von Manfred Schünemann Der ukrainische Präsident Leonid Kutschma sieht sich nach einer dreiwöchigen Kur in Baden-Baden persönlich in guter Verfassung. Derweil tobt ein heftiger Streit um die Verfassung seines Landes. Trotz intensiver Bemühungen ist es Parlamentspräsident Wolodymir Litwin im neuen Jahr noch nicht gelungen, die Arbeitsfähigkeit des ukrainischen Parlaments wieder herzustellen. Ende letzter Woche musste er die Sitzungsperiode der Werchowna Rada (Oberster Rat) beenden, ohne dass die Opposition ihre Blockadehaltung aufgegeben hätte. Ihr heftiger Protest richtet sich gegen ein Gesetz über weitgehende Verfassungsänderungen, das von der präsidententreuen Parlamentsmehrheit mit Unterstützung der Kommunisten am 24. Dezember durchgesetzt wurde. Die Verfassungsänderungen sehen unter anderem die Abschaffung der Direktwahl des Präsidenten und die Einführung des reinen Mehrheitswahlrechts bei den Parlamentswahlen ab 2006 vor. Überdies werden dem Parlament größere Befugnisse hinsichtlich der Regierungsbildung und der Kontrolle der Exekutive zugebilligt. Zur Anpassung der Wahlperioden von Parlament und Präsident ist vorgesehen, die nächste Amtszeit des Präsidenten nach der Wahl in diesem Herbst auf zwei Jahre zu begrenzen. Gerade darin sehen die Oppositionsparteien einen Versuch, dem derzeitigen Amtsinhaber Leonid Kutschma die Wiederwahl zu ermöglichen. Die Verfassung von 1996 sah für den Präsidenten nur zwei Amtszeiten vor, und Kutschma wurde bereits zweimal ? 1994 und 1999 ? zum Staatsoberhaupt gewählt. Am 30. Dezember entschied das Verfassungsgericht tatsächlich, dass seine erste Amtszeit nicht unter die genannte Regelung falle, da sie vor Verabschiedung der 96er Verfassung angetreten wurde. Kutschma dürfe sich also ein drittes Mal bewerben. Der Streit um die Verfassungsänderungen verdeutlicht eine bereits seit den Parlamentswahlen im März 2002 schwelende innenpolitische Krise, bei der es im Kern um die künftige Machtverteilung und den Einfluss der wichtigsten politischen Gruppierungen in der Ukraine geht. Der Oppositionsblock »Unsere Ukraine« unter dem nach Westen orientierten ehemaligen Ministerpräsidenten Viktor Juschtschenko sieht in der Präsidentenwahl dieses Herbstes eine Chance, seinen Erfolg bei den letzten Parlamentswahlen (Wahlsieger mit knapp 25 Prozent Stimmenanteil) politisch nutzbar zu machen. Den »Parteien der Macht« dagegen geht es mit den angestrebten Verfassungsänderungen vor allem darum, die bestehenden Machtstrukturen auch in der Nach-Kutschma-Ära zu sichern. Die Kommunisten wiederum erhoffen sich von ihrem Ja zu den Verfassungsänderungen eine Rückkehr zur »Rätedemokratie«, in der sie auf Grund ihres traditionell hohen Stimmenanteils einen größeren, wenn nicht gar entscheidenden Einfluss auf die inhaltlichen und personellen Entscheidungen der Regierungspolitik nehmen könnten. Der Ausgang der Auseinandersetzungen ist schwer vorhersehbar, zumal nicht nur regimetreue Politiker und Medien darauf verweisen, dass bestimmte Oppositionskräfte mit ihren Protestaktionen ein »georgisches« Szenarium verfolgen könnten, um Viktor Juschtschenko an die Macht zu bringen. Ein »Erfahrungsaustausch« zwischen dem künftigen georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili (der in Kiew studiert hatte) und Jusch-tschenko hat bereits stattgefunden. Man muss kein Anhänger von Verschwörungstheorien sein, um den Zusammenhang zwischen personalpolitischen Entscheidungen und der Bestimmung des künftigen innen- und außenpolitischen Kurses zu erkennen. Zwölf Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR reifen überall in den ehemaligen Sowjetrepubliken Entscheidungen über die Nachfolge der zumeist noch vom sowjetische System geprägten Führungspersönlichkeiten heran. Die direkte und indirekte Einflussnahme der USA und anderer westlicher Staaten auf die personellen Entscheidungen in Aserbaidshan und Georgien verdeutlicht, dass mit dem Personalwechsel eine neue Runde der Sicherung außen- und innenpolitischer Interessen in der postsowjetischen Region einhergeht. Der für seine strategischen Überlegungen bekannte USA-Politologe Zbignew Brzezinski betonte erst kürzlich, dass nach der »Warschauer und der Vilniuser Erweiterungsrunde« mit dem Istanbuler NATO-Gipfel die »Kiewer Phase« der Ostausdehnung der NATO eingeleitet werden kann. Dabei gehe es zunächst um »die Einbindung der Ukraine, später aber auch um andere ehemalige Sowjetrepubliken, einschließlich Aserbaidshan und Georgien«. Eine Präsidentschaft von Viktor Juschtschenko könnte solche Überlegungen zur Realität werden lassen und der Ukraine endgültig den Weg in die westlichen Bündnisstrukturen, vor allem in die NATO, öffnen. Der Verfassungsstreit in der Ukraine hat demzufolge nicht nur große
innenpolitische Bedeutung, sondern er betrifft erneut die Grundfrage der Positionierung
der Ukraine im europäischen Beziehungsgefüge, ihr Verhältnis zu Russland und zum
Westen. Der Ausgang des Verfassungsstreits und die Besetzung des Präsidentenamtes im
Herbst beeinflussen also wichtige Richtungsentscheidungen über die weitere Entwicklung in
der gesamten postsowjetischen Region und darüber hinaus in Europa. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BITS.
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