Interview - Tagesspiegel
01. April 2012


Unglaublich, aber wahr Abrüstung und Kontrolle

Otfried Nassauer

Der amerikanische Präsident Barack Obama hat die Vision einer „Welt ohne Atomwaffen“ und will in Kooperation mit Russland eigentlich abrüsten. Gleichzeitig wollen die USA ihre atomaren Bomben modernisieren. Was ist geplant?

Die USA planen, alle sieben Atomwaffentypen zu modernisieren, die sie noch nutzen. Jeden für viele Milliarden Dollar. Das dauert Jahrzehnte und soll dazu beitragen, dass die USA auch in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts noch moderne Atomwaffen besitzen. Den Anfang sollen jetzt mehrere hundert Atombomben vom Typ B61 machen. Sie haben eine Sprengkraft, die man je nach Bedarf einstellen kann.


Tagesspiegel: Was ist das Ziel?

Nassauer: Am Ende soll eine Waffe herauskommen, die zugleich sicherer und zielgenauer ist und deswegen mit einer relativ kleinen Sprengkraft auskommt. Aber was heißt schon klein? Bis zu 50 Kilotonnen, das ist immer noch viermal Hiroshima.


Nimmt damit die Wahrscheinlichkeit zu, dass sie eingesetzt werden?

Auf jeden Fall könnte die Versuchung steigen, solch zielgenaue Waffen leichtfertiger einzusetzen, weil man weniger Nebenschäden befürchten muss.


Betrifft die Modernisierung auch die in Deutschland gelagerten Systeme?

Bei uns lagern zwei verschiedene Typen der B61 in Büchel in der Eifel, daher geht uns die Modernisierung sehr wohl etwas an. Im Bundestag halten alle Parteien diese Bomben seit 2010 für überflüssig und wollen, dass sie abgezogen werden. Die Bundesregierung hat sich allerdings noch nicht durchringen können, das auch in der Nato energisch genug zu vertreten.


Zwischenzeitlich hatte die Politik in den USA den Bau von Mini-Nukes aber doch gestoppt.

In den USA gab es ein Gesetz, dass zeitweilig Entwicklungsarbeiten an Atomwaffen mit weniger als fünf Kilotonnen Sprengkraft untersagte, das sogenannte Spratt-Furse Amendment. Dieses Gesetz wurde in den neunziger Jahren gemacht, weil der Kongress verhindern wollte, dass die USA das Signal aussenden: Der Kalte Krieg ist zu Ende, jetzt baut Washington Atomwaffen, die man quasi bedenkenlos und jederzeit einsetzen kann, ohne sich über die Folgen Gedanken zu machen. Das Gesetz wurde unter George W. Bush wieder aufgehoben und deswegen behindert es die Modernisierung der B61-Bomben nicht. Deren Sprengkraft kann man auch auf 0,3 oder 1,5 Kilotonnen einstellen – dann wären es quasi Mini-Nukes.


Haben andere Staaten „kleine“ Atomwaffen?

Kleine Atomwaffen zu bauen ist technisch eine große Herausforderung. Russland könnte dazu in der Lage sein. Ob es das getan hat, wissen wir nicht.


Viele Staaten streben heute nach einem zivilen Atomprogramm. Beispielsweise der Iran, der den Nichtverbreitungs-Vertrag unterzeichnet hat und nach eigenen Angaben nur zivile Atomkraft nutzen will, was der Westen ihm aber nicht glaubt. Ist ein ziviles Programm nicht immer der erste Schritt in Richtung Atombombe – wenn man sie denn bauen wollte?

Nicht zwingend, denn es gehört natürlich der politische Wille dazu, eine Atombombe zu bauen. Ein entwickeltes ziviles Programm kann der erste Schritt sein. Vor allem dann, wenn bestimmte Reaktortypen, Anreicherungs- oder Wiederaufarbeitungsanlagen dazugehören. Das macht die Welt ja beim Iran so skeptisch. Die zivile und die militärische Nutzung der Atomtechnik sind wie siamesische Zwillinge. Sie gehören eng zusammen. Daher wäre ein Verbot atomarer Waffen überprüfbarer und leichter umzusetzen, wenn es mit einem Verzicht auf die zivile Nutzung der Technik einherginge.


