UN-Reform auf dem Prüfstand
von Dr. Alexander Neu
Die Vereinten Nationen (UNO) stehen derzeit verstärkt im Rampenlicht der
internationalen Öffentlichkeit. Der Grund hierfür sind die geforderten Reformen für das
globale Sicherheitskollektiv, um dieses Fit für die Herausforderungen des 21.
Jahrhunderts zu machen. Die geforderten Reformen blieben jedoch auf dem UN-Gipfel mit
September dieses Jahres bereits im Anfangsstadium stecken, da sich die internationale
Staatengemeinschaft nicht auf notwendige Kompromisse einigen konnten. In dem
Schlussdokument ist weder eine einheitliche Definition des Terminus Terrorismus enthalten
noch konnte eine Einigung über die Nicht-Verbreitung und Abrüstung von Atomwaffen
erzielt werden. Auch im Bereich der Entwicklungspolitik gibt es keine verbindliche
Selbstverpflichtung. Geeinigt hat man sich lediglich auf den unverbindlichen
Minimalkonsens des Wunsches vieler entwickelter Staaten, 0,7 Prozent ihres
Bruttosozialprodukts für die Entwicklungshilfe auszugeben.
Im Zentrum der Analyse stehen allerdings nicht die Reformvorschläge und Ergebnisse des
Gipfels. Analysiert werden soll vielmehr die Vertragstreue einiger für das Funktionieren
der UNO relevanter Akteure - hier die NATO, die EU sowie die USA hinsichtlich des
bestehenden UN-Systems.
Denn sämtliche strukturelle und normative Reformbemühungen werden die oft kritisierte
mangelnde Effizienz der UNO fortschreiben, wenn sie nicht mit entsprechender politischer
Substanz durch die sie tragenden nationalstaatlichen Akteure ausgefüllt werden. Dass
bedeutet nichts weniger als das sich die UN-Mitgliedsstaaten bedingungslos den Normen der
UN-Charta unterwerfen. Ein Akt, zu dem sich alle Staaten mit Beitritt zur UNO
verpflichten.
Zunächst werden die normativen Grundlagen des UN-Sicherheitskollektivs vorgestellt.
Diesen werden dann der Nordatlantikvertrag (NATO), das "Strategische Konzept des
Bündnisses" (NATO), die "Nationale Sicherheitsstrategie" der USA sowie die
"Europäische Sicherheitsstrategie" der EU auf ihre Vertragstreue hin
gegenübergestellt.
Normative Grundlagen des UN-Sicherheitskollektivs
Die globale UN-Rechtsordnung formuliert bestimmte Bedingungen, um ihre
Funktionstüchtigkeit zu ermöglichen:
Eine der wichtigsten auch für diese Untersuchung relevante UN-Norm
stellt die Vorrangklausel Art. 103 der UN-Charta dar. Sie stellt fest, dass im Falle von
internationalen Verpflichtungen und anderen internationalen Verträgen (z. B.: regionale
Abmachungen), deren Normen im Widerspruch zur UN-Charta stehen oder aber sie relativieren,
diese sich unterzuordnen haben bzw. keine Rechtsgültigkeit besitzen, da sie ansonsten
UN-Recht brechen. Dieses Prinzip ist in etwa mit der innerstaatlichen
Verfassungshierarchie zwischen dem Primat der Bundesverfassung gegenüber den
Republiksverfassungen in föderal strukturierten Staaten vergleichbar, um das
Funktionieren des Gesamtstaates sicherzustellen.
Eine weitere zentrale Norm stellt Art 24 Abs. 1 dar. Sie definiert die Kernaufgabe der
UNO, nämlich die Gewährung kollektiver Sicherheit: Der UN-Sicherheitsrat erhält die
"Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen
Sicherheit". Schließlich wird dem UN-Sicherheitsrat das ausschließliche Recht
zuerkannt, eine "Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine
Angriffshandlung" festzustellen (Art. 39), bzw. entsprechende Maßnahmen
einschließlich der Anwendung von Gewalt (Art. 42) gegen den Rechtsbrecher anzuordnen,
woraus dem Sicherheitsrat das Gewaltmonopol erwächst. Ferner sollen dem UN-Sicherheitsrat
militärische Kapazitäten also das Schwert zur Durchsetzung seines kollektiven
Schutzauftrages - seitens der UN-Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellt werden (Art. 43
bis Art. 47).
Dieses Schwert wurde jedoch von Anfang an nicht dem UN-Sicherheitsrat an die Hand
gegeben, da sich die Staaten nicht bereit erklärten, auch faktisch Truppen der UN
unterzuordnen. Hierdurch kamen die Staaten ihrer Verpflichtung nicht nach, wodurch der
UN-Sicherheitsrat zum rein formalen und somit impotenten Inhaber des Gewaltmonopols
degradiert wurde, der in Anlehnung an Stalins Machtdefinition, wie viel Panzer denn der
Papst habe, nicht die materielle Basis besitzt, das formale Gewaltmonopol auch
durchzusetzen.
Wohlwissentlich wurden zwei Ersatzklauseln (Art. 48 & Art. 53. Abs. 1) formuliert,
die es dem UN-Sicherheitsrat erlaubt, einzelne Staaten oder regionale Einrichtungen mit
deren Einverständnis "unter seiner Autorität in Anspruch" zu nehmen.
Ungeklärt blieb hierbei die präzise Definition dieser "Autorität", d.h.,
ob die Truppen für die militärischen Zwangsmaßnahmen unter internationalem Oberkommando
(UN-geführte) oder unter nationalem Oberkommando (UN-mandatierte) operieren würden.
Die Antwort darauf lieferten alsbald die USA, die die Befreiung Kuwaits durch eine
multinationale Truppe unter ihrem Oberkommando durchführten. Hierdurch büßten die UNO
die Kontrolle über die weitere militärische und politische Entwicklung hinsichtlich des
Iraks ein und wurden de facto zum Mandatsgeber degradiert.
Was zu einer Sternstunde der UNO nach dem Ende des sie immer wieder blockierenden
Kalten Krieges werden sollte, nämlich endlich die Erlangung der Handlungsfähigkeit,
endete vielmehr in einer puren Machtdemonstration der USA, die sich lediglich - oder
betrachtet man die weitere Entwicklung zumindest noch - formal um eine Legitimation der
UNO bemühte.
Diese Ersatzklauseln, die dem UN-Sicherheitsrat die militärische Handlungsfähigkeit
quasi indirekt garantieren soll, erweisen sich realiter als Axt gegen die Fundamente der
UNO selbst: Die indirekte militärische Handlungsfähigkeit der UNO vermittelt über
"willige Staaten" bedeutet nichts anderes als keine Kontrolle und somit keine
Handlungsfähigkeit der UNO. Die operative Umsetzung wird von den "willigen
Mandatsnehmern" gemäß ihren strategischen und nationalen Interessen definiert. Der
hierdurch stattfindende Substanzverlust des Multilateralismus bei gleichzeitiger
Aufrechterhaltung formaler multilateraler Mechanismen bedeutet eine Rückkehr des
anarchischen Staatensystems auf besonders perfide Weise: Internationale
Rechtsstaatlichkeit wird zunächst sinnentleert und sukzessive zum Knebelinstrument der
Großmächte gegenüber schwächeren Staaten umfunktionalisiert.
Nordatlantikvertrag
Der Nordatlantikvertrag ist das Statut der NATO und wurde 1949 vier Jahre nach
Gründung der UNO verabschiedet.
Insbesondere Artikel 1 des Nordatlantikvertrages verdient für die Analyse eine
erhöhte Aufmerksamkeit: "Die Parteien verpflichten sich, (...) in ihren
internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten, die
mit den Zielen der Vereinten Nationen nicht vereinbar sind".
Diese Aussage lässt ausreichend Interpretationsspielraum, da nicht eindeutig geklärt
ist, was alle Ziele der UN im Einzelnen sind. Es könnte bereits als ein Indiz für eine
restriktive Interpretation des Gewaltverbotes verstanden werden. Diese reduziert die zu
verbietende Gewaltformen, auf jene Bereiche, die dazu dienen, die "territoriale
Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates oder sonst mit den Zielen
der Vereinten Nationen" in Frage zu stellen. Alle übrigen Gewaltformen
zwischenstaatlicher Art seien demnach sofern sie in Übereinstimmung mit den
Prinzipien der UN-Charta stehen - auch ohne Sicherheitsratsresolution UN-Charta-konform.
Es wird deutlich, dass der eigentlich praktizierte Interpretationsansatz des umfassenden
Gewaltverbotes, bei dem zwei Formen die die "territoriale Unversehrtheit oder
die politische Unabhängigkeit eines Staates" berühren könnten lediglich als
besonders hervorhebenswert gelten, nun in ein selektives Gewaltverbotsprinzip verkehrt
wird: Alle Gewaltformen, die nicht expressis verbis verboten sind, sind im Umkehrschluss
erlaubt, sofern sie den nicht näher bestimmten Zielen der UN-Charta entsprechen bzw.
diesen nicht widersprechen. Dieser Interpretationsansatz ist vor allem im
angelsächsischen Völkerrecht vermehrt zu vernehmen.
Während das umfassende Gewaltverbotsprinzip aufgrund klarer Regeln hinsichtlich der
Anwendung von legaler Gewalt eindeutig ist, öffnet das selektive Gewaltverbotsprinzip der
Gewaltanwendung Tür und Tor und unterminiert auf diese Weise das Gewaltverbot durch eine
in sich dynamisierende Ausnahmetendenz sukzessive.
"Das Strategisches Konzept Des Bündnisses"
Im April 1999 verabschiedete die NATO eine Neuauflage des "Strategischen Konzept
des Bündnisses". Darin wird die "Autorität" des UN-Sicherheitsrates bei
der Ausführung militärischer Operationen geltend gemacht. Allerdings wird mit weiteren
Erklärungen diese "Autorität" in einen breiten Interpretationsansatz gerückt:
Das Bündnis wird "bei der Erfüllung seines Ziels und seiner grundlegenden
Sicherheitsaufgaben (...) die friedliche Beilegung von Streitigkeiten in Übereinstimmung
mit der Charta der Vereinten Nationen anstreben". Die Wortwahl "anstreben"
bedeutet jedoch keine definitive Unterordnung, sondern lediglich, "wenn möglich mit,
wenn nötig ohne UNO, womit das UN-Gewaltmonopol offen in Frage gestellt wird. Eine
weitere Formulierung zielt ebenso auf eine Relativierung des UN-Gewaltmonopols zu Gunsten
der NATO: Das "Strategische Konzept spricht hier von der "primären
Verantwortung", statt der "Hauptverantwortung" (Art. 24 Abs. 1 UN-Charta)
der UNO für die "Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit".
Ein Differenzierungsversuch beider Begriffe vermag zunächst ein wenig theoretisch wirken.
Betrachtet man indes den realpolitischen Kontext, dass nämlich das "Strategische
Konzept" exakt zu jenem Zeitpunkt verabschiedet wurde, als die NATO Jugoslawien
bombardierte, so gewinnt die Interpretation der Formulierung "primäre
Verantwortung" doch an Konturen: Es wird als eine Art Reserveverantwortung der NATO
für die Wahrung kollektiver Sicherheit interpretiert für den Fall, dass die UNO ihre
Funktion gemäß der Erwartung des Westens nicht gerecht wird.
