Gretchenfrage auf der Tagesordnung
von Otfried Nassauer
In vier Wochen wird der Schleier der Geheimhaltung gelüftet. Beim NATO-Gipfel am 19./20. November stellt die Allianz ihr neues Strategisches Konzept vor. Es soll aufzeigen, warum es weiter Bedarf für die NATO gibt und wie sie mit den Herausforderungen der Zukunft umgehen will. Der Anspruch ist hehr, doch das Ergebnis wird kaum überzeugen.
Die Ursache ist so einfach wie komplex: Die NATO muss ihre wichtigste Hausaufgabe erneut unerledigt vertagen. Auch 20 Jahre nach dem Kalten Krieg sind die Mitglieder weiter uneins, ob die NATO Sicherheit vor einem potenziell aggressiven Russland gewährleisten oder gemeinsam mit dem Partner Russland Sicherheit für Europa gestalten soll. Die Gretchenfrage der Ost- und Entspannungspolitik der 70er Jahre steht erneut auf der Tagesordnung. Sie prägt – ohne dass es angesprochen würde – viele Streitfragen der Erarbeitung des Strategischen Konzepts.
Neue Mitglieder wie Balten und Polen sehen die Verteidigung des Bündnisterritoriums weiterhin als Hauptaufgabe. Sie wollen, dass die NATO Sicherheit vor Russland schafft und Eventualfallpläne zur Verteidigung der baltischen Republiken entwirft. Der georgisch-russische Krieg 2008 ist ihnen Beleg für die Notwendigkeit. Deshalb zeigen sie wenig Interesse an der konventionellen Rüstungskontrolle. Die NATO ist ja überlegen. Deshalb lehnen sie den Abzug der letzten Atomwaffen der USA aus Europa ab. Moskau besitze auch welche. Und deshalb wäre es ihnen recht, wenn die NATO auch Cyberangriffe oder blockierte Pipelines künftig als Casus Belli beschreiben würde, auf die sie wie auf militärische Angriffe mit dem der Ausrufung des Bündnisfalls reagiert.
Natürlich teilen nicht alle NATO-Länder diese Haltung. Washington braucht Moskau heute in etlichen Bereichen als ordnungspolitischen Partner. Deutschland und Frankreich wollen Russland mittel- und längerfristig in ein kooperatives, euroatlantisches Sicherheitssystem einbinden. Die Suche nach immer neuen Anlässen für eine Konfrontationspolitik gegenüber Moskau ist ihnen höchst suspekt. Aber: Die NATO als Ganzes muss Kompromisse finden, die alle mittragen. Dass dabei nicht nur harmlose Vorschläge auf den Tisch kommen, demonstrierte in der letzten Woche NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen: »Ich denke, dass weder ein Cyberangriff noch irgendein anderer Angriff im Voraus als klarer Fall für den Artikel 5 beschrieben werden kann. Da hängt sehr viel von den konkreten Umständen ab. (...) Ich würde das eine konstruktive Uneindeutigkeit im Blick auf die Anwendung des Artikels 5 nennen. Und exakt das ist die Stärke des Artikels 5, dass ein potenzieller Aggressor nie weiß, wann die Allianz den Bündnisfall ausruft.«
Also möglicherweise doch bei einer Cyberattacke, bei einer gesperrten Pipeline oder einem Piraterie-Zwischenfall? Das ließe die Zahl der Fälle, in denen die NATO künftig behaupten könnte, Gewaltanwendung als legitime Selbstverteidigung zu praktizieren, deutlich steigen. Aus der konstruktiven Uneindeutigkeit könnte schnell eine flexible Legitimation für neue Kriege entstehen. Rasmussen benannte auch den Präzedenzfall, aus dem er seine Idee ableitet: Die Ausrufung des Bündnisfalls am 12. 9. 2001 – eine Idee der Regierung Schröder-Fischer.
ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für
Transatlantische Sicherheit - BITS
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