Neues Deutschland
24. April 2010


Drei Schritte vor und mindestens zwei zurück

US-Präsident Barack Obama und die Zukunft der Atomwaffen

von Otfried Nassauer

Der Präsident der USA wird von Politikern und Medien für seine Abrüstungsinitiativen gelobt. Unterm Strich jedoch fällt die Rüstungsreduzierung viel geringer aus als angenommen – Modernisierungsprogramme für Nuklearsysteme werden sogar fortgesetzt. Zudem wird die deklaratorische Politik Obamas an der praktischen Atomstrategie in den nächsten Jahren nichts ändern.

Für Barack Obama stand die erste Hälfte des Aprils ganz im Zeichen des Atoms. Ein Jahr nach seiner Prager Rede, in der sich der US-Präsident die Vision einer Welt ohne atomare Waffen zueigen gemacht hatte, wollte Obama demonstrieren, dass er seinen Worten auch Taten folgen läßt. Unmittelbar nach Ostern legte er den lange erwarteten „Nuclear Posture Review 2010“ vor, eine Blaupause seiner Nuklearpolitik für die kommenden Jahre. Nur zwei Tage später unterzeichnete Obama ein „Neues START-Abkommen“ und einigte sich mit Russland auf neue Obergrenzen für strategisch-nukleare Waffen. Kurz darauf folgte auf Einladung Obamas ein „Nuklearer Sicherheitsgipfel“, an dem 47 Staats- und Regierungschefs teilnahmen und sich zu verbesserten Sicherheitsmaßnahmen für nukleare Materialien verpflichteten. Ein Feuerwerk der Ereignisse, das eine genauere Betrachtung verdient.

Die gute Nachricht zuerst: Der Nuclear Posture Review (NPR) nimmt das Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt explizit auf und stellt zudem, dass es „im Interesse der USA und aller anderen Nationen“ liege, wenn der „fast 65 Jahre andauernde Rekord; Nuklearwaffen nicht einzusetzen auf ewige Zeiten ausgedehnt werden“ könne. Solche Töne waren in der Geschichte der US-Nuklearpolitik selten zu hören und in der Zeit George W. Bushs ganz sicher gar nicht. Die „fundamentale Aufgabe und Rolle“ nuklearer Waffen ist es jetzt, „einen nuklearen Angriff auf die USA, ihre Alliierten und Partner abzuschrecken“. Ziel sei es, die Rolle nuklearer Waffen weiter zu reduzieren, so dass die Abschreckung eines Nuklearangriffs künftig die „einzige Aufgabe“ nuklearer Waffen werde. Vorerst aber müsse an der Option eines Nuklearwaffeneinsatzes noch festgehalten werden, um „unter extremen Umständen die vitalen Interessen der USA, ihrer Verbündeten und Partner zu verteidigen.“

Auch die sogenannte Negative Sicherheitsgarantie für die nichtnuklearen Mitglieder des Atomwaffensperrvertrags wird im NPR neu gefasst und klarer formuliert: Die “Vereinigten Staaten werden Staaten, die nicht-nukleare Mitglieder des Nichtverbreitungsvertrages sind und ihre nuklearen Nichtverbreitungsverpflichtungen erfüllen, nicht mit dem Einsatz nuklearer Waffen drohen oder Nuklearwaffen gegen Staaten einsetzen.“ Die Garantie gilt explizit auch dann, wenn einer dieser Staaten biologische oder chemische Waffen einsetzen sollte. Rechnen müssen mit der nuklearen Drohung Washingtons künftig also nur noch Nuklearmächte und Staaten, die ihre Verpflichtungen aus dem NVV nicht einhalten. Im Klartext: Nordkorea und der Iran. Dass Washington sich gegen diese Staaten auch die Möglichkeit offen hält, auf einen Chemiewaffensatz mit einem Nuklearwaffeneinsatz zu antworten, ist einer der wenigen indirekten Hinweise darauf, dass die USA auch künftig nicht auf die Möglichkeit verzichten, Nuklearwaffen als erste einzusetzen.

Der NPR beschreibt die Gefahr, dass Terroristen an das Material für eine Nuklearwaffe gelangen oder gar eine Nuklearwaffe einsetzen könnten, als die größte Bedrohung der Gegenwart. Als zweite große Bedrohung wird die weitere Verbreitung atomarer Waffen an zusätzlich Staaten betrachtet. Erst an dritter Stelle steht die Wahrung der „strategischen Stabilität“ im Blick auf die anderen Nuklearmächte, vor allem Russland und China. Die Wiederbelebung und Stärkung des Nichtverbreitungsregimes wird deshalb zur ersten Priorität in der Nuklearpolitik Obamas erklärt. Auch das geschieht zum ersten Mal in einem Dokument zur strategischen Nuklearpolitik der USA. Deutlich sichtbar wird das Bemühen, sich von der Nuklearpolitik der Regierung Bush klar abzusetzen und den Boden für eine konstruktive Atmosphäre bei der Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages im Mai zu bereiten.

Diese deutlichen Änderungen finden allerdings auf der Ebene der deklaratorischen Politik statt und haben auch den ein oder anderen Haken. Wer entscheidet zum Beispiel, ob ein Staat seine Nichtverbreitungsverpflichtungen einhält? Der Präsident oder die Vereinten Nationen? Auf Basis von nachprüfbaren Beweisen oder aufgrund geheimdienstlicher Hinweise? Zudem müssen Obamas politische Vorgaben erst noch ihren Niederschlag in Strategiedokumenten, Ziel- und Operationsplänen finden. Es kann etliche Jahre dauern und bis dahin gelten die Vorschriften aus der Zeit George W. Bushs. Die Hoffnung, ein künftiger republikanischer Präsident könne Obamas deklaratorische Politik widerrufen, kann zudem Verzögerungen nach sich ziehen Eine Umsetzungsgarantie für die neue Grundausrichtung gibt es also nicht.

Dass solche Befürchtungen nicht unberechtigt sein müssen, verdeutlichen die Aussagen des NPR zur Zukunft der Nuklearstreitkräfte und die Ergebnisse der START-Verhandlungen. Für beide war offensichtlich der Blick auf die Nuklearpotentiale der anderen Nuklearwaffenstaaten maßgeblich, nicht aber die geänderte Prioritätensetzung der deklaratorischen Nuklearpolitik Obamas.

Der Neue START-Vertrag begrenzt die Zahl strategisch-nuklearer Trägersysteme beider Vertragsparteien auf je 800 Systeme, von denen 700 aktiv sein dürfen und die Zahl der anrechenbar stationierten Sprengköpfe auf je 1.550. Washington und Moskau heben hervor, dass damit die Zahl der Trägersysteme im Vergleich zum ausgelaufenen START-Vertrag um mehr als die Hälfte reduziert wird und die Zahl der Sprengköpfe um 74%. Im Vergleich zum Moskauer SORT-Vertrag von 2002 ergebe sich ein Minus von 30%. Was wie eine substantielle neue Abrüstungsverpflichtung aussieht, erfordert faktisch jedoch nur sehr kleine Abrüstungsschritte. Das liegt zum einen daran, dass beide Seiten schon heute weit unter den alten START-Grenzen liegen und zum anderen daran, dass veränderte Zählregeln bei den Langstreckenbombern zu künstlich kleingerechneten Sprengkopfzahlen geführt haben. Langstreckenbomber mit Marschflugkörpern zählen künftig nur noch als eine stationierte Nuklearwaffe, bislang zählten sie als zehn. Faktisch tragen sie sogar bis zu 20 Atomwaffen. Im Ergebnis dürfen beide Parteien einige Hundert Waffen mehr stationieren als die offiziell vereinbarten 1 550. Wie schon START und SORT, so macht auch der neue Vertrag den Parteien keine Vorschriften, wie viele nicht-stationierte Sprengköpfe sie in Reserve halten dürfen, die reaktiviert werden könnten oder noch nicht delaboriert wurden. Heute besitzen Moskau und Washington zusammen etwa 4.800 stationierte Waffen, insgesamt aber noch rund 22.000 nukleare Sprengköpfe. Bei den Trägersystemen müssen die USA einige Dutzend ausmustern, Russland dürfte sogar noch aufrüsten, wenn es sich das leiten könnte. Es hat nur noch 566 stationierte Trägersysteme.

Die Aussagen des NPR zur Zukunft der US-Nuklearstreitkräfte spiegeln Obamas Vision einer atomwaffenfreien Welt kaum. Der NPR befürwortet die Modernisierung nuklearer Sprengköpfe. Das Modernisierungsprogramm für die U-Bootsprengköpfe vom Typ W-76 soll zuende geführt werden. Die Modernsierungsmöglichkeiten für die Raketensprengköpfe vom Typ W-78 sollen untersucht werden und die umfassende Modernisierung der Atombomben der B-61-Familie soll eingeleitet werden: Das künftige Modell, die B-61-12, soll alle heute noch vorhandenen Bomben der Typen B-61-3, -4, -7 und -10 ersetzen. Fast zwei Mrd. Dollar sind allein für die nächsten fünf Jahren vorgesehen. Zwar hält der NPR fest, dass keine neuen Nuklearwaffen, keine neuen nuklearen Fähigkeiten und keine neue nuklearen Aufgaben entwickelt werden sollen, aber die zuständige Nationale Nukleare Sicherheitsadministration hat sich die Möglichkeit gesichert, alle konventionellen - und wenn der Präsident zustimmt - auch alle nuklearen Komponenten der Nuklearwaffen verändern zu können. Voraussetzung für Änderungen an den nuklearen Komponenten ist, dass die Sicherheit der Waffen oder deren Funktionsfähigkeit verbessert oder die Wahrscheinlichkeit der Notwendigkeit künftiger Atomwaffentest verringert werden kann. Unterschiede zu den Plänen für eine neue Generation verlässlicher Ersatzsprengköpfe (RRWs) sind kaum auszumachen.

Die USA werden auch an der Triade ihrer nuklearen Trägersysteme festhalten und diese nur geringfügig verändern. Alle 450 Interkontinentalraketen sollen künftig nur noch einen Sprengkopf tragen. Ob deren Zahl künftig verringert werden soll, ob weitere Langstreckenbomber ausschließlich konventionelle Aufgaben erfüllen sollen und ob zwei weitere Raketen-U-Boote außer Dienst gestellt werden, das wird erst entschieden, nachdem geklärt wurde, mit welchen Trägersystemen die US-Streitkräfte künftig das Konzept der Prompt Global Strikes mit konventionellen Langstreckenwaffen umsetzen sollen.

Die wesentlichen Modernisierungsvorhaben für die Trägersysteme werden deshalb weitergeführt. Die 450 Interkontinentalraketen vom Typ Minuteman 3 sollen weitere Jahrzehnte einsatzbereit bleiben. „Praktisch jedes Inch“ der Rakete werde deshalb modernisiert und ein Teil der Raketen erhalte zudem modernere Wiedereintrittsflugkörper aus MX-Raketen, erläuterte Generalleutnant Frank G. Klotz dem Senat. Die Trident-Raketen der U-Boote sollen modernisiert bis 2042 im Dienst bleiben. Alle Bombertypen werden technisch aktualisiert und Vorarbeiten für völlig neue Trägersysteme werden vorangetrieben. Dazu gehören ein neuer weitreichender Marschflugkörper und erste Konzepte für einen neuen Bomber. Die Konzeption eines neuen Raketen-U-Boots ist bereits angelaufen. Der Bau soll 2019 beginnen und eine „ununterbrochene strategische Abschreckung in die 2080er Jahre“ sicherstellen, so Stephen Johnson, der zuständige Admiral.

Diese Entscheidungen im stehen in deutlichem Kontrast zu den Äußerungen im politisch-deklaratorischen Teil des NPR. Sie signalisieren, dass die Vereinigten Staaten auch bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts über modernste Nuklearstreitkräfte verfügen wollen und vermitteln den Eindruck, als sei die Vision einer atomwaffenfreien Welt eine Vision für das 22. Jahrhundert.

Innenpolitische Notwendigkeiten dürften wesentlich dazu beigetragen haben, dass sich im Nuklearwaffenpotential der USA nur wenig ändert. Zum einen machte der Kongress Obama im Haushaltsgesetz 2010 enge Vorgaben für die START-Verhandlungen, zum anderen braucht der Präsident für die Ratifizierung des Vertrages zumindest acht Stimmen der Republikaner im Senat. Dass er sie bekommt, ist nicht gesichert - trotz der gravierenden Zugeständnisse, die Obama bereits gemacht hat. Auf dem Weg zu einer nuklearwaffenfreien Welt sind hm eher drei Schritte vor und mindestens zwei zurück gelungen - ein Ergebnis, dass letztlich deutlich an seiner Glaubwürdigkeit zehren und deutliche Fortschritte bei der Stärkung des Nichtverbreitungsregimes während der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages im Mai signifikant erschweren kann.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS