Ohne Vorwarnung
Otfried Nassauer
In Kürze wird US-Präsident George W. Bush seine neue
Sicherheitsstrategie vorstellen. Sie wird radikal sein und heftige Debatten auslösen
nicht nur in Europa. Amerika will künftig die Souveränität von Staaten begrenzen
und sich das Recht nehmen, die Achse des Bösen anzugreifen. Zur Prävention.
Große Ereignisse werfen lange Schatten voraus. So auch dieser Tage: Der Präsident der
Vereinigten Staaten hat die Verpflichtung, dem Kongress jedes Jahr eine Nationale
Sicherheitsstrategie" vorzulegen. Geduldet wird, wenn ein neuer Präsident dies im
ersten Amtsjahr unterlässt. Er soll sein eigenes Konzept entwickeln können. George W.
Bush benötigt länger. Im Frühherbst, mehr als anderthalb Jahre nach seiner
Amtseinführung, soll George W. Bushs erstes Strategiedokument präsentiert werden.
Erarbeitet wird es unter Führung von Condoleezza Rice, Bushs Sicherheitsberaterin. Die
Verzögerung hat Gründe. Nicht nur die Terroranschläge des 11. September sollen ihren
Niederschlag finden. Bush will auch mit etlichen Tabus amerikanischer Sicherheitspolitik
brechen. Seit Monaten sickern alarmierende Elemente in die Öffentlichkeit.
George W. Bush machte persönlich den Anfang. In einer Rede an die Nation im Januar machte
er deutlich: Terrorismus und das Streben nach beziehungsweise der Besitz von
Massenvernichtungswaffen können amerikanische Interventionen auslösen. Afghanistan gilt
als Beispiel für Ersteres, der Irak als Teil der Achse des Bösen" als
Beispiel für das Zweite. Es ist dabei unerheblich, ob der das Eingreifen auslösende
Akteur ein Staat oder ein nicht-staatlicher Akteur ist.
Die Logik des letzten Mittels
Vor Absolventen der Militärakademie in West Point ging Bush kürzlich einen Schritt
weiter. Eindämmung ist nicht möglich, wenn unkalkulierbare Diktatoren
Massenvernichtungswaffen mit Raketen einsetzen können oder im Geheimen an Terroristen
weitergeben könnten. (
) Wenn wir warten, bis solche Bedrohungen voll entstanden
sind, dann haben wir zu lange gewartet." Und: Der Krieg gegen den Terrorismus
kann nicht aus der Defensive gewonnen werden. Wir müssen das Gefecht zum Feind tragen,
seine Pläne durchbrechen und die schlimmsten Bedrohungen angehen, bevor sie aufkommen. In
der Welt, die wir jetzt betreten haben, ist der einzige Weg zur Sicherheit der des
Handelns. Und diese Nation wird handeln."
Hatte der Präsident etwa angedeutet, dass die USA künftig bereit seien, auch präventiv
militärisch einzugreifen? In der Tat, das hatte er. Andere Regierungsmitglieder legten
nach: Vize-Präsident Cheney: Wir werden nicht warten, bis es zu spät ist."
Ein ungenannter hoher Regierungsbeamter in der Washington Post: Ja, die neue Nationale
Sicherheitsstrategie werde die Möglichkeit zu Präemption und zu defensiven
Interventionen" enthalten, also zu Militäraktionen, die verhindern sollen, dass
Amerika, dessen Verbündete und Freunde angegriffen werden können. Solche Schläge
müssten ohne vorhergehende Warnung" erfolgen. Macht die Regierung Bush diese
Ankündigungen wahr, so hat das tief greifende Folgen. Es mag zwar auf den ersten Blick
plausibel klingen, Terroristen ihre Terrormittel und Diktatoren ihre
Massenvernichtungswaffen aus der Hand zu schlagen, bevor sie diese benutzen können.
