Neues Deutschland
23. März 2013


Amerikanischer Raketentraum

Otfried Nassauer


Die US-Sicherheitspolitik kennt ihren ganz eigenen »Amerikanischen Traum«: den Glauben, dass die USA ihr Staatsgebiet auch im Atomzeitalter unverwundbar machen können. Heute vor 30 Jahren bekam dieser Traum ein neues Gesicht. Präsident Ronald Reagan verkündete mitten in der Auseinandersetzung um die Aufstellung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa ein neues Rüstungsprojekt: SDI, die Strategische Verteidigungsinitiative. Modernste Technik könne es bald ermöglichen, die USA vor einem atomaren Raketenangriff zu schützen. Abschreckung werde künftig nicht nur mit offensiven, sondern auch mit defensiven Mitteln möglich. Eine Kombination aus Weltraumrüstung, Laserwaffen, künstlicher Intelligenz, Raketenabwehr- und Anti-Satellitenwaffen werde das über kurz oder lang ermöglichen. Atomare Waffen würden deshalb langfristig an Bedeutung verlieren. 

Reagans Vision ist noch immer lebendig. Der Kern des Projektes, die Raketenabwehr, wird intensiv weiter verfolgt. Weder das Ende des Kalten Krieges noch unbefriedigende Testergebnisse und grundsätzliche Zweifel an technischer Machbarkeit konnten das Projekt stoppen. Zu verlockend war und ist das Versprechen der Unverwundbarkeit. Erste Abfangraketen sind in Alaska und Kalifornien stationiert. Die Republikaner fordern nun eine Aufstellung an der Ostküste. Raketenpotenziale kleiner »Schurkenstaaten« wie Nordkorea oder Iran dienen als Begründung. Zweiflern an der Funktionsfähigkeit oder Zuverlässigkeit der Raketenabwehrtechnologie begegnen die Befürworter mit einem Glaubenssatz, der aus der Abschreckungstheorie bekannt ist: Solange der Gegner nicht sicher sein kann, dass die Raketenabwehr nicht funktioniert, muss er so planen, als funktioniere sie. Genutzt wird die Raketenabwehr heute vor allem als politisches Signal: Als Nordkorea kürzlich einen kleinen Satelliten ins All schoss, reagierte die US-Regierung mit der Ankündigung, zusätzliche Abfangraketen in Alaska aufzustellen. In der NATO dient die Raketenabwehr als politischer Kitt für den gefährdeten Zusammenhalt der Allianz: Die NATO nahm die Raketenabwehr in ihren Aufgabenkatalog auf. Sie will ein Abwehrsystem für Europa aufstellen. Inzwischen wagen es westliche Sicherheitspolitiker kaum noch, Sinn und Notwendigkeit von Raketenabwehrsystemen grundsätzlich infrage zu stellen. 

Bedeutsamer als die reale Fähigkeit zur Raketenabwehr wurden deren politische Auswirkungen: In Moskau galt das Vorhaben immer als Teil eines Versuchs der USA, die Fähigkeit zu einem entwaffnenden Erstschlag zu erlangen. Das Abwehrsystem solle einen russischen Vergeltungsschlag nach einem Angriff verhindern. Washington wolle als Erster schießen, ohne als Zweiter sterben zu müssen. Die Raketenabwehr wurde wiederholt zum Streitthema, das die Beziehungen zwischen Moskau und Washington ernsthaft belastete. 

Washington hat die Raketenabwehr zum Bestandteil der Abschreckung gemacht und verfolgt gegenüber seinen Bündnispartnern Konzepte regionaler Abschreckung, in denen das genauso ist. Auch das dient dem Versprechen der Unverwundbarkeit. Regionale Abschreckungssysteme erlauben das Nachdenken über begrenzbare regionale Kriege, selbst dann, wenn unter den Gegnern eine kleine Atommacht ist. Deren atomare Waffen könnten die USA im Zweifel ja abfangen. Vorausgesetzt, die Raketenabwehr funktioniert.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS