Neues Deutschland
23. November 2002


Ein amerikanischer Gipfel in Prag

von Otfried Nassauer


George W. Bush liebt es, den starken Mann zu geben. In Prag war er es. Die US-Vorschläge prägten den Gipfel und leiten eine so gravierende Veränderung der Allianz ein wie vielleicht kein Gipfel zuvor. Prag wird die Europäern noch lange beschäftigen und ihnen schwer im Magen liegen.

Das liegt weniger an jenem Thema, das Anlaß für den Gipfel war. In Prag wurde die NATO für sieben Staaten aus Mittelost- und Südosteuropa geöffnet, darunter mit den baltischen erstmals für Nachfolgestaaten der Sowjetunion und mit Rumänien und Bulgarien um die großen Balkanstaaten, die bislang nicht zur NATO gehören. Im Mai 2004 hat die NATO 26 Mitglieder. Die Neuen treten jedoch einem ganz anderen Bündnis bei als jenem, in das sie lange aufgenommen werden wollten. Dafür wurden in Prag die Weichen gestellt.

Jene NATO, die vor allem in Europa kollektive Territorialverteidigung praktizieren sollte, gehört der Vergangenheit an. Von nun an wird die NATO weltweit agieren und intervenieren, gegen Terroristen vorgehen können und Staaten wie nichtstaatliche Akteure, die nach Massenvernichtungswaffen oder deren Trägersystemen streben, auch militärisch davon abhalten können. Nein, das solle "von keinem Staat und keiner Organisation als Bedrohung wahrgenommen werden, sondern vielmehr als Ausdruck der Entschlossenheit unsere Bevölkerung, unser Territorium und unsere Streitkräfte vor jedem bewaffneten Angriff zu schützen, einschließlich terroristischer Angriffe, die von außen gelenkt werden", erläutert das Gipfel-Kommunique. Und es solle auch "in Übereinstimmung mit dem Washingtoner Vertrag (d.h. NATO-Vertrag, d.Red) und der Charta der Vereinten Nationen" geschehen. Doch können auch solche Einhegungsversuche gegenüber der viel offener mit präventiven und präemptiven militärischen Angriffen drohenden Sprache Washingtons nicht darüber hinwegtäuschen, dass nun auch die NATO das Recht einer "vorbeugenden Selbstverteidigung" reklamiert.

Als militärisches Instrument dafür soll bis 2006 eine NATO-Eingreiftruppe, die NATO Response Force (NRF) im Umfang von mehr als 20.000 Soldaten aufgebaut werden; mit Rotationskräften werden es mindestens 60.000 sein. Dafür gehen vor allem die europäischen NATO-Staaten neue politisch verbindliche Modernisierungsverpflichtungen ein, die sogenannten Prager Fähigkeitsverpflichtungen. Mit deren Hilfe sollen die europäischen Kräfte so aufgerüstet werden, dass sie bei weltweiten Operationen mit denen der USA problemlos zusammenarbeiten können. Zudem wird ein neues strategisch-funktionales NATO-Oberkommando geschaffen, das entsprechende Einsatzkonzepte und Modernisierungsvorhaben entwickeln und die Fähigkeit zur transatlantischen Zusammenarbeit sicherstellen soll.

Auffällig ist, dass der für Prag angedachte EU-NATO-Gipfel ausfallen musste. Er sollte jene bilateralen Abkommen besiegeln, die die Voraussetzung dafür sind, dass die EU sich eigenständig im militärischen Krisenmanagements engagieren kann, ohne NATO-Fähigkeiten zu duplizieren. Türkische Forderungen und Vetodrohungen verhindern diese Abkommen, ohne die die EU nicht einmal die kleine, aber sehr wichtige Friedensmission in Mazedonien planmäßig übernehmen kann. Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik bleibt damit weiter zahnlos; die EU-Krisenkräfte werden nicht, wie geplant, Anfang 2003 einsatzbereit. Das dürfte beim starken Mann des NATO-Gipfels, George W. Bush, ein Schmunzeln auslösen. Europas Nationen haben ihm die fähigsten Teile ihrer Krisenkräfte für die NATO-Interventionstruppe zugesagt und versprochen, vorhandene Finanzmittel vorrangig für diese Truppe einzusetzen. Er kann sich nun zurücklehnen. Die militärische Unterstützung für Washington ist gesichert; was aus dem eigenständigen Krisenmanagement der EU wird und damit aus Europas Anspruch, nicht nur mitmachen, sondern auch mitentscheiden zu können, das wird man angesichts knapper Kassen sehen. Selbst wenn das Geld aufgebracht würde: Modernisiert wird in Europa jetzt nach amerikanischem Gusto.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).