Putins letzte Schlacht
von Otfried Nassauer
Der Streit zwischen Russland und den USA um ihre geplanten Raketenabwehrsysteme in
Osteuropa ist Teil eines grundsätzlichen Konflikts: Ist der Westen bereit, Russland
mitentscheiden zu lassen?
Der Ton wird schärfer: Ein Jahr vor den russischen Präsidentschaftswahlen
manifestiert Wladimir Putin Russlands Dissens zum Westen. Washingtons Raketenabwehrpläne,
unerfüllte Versprechen des Westens bei der konventionellen Rüstungskontrolle, die
Zukunft des Kosovos - die Liste der Streitpunkte wird länger, bei denen Moskau
Widerspruch anmeldet, Gegenmaßnahmen ankündigt oder gar mit seinem Veto droht.
Der Westen kontert: Demokratiedefizit, Putins autoritärer Regierungsstil,
Menschenrechtsverletzungen - Themen, bei denen Angela Merkel und George W. Bush die
Offensive suchen. Sicherheitspolitisch dagegen wiegeln sie ab: Die US-Raketenabwehrpläne
seien kein Grund, zu "hyperventilieren". Weder sei ein Rückfall in den Kalten
Krieg gewollt noch ein neues Wettrüsten.
Ist die ganze Aufregung also umsonst? Nein, denn jedem der einzelnen Streitpunkte
liegen die gleichen Fragen zugrunde: Sieht der Westen Russland nur so lange als Partner,
wie Moskau die politische Agenda und die Ziele des Westens mitträgt oder zumindest
hinnimmt? Will der Westen Moskau über wichtige Entscheidungen nur informieren - oder ist
er bereit, Russland ernsthaft zu konsultieren und mitentscheiden zu lassen?
Die Streitpunkte sind real: Moskau lehnt eine "überwachte Unabhängigkeit"
des Kosovos ab, weil es einen völkerrechtlichen Präzedenzfall fürchtet, wenn ein Teil
eines Staates gegen den Willen desselben unabhängig wird. Die US-Raketenabwehrpläne
gefährden Moskaus nukleare Abschreckungsfähigkeit zwar noch nicht, aber sie tangieren
sie und könnten das Abschreckungssystem längerfristig destabilisieren. Darüber hinaus
bricht Washington mit seinen Plänen ein Versprechen an Moskau: In den neuen
Nato-Mitgliedstaaten werde es keine dauerhafte Stationierung strategisch relevanter
Waffenpotenziale geben. Um nicht eingehaltene Zusagen des Westens geht es auch bei der
konventionellen Rüstungskontrolle. Die Nato-Erweiterungen sollten jeweils durch eine
Anpassung der Verträge über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) abgefedert
werden. Der erste wurde 1999 fertig - aber vom Westen bis heute nicht ratifiziert. Über
den Vertrag zur zweiten Erweiterungsrunde wird noch nicht einmal verhandelt. Die Nato
diskutiert über eine dritte Erweiterungsrunde.
Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, demonstriert Moskau seine durch
politische und wirtschaftliche Stabilisierung wiedergewonnene Handlungsfähigkeit:
Russland setzt die Umsetzung des angepassten KSE-Vertrages teilweise aus. Es signalisiert,
ohne den Vertrag leben zu können. Moskau demonstriert mit dem Test einer neuen
Interkontinentalrakete, dass es sein Nuklearpotenzial modernisieren und stärken kann. Es
deutet an, auch ohne Start-1- und INF-Vertrag leben zu können. Letzterer verbietet den
Besitz von Mittelstreckenwaffen mit 500 bis 5.500 Kilometer Reichweite. Solche Waffen
könnten Ziele in Europa - etwa die Raketenabwehrstellungen Washingtons - ins Visier
nehmen.
Gut gewählt sind die Streitpunkte, weil in der Nato Widersprüche existieren. Bei
jeder Frage weiß Moskau, dass einige europäische Staaten seine Bedenken teilen. Es
weiß, dass etliche Nato-Mitglieder wollen, dass die Allianz wieder zu einem Ort
kollektiver sicherheitspolitischer Entscheidungen wird. Das öffnet die Tür für die
wichtigste Frage: Sollen zentrale Entscheidungen europäischer Sicherheit künftig mit
oder gegen Russland fallen? Steht der Westen zu seiner Zusage, den Nato-Russland-Rat so
auszubauen, dass Russland und die Nato-Mitglieder dort gemeinsam Entscheidungen treffen
können?
Wladimir Putin sucht diese Kontroverse ohne Risiko. Er wird als der Präsident in die
russischen Geschichtsbücher eingehen, der den politischen und wirtschaftlichen Niedergang
Russlands stoppte, dem Land die Würde wiedergab. Mit einer Debatte, in der der Westen
entscheiden muss, ob Europas Sicherheit mit oder gegen Russland gestaltet werden soll,
kann es Putin gelingen, Gleiches in der Außen- und Sicherheitspolitik zu erreichen. Ein
Risiko geht er dabei nicht ein. Die Entscheidung, ob es eine neue Konfrontation gibt,
fällt entweder der Westen oder sein Nachfolger.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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