Früher fürchtete man den dritten Weltkrieg, heute dominieren regionale Konflikte die Welt. Spielen Atomwaffen dabei die gleiche Rolle?

Auch regionale Atomkriege können weltweite Auswirkungen haben. Noch haben die Trägersysteme der regionalen Atommächte eine recht begrenzte Reichweite. Das muss aber nicht so bleiben. Die zweite Antwort ist etwas hoffnungsvoller: Wer sagt uns denn, dass die politischen Führungen der kleineren, regionalen Atommächte verantwortungsloser oder irrationaler handeln würden als die USA oder Russland? Deren Atomwaffenpotenziale sind vergleichsweise klein und taugen mehr zur Abschreckung als zur Kriegführung.


USA und Russland überdenken die Rolle ihrer Atomwaffen. Sollen sie noch der Kriegsführung dienen?

Washington und Moskau wissen, dass sie atomar weiter abrüsten müssen, wenn sie andere Staaten vom Bau nuklearer Waffen abhalten wollen. Außerdem wäre das eine willkommene Gelegenheit zu sparen. Nach den Wahlen in den USA wird es wahrscheinlich eine neue Initiative geben. Die entscheidende Frage lautet: Wie groß wird der nächste Abrüstungsschritt sein? Groß genug, um bei der nächsten Überprüfung des Atomwaffensperrvertrags, 2015, den Rest der Welt davon zu überzeugen, auch schärfere Nichtverbreitungsregeln zu akzeptieren? Je weniger Atomwaffen danach noch erlaubt sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass die beiden atomaren Großmächte sich von Militärstrategien verabschieden müssen, die auf Kriegführung mit Atomwaffen setzen. Wer sehr wenig Atomwaffen hat, der muss sie zwangsläufig als politische Waffen betrachten.


Wie viele Atomwaffen braucht ein Land für eine effiziente Abschreckung?

In den USA wurde Präsident Obama kürzlich eine Studie vorgelegt, die ihm drei Modelle für die Zukunft vorschlägt: 1000-1100 Waffen, 700-800 und 300-400. Nur der letzte Vorschlag geht in Richtung Minimalabschreckung. Aber reichen dafür nicht auch 100 Waffen oder gar nur 50? Wenn man keine strategische Raketenabwehr baut, könnten auch 20 schon reichen. Man kann damit ja gewaltigen Schaden anrichten, wenn man sie auf die 20 größten Städte in einem anderen Land ausrichtet.


Macht es einen Unterschied, wenn Atommächte andere Staaten vom Bau einer Atombombe abbringen wollen, ob sie 300 oder 900 nukleare Sprengköpfe besitzen?

Nein. Das macht keinen großen Unterschied. Ein Unterschied entsteht dann, wenn die Atomwaffenstaaten durch kontinuierliche Abrüstung und eine Reduzierung der Rolle atomarer Waffen glaubwürdig machen, dass sie bereit sind, in absehbarer Zukunft auf Atomwaffen zu verzichten. 900 oder 300 Waffen sind dann relativ beliebige Durchgangsstadien auf dem Weg dahin.


Auch die Nato beschäftigt das Thema. Braucht Europa noch eigene Atomwaffen?

Der Nato-Gipfel im Mai in Chicago soll die Rolle nuklearer Waffen für das Bündnis und seine Strategie neu bestimmen. Ein Verzicht auf atomare Waffen steht nicht zur Debatte, wahrscheinlich nicht einmal ein Verzicht auf die Modernisierung der US-Atomwaffen in Europa. In der Nato sind drei Atommächte Mitglied – da gibt es immer ein oder zwei, die sagen: Abrüstung ist nicht unsere Aufgabe. Wir sind eine Militär-Allianz und bleiben auch eine nukleare Allianz solange es Nuklearwaffen gibt.

Das Interview führte Andrea Nüsse


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS