Drei Schritte vor und mindestens zwei zurück
US-Präsident Barack Obama und die Zukunft der Atomwaffen
von Otfried Nassauer
Der Präsident der USA wird von Politikern und Medien für seine
Abrüstungsinitiativen gelobt. Unterm Strich jedoch fällt die
Rüstungsreduzierung viel geringer aus als angenommen – Modernisierungsprogramme
für Nuklearsysteme werden sogar fortgesetzt. Zudem wird die deklaratorische
Politik Obamas an der praktischen Atomstrategie in den nächsten
Jahren nichts ändern.
Für Barack Obama stand die erste Hälfte des Aprils ganz im
Zeichen des Atoms. Ein Jahr nach seiner Prager Rede, in der sich der
US-Präsident die Vision einer Welt ohne atomare Waffen zueigen gemacht
hatte, wollte Obama demonstrieren, dass er seinen Worten auch Taten folgen
läßt. Unmittelbar nach Ostern legte er den lange erwarteten
„Nuclear Posture Review 2010“ vor, eine Blaupause seiner Nuklearpolitik
für die kommenden Jahre. Nur zwei Tage später unterzeichnete
Obama ein „Neues START-Abkommen“ und einigte sich mit Russland auf neue
Obergrenzen für strategisch-nukleare Waffen. Kurz darauf folgte
auf Einladung Obamas ein „Nuklearer Sicherheitsgipfel“, an dem 47 Staats-
und Regierungschefs teilnahmen und sich zu verbesserten Sicherheitsmaßnahmen
für nukleare Materialien verpflichteten. Ein Feuerwerk der Ereignisse,
das eine genauere Betrachtung verdient.
Die gute Nachricht zuerst: Der Nuclear Posture Review (NPR) nimmt das
Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt explizit auf und stellt zudem, dass
es „im Interesse der USA und aller anderen Nationen“ liege, wenn der
„fast 65 Jahre andauernde Rekord; Nuklearwaffen nicht einzusetzen auf
ewige Zeiten ausgedehnt werden“ könne. Solche Töne waren in
der Geschichte der US-Nuklearpolitik selten zu hören und in der
Zeit George W. Bushs ganz sicher gar nicht. Die „fundamentale Aufgabe
und Rolle“ nuklearer Waffen ist es jetzt, „einen nuklearen Angriff auf
die USA, ihre Alliierten und Partner abzuschrecken“. Ziel sei es, die
Rolle nuklearer Waffen weiter zu reduzieren, so dass die Abschreckung
eines Nuklearangriffs künftig die „einzige Aufgabe“ nuklearer Waffen
werde. Vorerst aber müsse an der Option eines Nuklearwaffeneinsatzes
noch festgehalten werden, um „unter extremen Umständen die vitalen
Interessen der USA, ihrer Verbündeten und Partner zu verteidigen.“
Auch die sogenannte Negative Sicherheitsgarantie für die nichtnuklearen
Mitglieder des Atomwaffensperrvertrags wird im NPR neu gefasst und klarer
formuliert: Die “Vereinigten Staaten werden Staaten, die nicht-nukleare
Mitglieder des Nichtverbreitungsvertrages sind und ihre nuklearen Nichtverbreitungsverpflichtungen
erfüllen, nicht mit dem Einsatz nuklearer Waffen drohen oder Nuklearwaffen
gegen Staaten einsetzen.“ Die Garantie gilt explizit auch dann, wenn
einer dieser Staaten biologische oder chemische Waffen einsetzen sollte.
Rechnen müssen mit der nuklearen Drohung Washingtons künftig
also nur noch Nuklearmächte und Staaten, die ihre Verpflichtungen
aus dem NVV nicht einhalten. Im Klartext: Nordkorea und der Iran. Dass
Washington sich gegen diese Staaten auch die Möglichkeit offen hält,
auf einen Chemiewaffensatz mit einem Nuklearwaffeneinsatz zu antworten,
ist einer der wenigen indirekten Hinweise darauf, dass die USA auch künftig
nicht auf die Möglichkeit verzichten, Nuklearwaffen als erste einzusetzen.
Der NPR beschreibt die Gefahr, dass Terroristen an das Material für
eine Nuklearwaffe gelangen oder gar eine Nuklearwaffe einsetzen könnten,
als die größte Bedrohung der Gegenwart. Als zweite große
Bedrohung wird die weitere Verbreitung atomarer Waffen an zusätzlich
Staaten betrachtet. Erst an dritter Stelle steht die Wahrung der „strategischen
Stabilität“ im Blick auf die anderen Nuklearmächte, vor allem
Russland und China. Die Wiederbelebung und Stärkung des Nichtverbreitungsregimes
wird deshalb zur ersten Priorität in der Nuklearpolitik Obamas erklärt.
Auch das geschieht zum ersten Mal in einem Dokument zur strategischen
Nuklearpolitik der USA. Deutlich sichtbar wird das Bemühen, sich
von der Nuklearpolitik der Regierung Bush klar abzusetzen und den Boden
für eine konstruktive Atmosphäre bei der Überprüfung
des Atomwaffensperrvertrages im Mai zu bereiten.
Diese deutlichen Änderungen finden allerdings auf der Ebene der
deklaratorischen Politik statt und haben auch den ein oder anderen Haken.
Wer entscheidet zum Beispiel, ob ein Staat seine Nichtverbreitungsverpflichtungen
einhält? Der Präsident oder die Vereinten Nationen? Auf Basis
von nachprüfbaren Beweisen oder aufgrund geheimdienstlicher Hinweise?
Zudem müssen Obamas politische Vorgaben erst noch ihren Niederschlag
in Strategiedokumenten, Ziel- und Operationsplänen finden. Es kann
etliche Jahre dauern und bis dahin gelten die Vorschriften aus der Zeit
George W. Bushs. Die Hoffnung, ein künftiger republikanischer Präsident
könne Obamas deklaratorische Politik widerrufen, kann zudem Verzögerungen
nach sich ziehen Eine Umsetzungsgarantie für die neue Grundausrichtung
gibt es also nicht.
Dass solche Befürchtungen nicht unberechtigt sein müssen,
verdeutlichen die Aussagen des NPR zur Zukunft der Nuklearstreitkräfte
und die Ergebnisse der START-Verhandlungen. Für beide war offensichtlich
der Blick auf die Nuklearpotentiale der anderen Nuklearwaffenstaaten
maßgeblich, nicht aber die geänderte Prioritätensetzung
der deklaratorischen Nuklearpolitik Obamas.
Der Neue START-Vertrag begrenzt die Zahl strategisch-nuklearer Trägersysteme
beider Vertragsparteien auf je 800 Systeme, von denen 700 aktiv sein
dürfen und die Zahl der anrechenbar stationierten Sprengköpfe
auf je 1.550. Washington und Moskau heben hervor, dass damit die Zahl
der Trägersysteme im Vergleich zum ausgelaufenen START-Vertrag um
mehr als die Hälfte reduziert wird und die Zahl der Sprengköpfe
um 74%. Im Vergleich zum Moskauer SORT-Vertrag von 2002 ergebe sich ein
Minus von 30%. Was wie eine substantielle neue Abrüstungsverpflichtung
aussieht, erfordert faktisch jedoch nur sehr kleine Abrüstungsschritte.
Das liegt zum einen daran, dass beide Seiten schon heute weit unter den
alten START-Grenzen liegen und zum anderen daran, dass veränderte
Zählregeln bei den Langstreckenbombern zu künstlich kleingerechneten
Sprengkopfzahlen geführt haben. Langstreckenbomber mit Marschflugkörpern
zählen künftig nur noch als eine stationierte Nuklearwaffe,
bislang zählten sie als zehn. Faktisch tragen sie sogar bis zu 20
Atomwaffen. Im Ergebnis dürfen beide Parteien einige Hundert Waffen
mehr stationieren als die offiziell vereinbarten 1 550. Wie schon START
und SORT, so macht auch der neue Vertrag den Parteien keine Vorschriften,
wie viele nicht-stationierte Sprengköpfe sie in Reserve halten dürfen,
die reaktiviert werden könnten oder noch nicht delaboriert wurden.
Heute besitzen Moskau und Washington zusammen etwa 4.800 stationierte
Waffen, insgesamt aber noch rund 22.000 nukleare Sprengköpfe. Bei
den Trägersystemen müssen die USA einige Dutzend ausmustern,
Russland dürfte sogar noch aufrüsten, wenn es sich das leiten
könnte. Es hat nur noch 566 stationierte Trägersysteme.
Die Aussagen des NPR zur Zukunft der US-Nuklearstreitkräfte spiegeln
Obamas Vision einer atomwaffenfreien Welt kaum. Der NPR befürwortet
die Modernisierung nuklearer Sprengköpfe. Das Modernisierungsprogramm
für die U-Bootsprengköpfe vom Typ W-76 soll zuende geführt
werden. Die Modernsierungsmöglichkeiten für die Raketensprengköpfe
vom Typ W-78 sollen untersucht werden und die umfassende Modernisierung
der Atombomben der B-61-Familie soll eingeleitet werden: Das künftige
Modell, die B-61-12, soll alle heute noch vorhandenen Bomben der Typen
B-61-3, -4, -7 und -10 ersetzen. Fast zwei Mrd. Dollar sind allein für
die nächsten fünf Jahren vorgesehen. Zwar hält der NPR
fest, dass keine neuen Nuklearwaffen, keine neuen nuklearen Fähigkeiten
und keine neue nuklearen Aufgaben entwickelt werden sollen, aber die
zuständige Nationale Nukleare Sicherheitsadministration hat sich
die Möglichkeit gesichert, alle konventionellen - und wenn der Präsident
zustimmt - auch alle nuklearen Komponenten der Nuklearwaffen verändern
zu können. Voraussetzung für Änderungen an den nuklearen
Komponenten ist, dass die Sicherheit der Waffen oder deren Funktionsfähigkeit
verbessert oder die Wahrscheinlichkeit der Notwendigkeit künftiger
Atomwaffentest verringert werden kann. Unterschiede zu den Plänen
für eine neue Generation verlässlicher Ersatzsprengköpfe
(RRWs) sind kaum auszumachen.
Die USA werden auch an der Triade ihrer nuklearen Trägersysteme
festhalten und diese nur geringfügig verändern. Alle 450 Interkontinentalraketen
sollen künftig nur noch einen Sprengkopf tragen. Ob deren Zahl künftig
verringert werden soll, ob weitere Langstreckenbomber ausschließlich
konventionelle Aufgaben erfüllen sollen und ob zwei weitere Raketen-U-Boote
außer Dienst gestellt werden, das wird erst entschieden, nachdem
geklärt wurde, mit welchen Trägersystemen die US-Streitkräfte
künftig das Konzept der Prompt Global Strikes mit konventionellen
Langstreckenwaffen umsetzen sollen.
Die wesentlichen Modernisierungsvorhaben für die Trägersysteme
werden deshalb weitergeführt. Die 450 Interkontinentalraketen vom
Typ Minuteman 3 sollen weitere Jahrzehnte einsatzbereit bleiben. „Praktisch
jedes Inch“ der Rakete werde deshalb modernisiert und ein Teil der Raketen
erhalte zudem modernere Wiedereintrittsflugkörper aus MX-Raketen,
erläuterte Generalleutnant Frank G. Klotz dem Senat. Die Trident-Raketen
der U-Boote sollen modernisiert bis 2042 im Dienst bleiben. Alle Bombertypen
werden technisch aktualisiert und Vorarbeiten für völlig neue
Trägersysteme werden vorangetrieben. Dazu gehören ein neuer
weitreichender Marschflugkörper und erste Konzepte für einen
neuen Bomber. Die Konzeption eines neuen Raketen-U-Boots ist bereits
angelaufen. Der Bau soll 2019 beginnen und eine „ununterbrochene strategische
Abschreckung in die 2080er Jahre“ sicherstellen, so Stephen Johnson,
der zuständige Admiral.
Diese Entscheidungen im stehen in deutlichem Kontrast zu den Äußerungen
im politisch-deklaratorischen Teil des NPR. Sie signalisieren, dass die
Vereinigten Staaten auch bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts über
modernste Nuklearstreitkräfte verfügen wollen und vermitteln
den Eindruck, als sei die Vision einer atomwaffenfreien Welt eine Vision
für das 22. Jahrhundert.
Innenpolitische Notwendigkeiten dürften wesentlich dazu beigetragen
haben, dass sich im Nuklearwaffenpotential der USA nur wenig ändert.
Zum einen machte der Kongress Obama im Haushaltsgesetz 2010 enge Vorgaben
für die START-Verhandlungen, zum anderen braucht der Präsident
für die Ratifizierung des Vertrages zumindest acht Stimmen der Republikaner
im Senat. Dass er sie bekommt, ist nicht gesichert - trotz der gravierenden
Zugeständnisse, die Obama bereits gemacht hat. Auf dem Weg zu einer
nuklearwaffenfreien Welt sind hm eher drei Schritte vor und mindestens
zwei zurück gelungen - ein Ergebnis, dass letztlich deutlich an
seiner Glaubwürdigkeit zehren und deutliche Fortschritte bei der
Stärkung des Nichtverbreitungsregimes während der Überprüfungskonferenz
des Atomwaffensperrvertrages im Mai signifikant erschweren kann.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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