenz und Erfolge nachweisen mußte, waren die Erwartungen hochgesteckt. Doch die Lektüre der Ergebnisse verbreitet Ernüchterung: im Westen nichts Neues.

„Partnerschaft für den Frieden“, die neue Osteuropa-Initiative der Nato, soll Forderungen der mittelosteuropäischen Staaten und jüngst Litauens nach Nato-Mitgliedschaft und westlichen Sicherheitsgarantien entgegenkommen. Zugleich soll sie sicherstellen, daß weder das eine noch das andere in naher Zukunft erforderlich wird. Ein politischer Spagat zwischen den Interessen Mittelosteuropas und Rußlands? Oder bloß ein diplomatischer Tranquilizer?

In der „Substanz“ lautet das Angebot: Die Allianz bleibt – getreu dem Wortlauf des Nato-Vertrages – für neue Mitglieder offen. Sie ist bereit, mit jedem Land Mittel- und Osteuropas in Konsultationen einzutreten, das seine Sicherheit akut bedroht sieht. Sie setzt ihre sicherheitspolitische Beratungstätigkeit fort. Und: Bis auf weiteres sollte die militärische Zusammenarbeit zwischen Ost und West bilateral am Beispiel friedenerhaltender Maßnahmen im Auftrag von KSZE und UNO geübt werden. Wer sich hier bewährt und beitreten will, kann später mit Wohlwollen rechnen. Der US-Präsident sah sich bemüßigt, während seines Prag-Besuches zu versichern, daß dies wirklich die Option des Nato-Beitritts eröffne.

Kritik aus Mittelosteuropa kann da kaum verwundern. Lech Walesa äußerte kurz vor dem Gipfel: „Die Nato und die Europäische Union machen in den alten Formen und auf den alten Wegen weiter, als habe der Zusammenbruch des Kommunismus nichts auf der internationalen Bühne verändert.“ Verwundern könnte aber, wie schnell diese Kritik aus Angst vor negativen Konsequenzen für den eigenen Beitrittswunsch wieder diplomatisch hintangestellt wurde.

„Partnerschaft für den Frieden“ ist in der Tat ein Meisterstück des Minimalkonsenses, der Diplomatie und westlichen Strukturkonservatismus. Die Initiative beinhaltet, was nach Kleinarbeitung gesamteuropäischer Visionen (zum Beispiel Genscher, Havel, Gorbatschow) des Jahres 1990 gegen die Bedenken der Mitgliedstaaten der Nato in der Realpolitik des Jahres 1994 konsensfähig blieb.

Lech Walesas Ärger dagegen ist kleingearbeitete Hoffnung auf einen europäischen Neuanfang und aktiven westlichen Hilfs- und Integrationswillen: der gescheiterten Hoffnung auf die KSZE als gesamteuropäisches Sicherheitssystem; der ebenso gescheiterten Hoffnung auf frühzeitige EG- oder EU-Integration; und nun: die scheiternde Hoffnung auf baldige Sicherheit im Rahmen der Nato.

Was veranlaßt die Nato-Staaten zu einer solchen Politik? „Rücksicht auf Rußland?“ – wie das Handelsblatt titelte? Rücksicht auf den durch die jüngsten Wahlen nicht gestärkten Boris Jelzin, dessen Gegner immer deutlicher auf der Posaune nationaler Interessen und imperialer Ansprüche spielen?

Kaum. Das Gipfelergebnis ist weit mehr Konsequenz innerwestlicher Dispute. Sie erlauben zur Zeit (und vielleicht auf Dauer) kein kohärentes Konzept europäischer Sicherheit.

Das Dilemma offenbart sich in der Gipfelrede des britischen Premiers John Major. Gegen eine Osterweiterung der Nato wendet er ein: „Es darf keine neue Trennungslinie in Europa geben, keine Herausbildung neuer Blöcke.“ Kurz darauf charakterisiert er das von „Partnerschaft für den Frieden“ erhoffte Ergebnis: Die Initiative sei „ein auf Wachstum angelegtes Herangehen mit der Aussicht auf schließliche Mitgliedschaft für einige Staaten“ Osteuropas. Einige Staaten – nicht alle.

Die entscheidende, innerhalb der Nato unbeantwortete Frage lautet: Wo endet Europa künftig? An den alten Außengrenzen der Sowjetunion? An den neuen Außengrenzen der GUS? Am russischen Pazifik? Oder an den Grenzen des katholisch-protestantisch- christlichen Abendlandes?

Da mag aus mittelosteuropäischer Sicht der Geist von Jalta auferstehen, der russische Neoimperialismus beschworen werden oder für manche gar ein neuer Molotow-Ribbentrop-Pakt dräuen – ohne Einigung in der Frage „Welches Europa?“ läuft die Nato-Ostpolitik in Slowmotion.

Eine Ursache des Dilemmas ist eindeutig: Westliche Politik will europäische Sicherheit nicht als „kollektive Sicherheit“, gesamteuropäische nicht als gesamteuropäische Innenpolitik organisieren. Sicherheit steht für die Staaten der Nato weiterhin unter dem Vorzeichen kollektiver Verteidigung. An die Stelle des künftig weniger bedrohten Nato-Territoriums tritt immer offener die kollektive Verteidigung westlicher Interessen. Dies zwingt zu dem Wissen, daß aus Ressourcengründen – zu gegebenem Zeitpunkt – eine neue Trennlinie durch das Europa in den Grenzen der KSZE gezogen werden muß. Wo aber? Darüber gehen die Meinungen und die Interessen fürderhin auseinander.

Dieser Frage wich der Gipfel aus und wendete sich der Ausformung kollektiver Verteidigung zu:

  • der Erweiterung der politischen Legitimation der Nato und ihrer Streitkräfte um militärische Maßnahmen in Unterstützung und Nutzung von KSZE und UNO
  • und der Neugestaltung des Verhältnisses von WEU und Nato, in deren Kontext der WEU rasch Nato-unterstütztes und künftig eigenständiges militärisches Handeln ermöglicht werden soll.

Brüssel signalisiert (kollek)tiefe Unsicherheit. Unsicherheit über längerfristige Stabilität und Zukunft des transatlantischen Verhältnisses, über die Zuständigkeitsaufteilung zwischen europäischen und amerikanischen Nato-Staaten und über die richtige Politik gegenüber Mittel- und Osteuropa. Für keine dieser Fragen deutet sich eine langfristig tragfähige Lösung an. Angesichts der doppelten Entscheidungsunfähigkeit, weder für eine neue, innereuropäische Trennungslinie unter Ausschluß Rußlands bzw. aller slawisch-orthodoxen Länder noch für eine gesamteuropäische kollektive Sicherheitsstruktur, trifft man sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner: die Allianz kehrt zu ihren Ursprüngen als Militärbündnis zurück, verlagert Teile ihrer politischen Legitimation und ihrer militärischen Aufgaben in die Weite der (UN-)Welt und verbannt die Kooperation mit den risikobehafteten, instabilen Spaltprodukten des ehemals „real existierenden Sozialismus“ in unverbindliche Konsultationsprozesse des Nordatlantischen Kooperationsrates und der KSZE. Das birgt unübersehbar das Risiko der Stagnation. Stagnation aber – und das muß beileibe kein Privileg der Breschnew- Phase sein – war schon des öfteren der letzte Vorbote von Krise und Zerfall.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS