Wenig Abrüstung, viel Modernisierung
Was der neue Start-Vertrag und die amerikanische Nuklearstrategie in der Praxis bedeuten
von Otfried Nassauer
Die Zukunft der atomaren Waffen, die nukleare Abrüstung und Barack
Obamas Vision einer atomwaffenfreien Welt beherrschten die Schlagzeilen
der vergangenen Woche. Analysiert man den neuen Start-Vertrag und Obamas
Konzept für die Nuklearpolitik seiner Regierung, den Nuclear Posture
Review (NPR), so zeigt sich: Barack Obama zahlt einen hohen Preis, um
erste Trippelschritte zu einer atomwaffenfreien Welt durchsetzen zu können.
Die Innenpolitik diktiert seinen Handlungsspielraum.
67 Senatoren müssen dem neuen Start- Vertrag zustimmen, damit er
ratifiziert werden kann. Obamas Demokraten stellen aber nur 59 Senatoren.
Das bestimmte den Verhandlungsansatz. Hinzu kamen Vorgaben aus dem Haushaltsgesetz
2010. Der Kongress legte fest, der Abrüstungsvertrag dürfe den
Aufbau der US-Raketenabwehr und die Einführung von Langstreckenraketen
mit konventionellen Sprengköpfen nicht einschränken.
Der neue Start-Vertrag erfordert in der Praxis nur kleine Abrüstungsschritte.
Washington muss seine aktiven strategischen Trägersysteme nur um
wenige Dutzend reduzieren, um die neue Höchstgrenze von 800 Trägern
zu erreichen, Moskau gar keine. Es hat nur noch 556 Träger. Ähnlich
das Bild bei den Sprengköpfen: Da nur aktiv stationierte Sprengköpfe
zählen, hat Hans Kristensen von der Federation of American Scientists
berechnet, muss Washington die Zahl seiner aktiven Sprengköpfe rechnerisch
nur um 100, Moskau um 190 reduzieren. Denn - wie der Tagesspiegel am 28.
März berichtete – es wurde neue Zählweise für atomare Marschflugkörper
an Bord von Langstreckenbombern eingeführt, die es beiden Vertragspartnern
erlaubt, etliche Hundert Sprengköpfe mehr aktiv zu halten, als jene
1550, die der Vertrag ausweist. Da zudem die Zahl erlaubter Reservesprengköpfe
nicht beschränkt wurde, wird die Zahl einsetzbarer Nuklearwaffen
auch künftig um mehrere Tausend über der Zahl der anrechenbaren
Nuklearwaffen liegen.
Substanzielle Veränderungen in der Struktur der Triade der Trägersysteme
sind also nicht erforderlich. Gleiches gilt für die Sprengkopfpotenziale.
Der Vertrag soll der republikanischen Opposition möglichst wenig
Angriffsfläche bieten. Zugeständnisse an die Republikaner haben
auch den NPR deutlich beeinflusst: Das Verteidigungsministerium darf seine
alten Pläne zur Modernisierung der nuklearen Trägersysteme umsetzen.
Eine neue nuklearfähige Jagdbomberversion, der Joint Strike Fighter,
wird entwickelt. Die Arbeit an einer neuen Generation strategischer Raketen-U-Boote
geht weiter. Die Entwicklung eines neuen luftgestützten Langstreckenmarschflugkörpers
wird in Angriff genommen. Planungen für einen neuen strategischen
Bomber werden weitergeführt, die Voruntersuchungen für eine
neue Generation von Interkontinentalraketen laufen an.
Die für atomaren Sprengköpfe zuständige Nationale Nukleare
Sicherheitsbehörde (NNSA) bekommt für ihre Vorhaben ebenfalls
grünes Licht. Sie soll die Modernisierung der Sprengköpfe für
die Trident-Raketen der U-Boote zu Ende führen. Die Modernisierung
der Atombomben vom Typ B-61 darf in Angriff genommen und eine Lebensdauerverlängerung
für die W-78-Sprengköpfe der Interkontinentalraketen geplant
werden. Barack Obama gibt zwar vor, dass keine „neuen“ Sprengköpfe
und keine „neuen“ militärischen Fähigkeiten angestrebt werden,
doch die als „Lebensdauerverlängerung“ bezeichneten Modernisierungen
kann zu weitgehend neuen Nuklearwaffen führen. Alle konventionellen
Komponenten dürfen erneuert werden. Selbst die nukleare Kernkomponente,
das „physics package“ darf modernisiert werden, wenn dies die Sicherheit
des Sprengkopfs erhöht, seine Funktionssicherheit verbessert oder
die Wahrscheinlichkeit reduziert, dass Atomtests durchgeführt werden
müssen. Änderungen der nuklearen Komponenten bedürfen allerdings
einer Zustimmung des Präsidenten. Hans Kristensen kritisiert: „Das
erlaubt sogar die Produktion der unter Bush geplanten Verlässlichen
Ersatzsprengköpfe (RRW), auch wenn offiziell betont wird, dass Programm
sei tot.“
Auch der Abzug der letzten in Europa verbliebenen Atombomben rückt
durch den NPR in größere Ferne: Darüber soll die Nato
„im Konsens“ entscheiden. Jedes Nato-Mitglied hat also ein Veto. Washington
beschloss, die Modernisierung der auch in Europa lagernden Atombomben
B-61 und die Entwicklung des neuen Trägerflugzeugs unabhängig
von der Entscheidung in der Nato voranzutreiben, ohne dieser vorgreifen
zu wollen.
Faktisch geschieht das aber eben doch. Denn amerikanische Regierungsmitglieder
haben wiederholt argumentiert, auf diese Waffen könne künftig
verzichtet werden, wenn Fortschritte beim Aufbau des neuen Raketenabwehrsystems
sie überflüssig machen und mit Russland ein Abrüstungsabkommen
darüber zustande komme. Beides kann Jahre dauern. Zudem entscheidet
die Nato, während der US-Senat zeitgleich über den neuen Start-
Vertrag diskutiert.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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