Tagesspiegel
16. Juni 2002


Ohne Vorwarnung

Otfried Nassauer

In Kürze wird US-Präsident George W. Bush seine neue Sicherheitsstrategie vorstellen. Sie wird radikal sein und heftige Debatten auslösen – nicht nur in Europa. Amerika will künftig die Souveränität von Staaten begrenzen und sich das Recht nehmen, die „Achse des Bösen“ anzugreifen. Zur Prävention.

Große Ereignisse werfen lange Schatten voraus. So auch dieser Tage: Der Präsident der Vereinigten Staaten hat die Verpflichtung, dem Kongress jedes Jahr eine „Nationale Sicherheitsstrategie" vorzulegen. Geduldet wird, wenn ein neuer Präsident dies im ersten Amtsjahr unterlässt. Er soll sein eigenes Konzept entwickeln können. George W. Bush benötigt länger. Im Frühherbst, mehr als anderthalb Jahre nach seiner Amtseinführung, soll George W. Bushs erstes Strategiedokument präsentiert werden. Erarbeitet wird es unter Führung von Condoleezza Rice, Bushs Sicherheitsberaterin. Die Verzögerung hat Gründe. Nicht nur die Terroranschläge des 11. September sollen ihren Niederschlag finden. Bush will auch mit etlichen Tabus amerikanischer Sicherheitspolitik brechen. Seit Monaten sickern alarmierende Elemente in die Öffentlichkeit.

George W. Bush machte persönlich den Anfang. In einer Rede an die Nation im Januar machte er deutlich: Terrorismus und das Streben nach beziehungsweise der Besitz von Massenvernichtungswaffen können amerikanische Interventionen auslösen. Afghanistan gilt als Beispiel für Ersteres, der Irak als Teil der „Achse des Bösen" als Beispiel für das Zweite. Es ist dabei unerheblich, ob der das Eingreifen auslösende Akteur ein Staat oder ein nicht-staatlicher Akteur ist.


Die Logik des letzten Mittels

Vor Absolventen der Militärakademie in West Point ging Bush kürzlich einen Schritt weiter. „Eindämmung ist nicht möglich, wenn unkalkulierbare Diktatoren Massenvernichtungswaffen mit Raketen einsetzen können oder im Geheimen an Terroristen weitergeben könnten. (…) Wenn wir warten, bis solche Bedrohungen voll entstanden sind, dann haben wir zu lange gewartet." Und: „Der Krieg gegen den Terrorismus kann nicht aus der Defensive gewonnen werden. Wir müssen das Gefecht zum Feind tragen, seine Pläne durchbrechen und die schlimmsten Bedrohungen angehen, bevor sie aufkommen. In der Welt, die wir jetzt betreten haben, ist der einzige Weg zur Sicherheit der des Handelns. Und diese Nation wird handeln."

Hatte der Präsident etwa angedeutet, dass die USA künftig bereit seien, auch präventiv militärisch einzugreifen? In der Tat, das hatte er. Andere Regierungsmitglieder legten nach: Vize-Präsident Cheney: „Wir werden nicht warten, bis es zu spät ist." Ein ungenannter hoher Regierungsbeamter in der Washington Post: Ja, die neue Nationale Sicherheitsstrategie werde die Möglichkeit zu Präemption und zu „defensiven Interventionen" enthalten, also zu Militäraktionen, die verhindern sollen, dass Amerika, dessen Verbündete und Freunde angegriffen werden können. Solche Schläge müssten ohne „vorhergehende Warnung" erfolgen. Macht die Regierung Bush diese Ankündigungen wahr, so hat das tief greifende Folgen. Es mag zwar auf den ersten Blick plausibel klingen, Terroristen ihre Terrormittel und Diktatoren ihre Massenvernichtungswaffen aus der Hand zu schlagen, bevor sie diese benutzen können.

Aber es gibt auch schwerwiegende Gegenargumente: Solche Angriffe können nicht völkerrechtlich legitimiert werden, und sie wären auch nicht mit dem Völkerrecht vereinbar. Da sie ohne Warnung erfolgen müssen, um durch Überraschung erfolgreich zu sein, können sie nicht vorher durch die UN gebilligt werden – das würde die Angriffsabsicht öffentlich machen.

Also muss die Entscheidung zunächst allein in Washington getroffen und erst im Nachhinein vor der Weltöffentlichkeit gerechtfertigt werden. Da die meisten Beweise zur Rechtfertigung mit hoher Wahrscheinlichkeit geheimdienstlichen Ursprungs sind, werden sie kaum vorgelegt werden, um die Informationsquellen zu schützen. Damit verliert die Rechtfertigung weiter an Glaubwürdigkeit, weil sie theoretisch fabriziert sein könnte, weil Gegenindizien unterdrückt worden sein könnten. Mit anderen Worten: Washington nähme sich so offensichtlich Sonderrechte in der Weltgemeinschaft heraus, dass andere versucht sein könnten, den USA nachzueifern. Das Gewaltmonopol der UN wäre endgültig ausgehöhlt.

Doch damit nicht genug: Washington, das macht das Ergebnis der im März öffentlich gewordenen, geheimen Überprüfung der Nuklearstrategie und des Nuklearwaffenpotenzials deutlich, schließt auch den Einsatz nuklearer Waffen in solchen Szenarien nicht aus. Atomwaffen wären, so die Logik, das „letzte Mittel", zu dessen Einsatz man nur greifen werde, wenn andere Waffen nicht die gewünschte Wirkung erzielen könnten. Ausschließen will man den Einsatz nuklearer Waffen, auch den präemptiven Einsatz, jedenfalls nicht.


In Planung: Die nächsten Schritte


In der Nato präsentierte der amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld die neuen amerikanischen Ideen erstmals vor den Verteidigungsministern in der vergangenen Woche. Washington wünscht, dass Brüssel mitzieht und die Strategie der Allianz der amerikanischen anpasst.

Eine lebhafte Debatte steht bevor: Können sich die europäischen Staaten vorstellen, mitzumachen, wenn Staaten oder nichtstaatliche Akteure wie Terroristen ohne Vorwarnung und ohne völkerrechtliche Absicherung angegriffen werden, notfalls auch mit Nuklearwaffen? Langgediente in Brüssel sehen „eine höllische Debatte" auf das Bündnis zukommen. Haben doch die europäischen Nato-Staaten bislang ein solches Vorgehen immer angelehnt. Doch Washington ist zuversichtlich: Die Allierten hätten im Grundsatz „einen Konsens" erzielt, berichtete ein amerikanischer Beamter hinterher dem „Guardian“. Davon dürfte mancher Europäer allerdings noch nichts ahnen.

Und doch bereitet Washington bereits die nächsten Schritte vor. Richard Haass, Leiter der politischen Planungsabteilung des amerikanischen Außenministeriums, bringt die amerikanischen Ideen für ein neues Interventions- und Völkerrecht auf den Punkt: „Ich weiß zwar nicht, ob es eine Doktrin darstellt, aber was Sie in unserer Regierung beobachten können, ist die Entwicklung einer Reihe von Ideen, die Sie die Grenzen der Souveränität nennen könnten. Souveränität beinhaltet Verpflichtungen. Man kann seine eigene Bevölkerung nicht massakrieren. Man kann auch den Terrorismus nicht in irgendeiner Weise unterstützen. Wenn eine Regierung ihre Verpflichtungen nicht einhält, dann vergibt sie sich manche Vorteile der Souveränität, einschließlich des Rechts, innerhalb ihres Territoriums in Ruhe gelassen zu werden. Andere Regierungen, einschließlich der USA, bekommen das Recht zu intervenieren." So weit die Theorie.

Man darf gespannt sein, ob auch diese Überlegung ihren Weg in die neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA finden wird.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).