Die in Art. 24 UN-Charta gewählte Formulierung der "Hauptverantwortung"
bedeutet hingegen nicht, dass den Staaten eine Reserveverantwortung für die
"Wahrung" der kollektiven Sicherheit dergestalt zugewiesen wird, dass diese im
Falle eines Handlungsblockade des UN-Sicherheitsrats die Verantwortung und das Handeln der
UNO eigenmächtig substituieren. Diese Interpretation erschließt sich definitiv nicht aus
dem Kontext der UN-Charta. Im Gegenteil: Zwar wird die Regelung sicherheitspolitischer
Probleme gemäß Art. 52 UN-Charta auch subsidiären Strukturen ermöglicht, jedoch nur
unter explizitem Ausschluss militärischer Maßnahmen (Art. 53). Der Terminus
"Hauptverantwortung" muss im Kontext des Art. 2 Abs. 3 & 4 der UN-Charta
interpretiert werden: Danach liegt die "Nebenverantwortung" bei den Staaten
selbst. Nämlich in Form des ausnahmslosen Verzichts auf das ius ad bellum als
Angriffsvariante, demnach sie an der "Wahrung des Weltfriedens und der
internationalen Sicherheit" durch die ausschließliche Anwendung "friedlicher
Mittel" bei "internationalen Streitigkeiten" beitragen.
Die vermeintliche Reserveverantwortung der NATO bricht UN-Recht materiell (Bruch des
UN-Gewaltmonopols durch den Jugoslawien-Krieg) und formell (Bruch des Primats der UNO bzw.
des UN-Rechts gemäß Art. 103).
Die Nationale Sicherheitsstrategie der USA
Die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) wurde im September 2002 als neue
Sicherheitsdoktrin der USA verkündet. Die NSS verweist auf eine US-amerikanische
Außenpolitik, die "neue, produktive internationale Beziehungen" eingehe und die
"bestehenden neu" definiere. Es wird deutlich, dass nicht nur punktuelle
"Korrekturen" der bestehenden, sondern der Prozess zu einer neuen Weltordnung
nach US-amerikanischem Gusto eingeleitet werden soll. Die hierzu angewandte Methode der
unilateralen Deregulierung der internationalen Beziehungen und der damit einhergehenden
Renationalisierung sicherheitspolitischer Entscheidungen und sogar
Rechtsetzungsansprüchen stellt nichts weniger als das gegenwärtige internationale
Rechtssystem zur Disposition. Zu nennen sei hier beispielsweise die Verweigerung sich dem
Internationalen Strafgerichtshof zu unterwerfen, damit die "Bemühungen zur
Wahrnehmung unserer Sicherheitsverpflichtungen in der Welt (...) nicht durch Ermittlungen,
Untersuchungen und Verfolgung durch den Internationalen Gerichtshof behindert werden
(...)".
Die UNO werden ganze zweimal und inhaltlich nebensächlich in dem umfassenden Dokument
genannt.
Im Mittelpunkt der NSS steht der internationale Terrorismus als zentrale
sicherheitspolitische Herausforderung. Mit dem Anspruch der globalen Führerschaft unter
Verwendung repressiver Mittel, stellen sich die USA in der Hierarchie über die UNO.
Hierbei pendelt die NSS zwischen einem scheinbaren Multilateralismus und einem dezidierten
Unilateralismus.
Hinsichtlich des scheinbaren Multilateralismus wird das völkerrechtskonforme
Präemptionprinzip um die Bedeutung der völkerrechtlich nicht zulässigen Prävention
erweitert: "(...) desto zwingender das Argument für antizipatorische
Selbstverteidigung, selbst wenn Unsicherheit darüber besteht, wann und wo der Feind
angreifen wird". Der bislang gültige Unterschied zwischen Präemption und
Prävention wird angesichts neuer Bedrohungsformen (internationaler Terrorismus) und
unkonventioneller Kampfmethoden ohne Vorwarnzeiten, auf diese Weise verwischt. Auch wird
mit der räumlichen und zeitlichen Offenheit, dem Angriffskrieg Tür und Tor geöffnet.
Der dezidierte Unilateralismus wiederum findet seine Anwendung für den Fall, das den
USA die Unterstützung seitens internationaler Organisationen beim Kampf um die
internationale Sicherheit verwehrt bleiben. Dann werden die USA "auch nicht zögern
zu handeln, wenn es notwendig werden sollte, unser Recht auf Selbstverteidigung
wahrzunehmen (...)". Auch hier wird deutlich, dass den internationalen
Organisationen, und gemeint ist insbesondere die UNO, nicht die
"Hauptverantwortung", sondern bestenfalls eine kooperierende und
schlechtestenfalls eine dienende oder gar irrelevante Funktion für die Wahrung der
kollektiven Sicherheit zu Teil wird. Die signifikante Devaluierung der UNO, manifestiert
sich letztlich in Kapitel VIII der NSS, in der die "Entwicklung einer Agenda für die
Zusammenarbeit mit anderen wichtigen Machtzentren der Welt" skizziert wird. Dort
werden neben den Großmächten und einigen besonders treuen Verbündeten wie Japan,
Südkorea und Australien, vier internationale Organisationen, die NATO, die EU, die ASEAN
und die APEC, nicht jedoch die UNO genannt.
Es bleibt festzustellen, dass die NSS sich nicht nur nicht dem UN-Völkerrecht
unterzuordnen gedenkt, sondern dass sie vielmehr auf deren Ablösung durch eine
US-amerikanische Weltordnung abzielt.
Wie die konzeptionelle Reaktion der EU ausschaut, zeigt im Folgenden die Analyse der
Europäischen Sicherheitsstrategie.
Die Europäische Sicherheitsstrategie
Die Europäische Union gab sich im Dezember 2003 eine eigene Europäische
Sicherheitsstrategie (ESS). Da die EU selbst eine regionale Organisation auf der Grundlage
völkerrechtlicher Verträge darstellt, und sie zugleich der am stärksten verrechtlichte
Raum der Welt mit bisweilen supranationalen Strukturen ist, weiß sie um die Relevanz
implementierter kurzum gelebter - Normen wie kein anderer Akteur. Angesichts dessen
müsste die ESS im Besonderen Maße sich den UN-Normen und deren Umsetzung verpflichtet
fühlen.
Tatsächlich bekundet die ESS eine proaktive UN-Politik, in dem sie deren
"Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen
Sicherheit" versichert.
Obgleich die ESS keine Bereitschaft zeigt, der UNO Truppen unter UN-Befehl
(UN-geführte Friedenserzwingung) zur Verfügung zu stellen, um das formale
UN-Gewaltmonopol auch materiell zu unterfüttern, so erklärt sie dennoch, die UNO in
deren Kampf "gegen Bedrohungen des Friedens und der Sicherheit in der Welt" zu
unterstützen. Hierbei unterstreicht sie auch ihr Pflichtgefühl, einer "verstärkten
Unterstützung" der UNO bei "kurzfristigen Krisenbewältigungseinsätzen".
Im Gegensatz zur NSS zielt die ESS nicht auf eine neue Weltordnung durch Eliminierung der
gegenwärtigen internationalen Rechtsordnung ab, sondern fordert die "Wahrung und
Weiterentwicklung des Völkerrechts" im Einklang mit den neuen sicherheitspolitischen
Herausforderungen.
Und exakt hier im Kontext der Handhabung der neuen sicherheitspolitischen
Herausforderungen manifestieren sich Schnittmengen zwischen der ESS und der NSS: Die
präventive Kriegsführung. Die ESS fordert die Entwicklung einer "Strategie-Kultur
(..), die ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen fördert".
Die Gefahren von Proliferation von Massenvernichtungswaffen sowie "humanitäre
Krisen" können durch "präventives Engagement" reduziert werden.
Allerdings kollidiert die Forderung nach präventiven militärischen Operationen zwecks
Eindämmung neuer sicherheitspolitischer Gefahren mit der Selbstverpflichtung der
"Wahrung des Völkerrechts". Denn gemäß Art. 51 UN-Charta stellt die
militärische Prävention kein Bestandteil des "naturgegebenen Rechts zur
Selbstverteidigung" dar, sondern fällt unter die Kategorie des absoluten
Gewaltverbots (Art. 2 Abs. 4) und ist somit als klassischer Angriffkrieg zu
klassifizieren. Dem Selbstverteidigungsbegriff der UN-Charta liegt ein restriktives
territorialgebundenes Verständnis zu Grunde. Dieses wird jedoch von der ESS gleichsam der
NSS mit Verweis auf die besondere Qualität der neuen sicherheitspolitischen Risiken
unterminiert: "Bei den neuen Bedrohungen wird die erste Verteidigungslinie oftmals im
Ausland liegen".
Die ESS versucht diesen Widerspruch offensichtlich mit Verweis auf die Notwendigkeit
"dass das Recht mit Entwicklungen wie Proliferation, Terrorismus und globaler
Erwärmung Schritt" halten müsse aufzulösen. Hierbei "übersehen" die
Autoren der ESS, dass auf diese Weise das UN-Gewaltmonopol ungeachtet aller UN-treue
Bekundungen nicht nur faktisch, sondern auch formal ausgehebelt wird.
Fazit
Angesichts der diskutierten Fälle wird deutlich, dass der Westen bislang sein eigenes
Projekt der kollektiven Sicherheit in Form eines globales Sicherheitskollektiv selbst im
Wesentlichen verhindert. Weder in dem "Strategischen Konzept Des Bündnisses"
noch in den Doktrinen wurden außer Lippenbekenntnissen der wirkliche Wille erkennbar,
sich dem UN-System bedingungslos zu unterwerfen. Rhetorisch geschickt verpackte
Formulierungen verbergen unilaterale Hintertürchen. Die allenthalben zu vernehmende
Kritik an der mangelnden Funktionalität und Effizienz der UNO ist nicht ihr eigenes
Versäumnis, da sie kein selbstständiger Akteur ist. Es ist eindeutig der fehlende Wille
der sie tragenden relevanten Akteure, ihr die erforderlichen und Entscheidungskompetenzen
zu verleihen. Darüber hinaus stellt die Kritik der Großmächte an der mangelnden
Funktionalität der UNO einen Versuch dar, ihre unilateralen Maßnahmen als notwendige
Ersatzmechanismen zu legitimieren. Vor diesem Hintergrund stellen die Reformbemühungen
der UNO mit dem Ziel der Herbeiführung effektiverer Strukturen und erweiterter
Kompetenzen zwecks einer gerechteren Weltordnung, bestenfalls Wunschdenken dar.
Schlimmstenfalls dienen die Reformen dazu, den Unilateralismus der Großmächte zu
belohnen, in dem diese künftig über das multilaterale Instrument ihren
Handlungsspielraum (Stichwort: wachsendes Interventionsspektrum) auch mit Unterstützung
der UNO erweitern können. Sollte das internationale Recht angesichts der neuen
sicherheitspolitischen Risiken, wie von der "ESS" unter Berücksichtigung des
Präventivinstituts gefordert, "modernisiert" werden, so liefe dies auf ein
Ermächtigungsgesetz zur "weltweiten präventiven Selbstverteidigung" hinaus.
Auf diese Weise würde das ius ad bellum, welches als Nicht-Selbstverteidigungsvariante
ausschließlich dem UN-Sicherheitsrat vorbehalten ist, wieder zu den Nationalstaaten
zurückkehren, was unzweifelhaft einen zivilisatorischen Rückschritt bedeutete.
ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter beim BITS und als freier Journalist tätig.
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