Aber es gibt auch schwerwiegende Gegenargumente: Solche Angriffe können nicht
völkerrechtlich legitimiert werden, und sie wären auch nicht mit dem Völkerrecht
vereinbar. Da sie ohne Warnung erfolgen müssen, um durch Überraschung erfolgreich zu
sein, können sie nicht vorher durch die UN gebilligt werden das würde die
Angriffsabsicht öffentlich machen.
Also muss die Entscheidung zunächst allein in Washington getroffen und erst im Nachhinein
vor der Weltöffentlichkeit gerechtfertigt werden. Da die meisten Beweise zur
Rechtfertigung mit hoher Wahrscheinlichkeit geheimdienstlichen Ursprungs sind, werden sie
kaum vorgelegt werden, um die Informationsquellen zu schützen. Damit verliert die
Rechtfertigung weiter an Glaubwürdigkeit, weil sie theoretisch fabriziert sein könnte,
weil Gegenindizien unterdrückt worden sein könnten. Mit anderen Worten: Washington
nähme sich so offensichtlich Sonderrechte in der Weltgemeinschaft heraus, dass andere
versucht sein könnten, den USA nachzueifern. Das Gewaltmonopol der UN wäre endgültig
ausgehöhlt.
Doch damit nicht genug: Washington, das macht das Ergebnis der im März öffentlich
gewordenen, geheimen Überprüfung der Nuklearstrategie und des Nuklearwaffenpotenzials
deutlich, schließt auch den Einsatz nuklearer Waffen in solchen Szenarien nicht aus.
Atomwaffen wären, so die Logik, das letzte Mittel", zu dessen Einsatz man nur
greifen werde, wenn andere Waffen nicht die gewünschte Wirkung erzielen könnten.
Ausschließen will man den Einsatz nuklearer Waffen, auch den präemptiven Einsatz,
jedenfalls nicht.
In Planung: Die nächsten Schritte
In der Nato präsentierte der amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld die neuen
amerikanischen Ideen erstmals vor den Verteidigungsministern in der vergangenen Woche.
Washington wünscht, dass Brüssel mitzieht und die Strategie der Allianz der
amerikanischen anpasst.
Eine lebhafte Debatte steht bevor: Können sich die europäischen Staaten vorstellen,
mitzumachen, wenn Staaten oder nichtstaatliche Akteure wie Terroristen ohne Vorwarnung und
ohne völkerrechtliche Absicherung angegriffen werden, notfalls auch mit Nuklearwaffen?
Langgediente in Brüssel sehen eine höllische Debatte" auf das Bündnis
zukommen. Haben doch die europäischen Nato-Staaten bislang ein solches Vorgehen immer
angelehnt. Doch Washington ist zuversichtlich: Die Allierten hätten im Grundsatz
einen Konsens" erzielt, berichtete ein amerikanischer Beamter hinterher dem
Guardian. Davon dürfte mancher Europäer allerdings noch nichts ahnen.
Und doch bereitet Washington bereits die nächsten Schritte vor. Richard Haass, Leiter der
politischen Planungsabteilung des amerikanischen Außenministeriums, bringt die
amerikanischen Ideen für ein neues Interventions- und Völkerrecht auf den Punkt:
Ich weiß zwar nicht, ob es eine Doktrin darstellt, aber was Sie in unserer
Regierung beobachten können, ist die Entwicklung einer Reihe von Ideen, die Sie die
Grenzen der Souveränität nennen könnten. Souveränität beinhaltet Verpflichtungen. Man
kann seine eigene Bevölkerung nicht massakrieren. Man kann auch den Terrorismus nicht in
irgendeiner Weise unterstützen. Wenn eine Regierung ihre Verpflichtungen nicht einhält,
dann vergibt sie sich manche Vorteile der Souveränität, einschließlich des Rechts,
innerhalb ihres Territoriums in Ruhe gelassen zu werden. Andere Regierungen,
einschließlich der USA, bekommen das Recht zu intervenieren." So weit die Theorie.
Man darf gespannt sein, ob auch diese Überlegung ihren Weg in die neue Nationale
Sicherheitsstrategie der USA finden wird.
ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für
Transatlantische Sicherheit (BITS).
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