Amerikanischer Raketentraum
Otfried Nassauer
Die US-Sicherheitspolitik kennt ihren ganz eigenen
»Amerikanischen Traum«: den Glauben, dass die USA
ihr Staatsgebiet auch im Atomzeitalter unverwundbar machen
können. Heute vor 30 Jahren bekam dieser Traum ein neues
Gesicht. Präsident Ronald Reagan verkündete mitten in
der Auseinandersetzung um die Aufstellung atomarer
Mittelstreckenraketen in Europa ein neues Rüstungsprojekt:
SDI, die Strategische Verteidigungsinitiative. Modernste Technik
könne es bald ermöglichen, die USA vor einem atomaren
Raketenangriff zu schützen. Abschreckung werde
künftig nicht nur mit offensiven, sondern auch mit defensiven
Mitteln möglich. Eine Kombination aus
Weltraumrüstung, Laserwaffen, künstlicher
Intelligenz, Raketenabwehr- und Anti-Satellitenwaffen werde das
über kurz oder lang ermöglichen. Atomare Waffen
würden deshalb langfristig an Bedeutung verlieren.
Reagans Vision ist noch immer lebendig. Der Kern des
Projektes, die Raketenabwehr, wird intensiv weiter verfolgt. Weder das
Ende des Kalten Krieges noch unbefriedigende Testergebnisse und
grundsätzliche Zweifel an technischer Machbarkeit konnten das
Projekt stoppen. Zu verlockend war und ist das Versprechen der
Unverwundbarkeit. Erste Abfangraketen sind in Alaska und Kalifornien
stationiert. Die Republikaner fordern nun eine Aufstellung an der
Ostküste. Raketenpotenziale kleiner
»Schurkenstaaten« wie Nordkorea oder Iran dienen
als Begründung. Zweiflern an der Funktionsfähigkeit
oder Zuverlässigkeit der Raketenabwehrtechnologie begegnen die
Befürworter mit einem Glaubenssatz, der aus der
Abschreckungstheorie bekannt ist: Solange der Gegner nicht sicher sein
kann, dass die Raketenabwehr nicht funktioniert, muss er so planen, als
funktioniere sie. Genutzt wird die Raketenabwehr heute vor allem als
politisches Signal: Als Nordkorea kürzlich einen kleinen
Satelliten ins All schoss, reagierte die US-Regierung mit der
Ankündigung, zusätzliche Abfangraketen in Alaska
aufzustellen. In der NATO dient die Raketenabwehr als politischer Kitt
für den gefährdeten Zusammenhalt der Allianz: Die
NATO nahm die Raketenabwehr in ihren Aufgabenkatalog auf. Sie will ein
Abwehrsystem für Europa aufstellen. Inzwischen wagen es
westliche Sicherheitspolitiker kaum noch, Sinn und Notwendigkeit von
Raketenabwehrsystemen grundsätzlich infrage zu
stellen.
Bedeutsamer als die reale Fähigkeit zur
Raketenabwehr wurden deren politische Auswirkungen: In Moskau galt das
Vorhaben immer als Teil eines Versuchs der USA, die Fähigkeit
zu einem entwaffnenden Erstschlag zu erlangen. Das Abwehrsystem solle
einen russischen Vergeltungsschlag nach einem Angriff verhindern.
Washington wolle als Erster schießen, ohne als Zweiter
sterben zu müssen. Die Raketenabwehr wurde wiederholt zum
Streitthema, das die Beziehungen zwischen Moskau und Washington
ernsthaft belastete.
Washington hat die Raketenabwehr zum Bestandteil der
Abschreckung gemacht und verfolgt gegenüber seinen
Bündnispartnern Konzepte regionaler Abschreckung, in denen das
genauso ist. Auch das dient dem Versprechen der Unverwundbarkeit.
Regionale Abschreckungssysteme erlauben das Nachdenken über
begrenzbare regionale Kriege, selbst dann, wenn unter den Gegnern eine
kleine Atommacht ist. Deren atomare Waffen könnten die USA im
Zweifel ja abfangen. Vorausgesetzt, die Raketenabwehr funktioniert.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
|