USA-Raketenabwehr: Moskau hat allen Grund, beunruhigt zu sein
Das Pentagon lässt Abfangsysteme mit Streumunition entwickeln und verschiebt
so das Kräftegewicht
von Otfried Nassauer
Das Raketenabwehrprogramm der USA sorgte in den vergangenen Jahren
für allerlei politische Divergenzen insbesondere mit Russland. Auch
nachdem die Stationierungsabkommen mit Polen und Tschechien klar sind,
bleibt der Unmut gegen diese neue Spirale des Wettrüstens groß.
Zumal inzwischen neue technische Entwicklungen bekannt wurden.
Das Pentagon entwickelt bereits die Raketenabwehr der nächsten Generation.
Abwehrraketen sollen schon bald nicht nur einen anfliegenden Sprengkopf
abfangen können, sondern gleich mehrere. Bis zu 20 Ziele soll eine
Rakete bekämpfen. Technisch wird das möglich, wenn die einzelnen
Abfangkörper kleiner und leichter ausgelegt werden und man sie individuell
steuern kann. Jeder Kollisionskörper kann dann ein gesondertes Ziel
bekämpfen. Gegnerische Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen
oder Täuschkörpern, die heutige Abwehrsysteme übersättigen
oder überlisten könnten, wären damit nicht länger
eine Gefahr.
Die Abfangraketen, die bislang stationiert wurden, treffen noch immer
nicht zuverlässig. Doch auch das könnte sich künftig ändern.
Kommen mit einer Rakete mehrere Abfangkörper zum Einsatz, steigt
die Wahrscheinlichkeit, dass einer das Ziel zerstört. So wie bei
Streumunition und Flugabwehrkanonen. Das Vorhaben heißt »Multiple
Kill Vehicle«. Seit 2004 arbeitet der US-amerikanische Rüstungsgigant
Lookheed-Martin im Auftrag des Pentagons an dem System. Raytheon konzipiert
einen zweiten Technologievorschlag als Rückfalloption. Technologische
Schlüsselkomponenten wurden im Sommer 2008 getestet.
Als Trägersystem sind zunächst die gleichen Abfangraketen vorgesehen,
die bereits heute in Alaska und Kalifornien aufgestellt werden. Ab 2013
sollen weitere zehn Raketen im polnischen Redzikowo bei Slupsk stationiert
werden. So haben es Warschau und Washington im Windschatten des Georgienkonfliktes
vertraglich vereinbart.
Bereits vier Jahre später, 2017, sollen die neuen Mehrfachabfangköpfe
einsatzbereit sein. Das versprechen Militärs und Industrie. Später
können auch andere Abfangraketen, beispielsweise seegestützte
SM-3-Raketen, mit dem neuen System ausgerüstet werden.
Das Vorhaben kann Moskaus Bedenken gegen Washingtons Raketenabwehrpläne
nur vergrößern. Die dortige Regierung muss es als weiteres
Indiz werten, dass sich die Raketenabwehrpläne der USA letztlich
gegen Russland und dessen nukleare Zweitschlagsfähigkeit richten
und so langfristig die russische Abschreckungsfähigkeit gefährden
könnten. Bislang verfügt kein Land, gegen das sich die Raketenabwehr
der USA offiziell richtet, über funktionierende Langstreckenraketen
oder gar Mehrfachsprengköpfe. Letztere gelten technologisch als äußerst
anspruchsvoll. Nicht einmal die langjährige Atommacht China hat bislang
Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen stationiert.
Für Russland sind solche Raketen dagegen das Rückgrat der eigenen
atomaren Abschreckung. Einige von ihnen sind in Tatistschewo, tief im
Südwesten Russlands, stationiert und könnten von den Abwehrraketen
in Polen erreicht werden. Washingtons Beschwichtigung, in Polen würden
nur zehn Raketen stationiert, wirkt aus Moskauer Sicht recht beunruhigend,
wenn zehn Raketen bis zu 200 Abfangkörper tragen können.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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