Strategie der Offensive
Otfried Nassauer
Für die Nato brechen neue Zeiten an politisch und
militärisch. Die Osterweiterung des Bündnisses ist darüber fast zur Nebensache
geworden. Entscheidend wird in Prag vielmehr die Frage sein, wie sich die transatlantische
Organisation für neue Herausforderungen organisiert.
Die Nato steckt in der Krise. Lord Robertson, der Generalsekretär sah
sie gar vor der Wahl zwischen Modernisierung und Marginalisierung. Robertson glaubt, der
Grund sei vor allem in der wachsenden Ausrüstung-, Bewaffnungs- und Technologielücke
zwischen den USA und Europa zu suchen. Andere meinen, die Krise sei grundsätzlicher. Sie
sehen deren Ursprung entweder in mangelndem europäischen Willen zu harter militärischer
Machtpolitik oder in der amerikanischen Neigung, zu einem primär militärisch
abgestützten Handeln, dass auf die Bündnispartner nur Rücksicht nimmt, wenn diese der
amerikanischen Führung folgen. Alle gemeinsam sehen einen dritten Aspekt: Die Nato ist
ein regionales, kollektives Verteidigungsbündnis, dem es schwer fällt, in Kategorien
globalen militärischen Handelns zu denken.
Welche Strategie entwickelt die Nato?
Obwohl die Nato schon einen Tag nach den Anschlägen vom 11. September den Bündnisfall
erklärte, riefen die USA nur wenig Hilfe ab und vermieden es, die Allianz in
militärische Entscheidungen einzubeziehen. Robertson versucht seither, diesem
Relevanzverlust entgegenzusteuern. Das Bündnis müsse die Terrorismusbekämpfung mit ins
Zentrum ihrer Aktivitäten holen. Der Bekämpfung der Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen komme wachsende Bedeutung zu. Manches sei schon erreicht. So sei
die Debatte über Out-of-area-Einsätze zu den Akten gelegt und die Nato könne Einsätze
jetzt nach Erfordernis und wo nötig durchführen das heißt: weltweit. Ein vom
Militärausschuss erarbeitetes Militärisches Konzept zur Verteidigung gegen den
Terrorismus soll jetzt verabschiedet werden.
Einfach wird das nicht. Die USA haben ihre nationale Strategie verändert. Sie schließen
nicht mehr aus, selbst anzugreifen, bevor sie angegriffen werden können. Dafür stehen
die Begriffe präemptive Schläge und defensive Intervention.
Selbst der Einsatz nuklearer Waffen wird nicht ausgeschlossen. Damit gerät die Nato in
ein Dilemma. Passt sie ihre Strategie an, so bekäme sie Probleme mit der
völkerrechtlichen Legitimität ihrer Planungen. Weder präemptive Angriffe noch der
Einsatz nuklearer Waffen wären völkerrechtlich gedeckt. Die Nato liefe Gefahr, aktiv das
Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu schwächen und an der Deregulierung der
internationalen Beziehungen mitzuwirken.
Welche militärischen Mittel will die Nato zukünftig einsetzen?
Mit den Waffen des Kalten Krieges lassen sich die Zukunftsaufgaben kaum bewältigen. Zwei
Vorschläge sollen Abhilfe schaffen. US-Verteidigungsminister Rumsfeld will, dass das
Bündnis eine schnelle Eingreiftruppe für weltweite Interventionen aufbaut die
Nato Response Force (NRF). Der Truppe, 21 000 Mann stark, sollen Heeresverbände in
Brigadegröße, Kampfflugzeuge für bis zu 200 Einsätze am Tag und Marinekräfte
zugeordnet werden. Ab Oktober 2006 soll sie binnen fünf bis 30 Tagen global einsetzbar
sein, spezialisiert auf intensive Kampfhandlungen, um an Interventionen wie in Afghanistan
mitzuwirken.
Die zweite Initiative heißt Prague Capabilities Commitment (PCC). Vor allem
die europäischen Nato-Staaten sollen sich verpflichten, zu festen Terminen bestimmte
militärische Fähigkeiten in Kernbereichen wie dem Luft- und Seetransport, der ABC-Abwehr
oder im Bereich Führung bereitzustellen. Die Bundesrepublik, so die Londoner
Times, soll beispielsweise Großraumtransportflugzeuge leasen. Die PCC sind
vor allem auf den Bedarf für ein globales Agieren ausgerichtet.
Wie sieht die Kommandostruktur aus?
Der Gipfel soll Vorgaben für eine schlankere, flexiblere Kommandostruktur beschließen.
Eine heikle Aufgabe, geht es doch für jeden Nato-Staat um Einfluss, den Anteil an gut
dotierten Posten und um die Hauptquartiere auf seinem Boden. Bis Sommer 2003 will man
fertig sein. Die Reform der US-Kommando-Struktur hat Besorgnis ausgelöst. Die Nato soll
ihren wichtigsten Stab in den USA, Saclant, aufgeben. Ein operatives strategisches
Oberkommando sei genug. Doch Saclant ist auch Symbol für die Nato-Aufgabe, zur
Verteidigung der USA beizutragen. Ein Signal, dass das Bündnis zur Verteidigung der USA
nicht gebraucht wird? Washington hat angeboten, Saclant in ein strategisches
Transformationskommando umzuwandeln und dort künftige Einsatzkonzepte und
Operationsformen zu planen. Das, fürchtet mancher Europäer, sei ein Danaergeschenk.
Sind die europäischen Nato-Staaten und die USA einer Meinung?
Obwohl die US-Initiativen begrüßt werden, gibt es in Europa Bedenken. Außenminister
Joschka Fischer nennt drei Punkte: Erstens müsse die Entscheidung über den Einsatz der
NRF beim Nato-Rat liegen, also einstimmig fallen. Zweitens sei eine deutsche
Einsatz-Beteiligung nur nach einem Bundestagsbeschluss möglich. Der deutsche
Parlamentsvorbehalt soll nicht ausgehebelt werden. Damit erhöht sich der Druck, die
nationale Entscheidungsfindung zum Beispiel durch ein Entsendegesetz zu
beschleunigen. Drittens müsse die NRF mit dem Aufbau europäischer Krisenreaktionskräfte
vereinbar sein. Da liegt das Kernproblem: Die NRF benötigt wegen der Rotation
mindestens 60 000 Soldaten. Soldaten, die zugleich als EU-Krisenkräfte vorgemerkt
sind. Wäre die NRF häufig im Einsatz, so hätte die EU sie kaum zur Verfügung. Um die
Zusammenarbeit mit US-Truppen zu gewährleisten, müsste die NRF wie alle anderen
EU-Kräfte auch nach US-Vorbild modernisiert werden. Die PCC-Initiative und das
Nato-Oberkommando für Transformation würden in die gleiche Richtung wirken. Der Aufbau
autonomer EU-Fähigkeiten würde sich verteuern und stärker an den USA ausrichten. Eine
Garantie, dass Washington Europa dafür strategische Mitsprache beim Umgang mit Krisen
gewährt, ergäbe sich aber nicht.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische
Sicherheit (BITS).
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