SWR 2, Kommentar
05. September 2014


Die deutsche Rolle in der Sicherheitspolitik

Debatte um Waffenlieferungen und Veränderung der NATO

Otfried Nassauer

Seit Jahren unterliegt die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik einem kontinuierlichen Wandel. An die Stelle klassischer Verteidigung traten immer häufiger Einsätze im Ausland mit ordnungspolitischem Charakter. Zu Beginn war ein Mandat der Vereinten Nationen unabdingbare Voraussetzung, heute reicht notfalls auch ein Beschluss der NATO und des Bundestages. Ursula von der Leyen, die Verteidigungsministerin, hat einen Leitsatz geprägt, der die neue Politik gut beschreibt: "Gleichgültigkeit ist für ein Land wie Deutschland keine Option, weder aus sicherheitspolitischer noch aus humanitärer Sicht".

Als Begründung für die Notwendigkeit, sich militärisch zu engagieren, dient immer häufiger das Konzept der Schutzverantwortung. Wenn ein Staat die Sicherheit seiner Bürger nicht mehr garantiert oder diese sogar bekämpft und mit Vertreibung bedroht, dann ist die internationale Gemeinschaft berechtigt, militärisch einzugreifen. Aus humanitären Gründen also. Die Vollversammlung der Vereinten Nationen hat diesen Gedanken aufgenommen. Völkerrecht ist er jedoch bislang nicht. Er steht sogar im Widerspruch zu diesem. Das verbietet jede bewaffnete Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder. Trotzdem spielt die Schutzverantwortung in Deutschland inzwischen eine gewichtige Rolle.

Zweifel an diesem Konzept ruft auch dessen praktische Anwendung hervor. In Libyen diente die Schutzverantwortung als Vorstufe für einen militärischen erzwungenen Regimewechsel. Danach folgte ein jahrelanger Bürgerkrieg, in dem die Sicherheit der Libyer weiter gefährdet ist, ohne dass sich irgendjemand jemand darum schert. In Syrien müsste seit Jahren zum Schutz der Bevölkerung militärisch interveniert werden, wenn das Konzept tatsächlich angewendet würde. Dazu kam es aber nicht, weil kein westliches Land Truppen stellen wollte.

Ob zum Schutz einer bedrängten Bevölkerung militärisch eingegriffen wird, hängt also davon ab, ob diejenigen, die eingreifen könnten, auch eingreifen wollen. Die Entscheidung unterliegt also einem Voluntarismus und wird letztlich willkürlich getroffen. Völkerrecht kann jedoch eigentlich nur sein, was allgemeingültig ist. Die Bundesregierung hat sich in dieser Woche eine weitere Option eröffnet, um das Konzept der Schutzverantwortung auch dann anwenden zu können, wenn sie keine Truppen entsenden will. Sie liefert Waffen an kurdische Perschmerga-Kämpfer im Norden des Iraks, damit diese sich besser verteidigen können.

Berlin opfert damit jedoch ein langjähriges Tabu: Deutschland liefert bislang offiziell keine Waffen an Kriegsparteien in Drittstaaten. Auch diese Entscheidung zur Wahrnehmung einer Schutzverantwortung unterliegt einer gewissen Willkür dessen, der liefern kann.

Grundlage deutscher Außen- und Sicherheitspolitik war lange das Völkerrecht. Die Stärkung des Rechts hatte für Deutschland Vorrang vor dem Recht des Stärkeren. Das ändert sich mit dem Konzept der Schutzverantwortung. Werturteile treten an die Stelle des Rechts. Deutschland interveniert und liefert Waffen, um humanitäre Ziele zu verfolgen. Wann das der Fall ist und wann nicht, entscheidet die Bundesregierung, notfalls willkürlich und im nationalen Interesse.

Eine solche Politik eröffnet mehr Flexibilität und größere Handlungsspielräume. Sie entscheidet aber auch von Fall zu Fall, ob sie sich an das Völkerrecht hält oder vom Recht des Stärkeren Gebrauch macht. Das ist garantiert keine gute Entwicklung.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS