Die Nato zeigt sich unfähig, neue Optionen zu eröffnen - Wo endet Europa?
Otfried Nassauer
Gipfelluft ist dünne Luft. Diese Erfahrung bestätigt der
jüngste Nato-Gipfel. Angekündigt als der lange erwartete
Schritt substantieller Öffnung nach Mittel- und Osteuropa und zum
Erfolg verdammt, weil US-Präsident Clinton nach einjähriger
Konzentration auf die Innenpolitik außenpolitische
Führungsqualität, Kompetenz und Erfolge nachweisen
mußte, waren die Erwartungen hochgesteckt. Doch die Lektüre
der Ergebnisse verbreitet Ernüchterung: im Westen nichts Neues.
„Partnerschaft für den Frieden“, die neue
Osteuropa-Initiative der Nato, soll Forderungen der
mittelosteuropäischen Staaten und jüngst Litauens nach
Nato-Mitgliedschaft und westlichen Sicherheitsgarantien entgegenkommen.
Zugleich soll sie sicherstellen, daß weder das eine noch das
andere in naher Zukunft erforderlich wird. Ein politischer Spagat
zwischen den Interessen Mittelosteuropas und Rußlands? Oder
bloß ein diplomatischer Tranquilizer?
In der „Substanz“ lautet das Angebot: Die Allianz
bleibt – getreu dem Wortlauf des Nato-Vertrages – für
neue Mitglieder offen. Sie ist bereit, mit jedem Land Mittel- und
Osteuropas in Konsultationen einzutreten, das seine Sicherheit akut
bedroht sieht. Sie setzt ihre sicherheitspolitische
Beratungstätigkeit fort. Und: Bis auf weiteres sollte die
militärische Zusammenarbeit zwischen Ost und West bilateral am
Beispiel friedenerhaltender Maßnahmen im Auftrag von KSZE und UNO
geübt werden. Wer sich hier bewährt und beitreten will, kann
später mit Wohlwollen rechnen. Der US-Präsident sah sich
bemüßigt, während seines Prag-Besuches zu versichern,
daß dies wirklich die Option des Nato-Beitritts eröffne.
Kritik aus Mittelosteuropa kann da kaum verwundern. Lech
Walesa äußerte kurz vor dem Gipfel: „Die Nato und die
Europäische Union machen in den alten Formen und auf den alten
Wegen weiter, als habe der Zusammenbruch des Kommunismus nichts auf der
internationalen Bühne verändert.“ Verwundern
könnte aber, wie schnell diese Kritik aus Angst vor negativen
Konsequenzen für den eigenen Beitrittswunsch wieder diplomatisch
hintangestellt wurde.
„Partnerschaft für den Frieden“ ist in der
Tat ein Meisterstück des Minimalkonsenses, der Diplomatie und
westlichen Strukturkonservatismus. Die Initiative beinhaltet, was nach
Kleinarbeitung gesamteuropäischer Visionen (zum Beispiel Genscher,
Havel, Gorbatschow) des Jahres 1990 gegen die Bedenken der
Mitgliedstaaten der Nato in der Realpolitik des Jahres 1994
konsensfähig blieb.
Lech Walesas Ärger dagegen ist kleingearbeitete Hoffnung
auf einen europäischen Neuanfang und aktiven westlichen Hilfs- und
Integrationswillen: der gescheiterten Hoffnung auf die KSZE als
gesamteuropäisches Sicherheitssystem; der ebenso gescheiterten
Hoffnung auf frühzeitige EG- oder EU-Integration; und nun: die
scheiternde Hoffnung auf baldige Sicherheit im Rahmen der Nato.
Was veranlaßt die Nato-Staaten zu einer solchen Politik?
„Rücksicht auf Rußland?“ – wie das
Handelsblatt titelte? Rücksicht auf den durch die jüngsten
Wahlen nicht gestärkten Boris Jelzin, dessen Gegner immer
deutlicher auf der Posaune nationaler Interessen und imperialer
Ansprüche spielen?
Kaum. Das Gipfelergebnis ist weit mehr Konsequenz
innerwestlicher Dispute. Sie erlauben zur Zeit (und vielleicht auf
Dauer) kein kohärentes Konzept europäischer Sicherheit.
Das Dilemma offenbart sich in der Gipfelrede des britischen
Premiers John Major. Gegen eine Osterweiterung der Nato wendet er ein:
„Es darf keine neue Trennungslinie in Europa geben, keine
Herausbildung neuer Blöcke.“ Kurz darauf charakterisiert er
das von „Partnerschaft für den Frieden“ erhoffte
Ergebnis: Die Initiative sei „ein auf Wachstum angelegtes
Herangehen mit der Aussicht auf schließliche Mitgliedschaft
für einige Staaten“ Osteuropas. Einige Staaten – nicht
alle.
Die entscheidende, innerhalb der Nato unbeantwortete Frage
lautet: Wo endet Europa künftig? An den alten Außengrenzen
der Sowjetunion? An den neuen Außengrenzen der GUS? Am russischen
Pazifik? Oder an den Grenzen des katholisch-protestantisch-
christlichen Abendlandes?
Da mag aus mittelosteuropäischer Sicht der Geist von
Jalta auferstehen, der russische Neoimperialismus beschworen werden
oder für manche gar ein neuer Molotow-Ribbentrop-Pakt dräuen
– ohne Einigung in der Frage „Welches Europa?“
läuft die Nato-Ostpolitik in Slowmotion.
Eine Ursache des Dilemmas ist eindeutig: Westliche Politik
will europäische Sicherheit nicht als „kollektive
Sicherheit“, gesamteuropäische nicht als
gesamteuropäische Innenpolitik organisieren. Sicherheit steht
für die Staaten der Nato weiterhin unter dem Vorzeichen
kollektiver Verteidigung. An die Stelle des künftig weniger
bedrohten Nato-Territoriums tritt immer offener die kollektive
Verteidigung westlicher Interessen. Dies zwingt zu dem Wissen,
daß aus Ressourcengründen – zu gegebenem Zeitpunkt
– eine neue Trennlinie durch das Europa in den Grenzen der KSZE
gezogen werden muß. Wo aber? Darüber gehen die Meinungen und
die Interessen fürderhin auseinander.
Dieser Frage wich der Gipfel aus und wendete sich der Ausformung kollektiver Verteidigung zu:
- der Erweiterung der politischen Legitimation der Nato und
ihrer Streitkräfte um militärische Maßnahmen in
Unterstützung und Nutzung von KSZE und UNO
- und der Neugestaltung des Verhältnisses von WEU und
Nato, in deren Kontext der WEU rasch Nato-unterstütztes und
künftig eigenständiges militärisches Handeln
ermöglicht werden soll.
Brüssel signalisiert (kollek)tiefe Unsicherheit.
Unsicherheit über längerfristige Stabilität und Zukunft
des transatlantischen Verhältnisses, über die
Zuständigkeitsaufteilung zwischen europäischen und
amerikanischen Nato-Staaten und über die richtige Politik
gegenüber Mittel- und Osteuropa. Für keine dieser Fragen
deutet sich eine langfristig tragfähige Lösung an. Angesichts
der doppelten Entscheidungsunfähigkeit, weder für eine neue,
innereuropäische Trennungslinie unter Ausschluß
Rußlands bzw. aller slawisch-orthodoxen Länder noch für
eine gesamteuropäische kollektive Sicherheitsstruktur, trifft man
sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner: die Allianz kehrt zu ihren
Ursprüngen als Militärbündnis zurück, verlagert
Teile ihrer politischen Legitimation und ihrer militärischen
Aufgaben in die Weite der (UN-)Welt und verbannt die Kooperation mit
den risikobehafteten, instabilen Spaltprodukten des ehemals „real
existierenden Sozialismus“ in unverbindliche
Konsultationsprozesse des Nordatlantischen Kooperationsrates und der
KSZE. Das birgt unübersehbar das Risiko der Stagnation. Stagnation
aber – und das muß beileibe kein Privileg der Breschnew-
Phase sein – war schon des öfteren der letzte Vorbote von
Krise und Zerfall.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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