Neues Deutschland
18. August 2011


Das Erbe des »Gröshaz«

von Otfried Nassauer


»America, it is time to focus on nation building here at home.« Amerika, es ist an Zeit, sich hier, zu Hause, auf den Wiederaufbau der Nation zu konzentrieren – eine Aufforderung so ungewöhnlich und bemerkenswert, wie der Redner, der sie am 22. Juni dieses Jahres aussprach. Es war US-Präsident Barack Obama.

Was veranlasste den Präsidenten der stärksten Militär- und größten Wirtschaftsmacht der Erde, mit Blick auf sein eigenes Land von der Notwendigkeit des »nation building« zu reden? Vom Wiederaufbau nicht mehr funktionierender staatlicher Strukturen? Gewöhnlich fällt der Begriff im Zusammenhang mit schwachen, zerfallenden Staaten. Sind oder werden die USA ein »failing state«, ein Staat, der von Schwäche und Zerfall bedroht ist?

Obama riskierte die Assoziationen bewusst. Seine Aufforderung zum »nation building« in den USA stand im Kontext seiner Ankündigung, die US-Truppen in Afghanistan bis zum Jahresende um 10 000 verringern zu wollen. Bis 2014 sollen alle Kampftruppen das Land verlassen haben und die Afghanen die Verantwortung für die Sicherheit in ihrem Land übernehmen. Obama will nach dem Krieg in Irak einen weiteren Teil der Hinterlassenschaft seines Vorgängers, George W. Bush, abwickeln, eines Erbes, das die Weltmacht USA und ihre Handlungsfähigkeit deutlich geschwächt hat.

Als George W. Bush im Januar 2001 das Amt des US-Präsidenten von Bill Clinton übernahm, erwarteten ihn und seine Mitarbeiter eine schlechte und eine gute Nachricht. Die schlechte: Auf vielen Computer-Tastaturen im Weißen Haus fehlte der Buchstabe »W«. W wie Bushs mittleres Initial, aber auch W wie War, also Krieg. Bush übernahm von Clinton einen Staat, der keinen heißen Krieg führte und – erstmals seit langer Zeit – Haushaltsüberschüsse, gar in dreistelliger Milliardenhöhe, erwirtschaftete. Nach den Jahren der Reaganomics, in denen die Verschuldung explodiert war, konnten erstmals Staatsschulden abgebaut werden. Der US-Staat gewann neue Gestaltungsmöglichkeiten und wieder Handlungsfreiheit. Ein historischer Glücksfall für einen Regierungschef, der neu ins Amt kommt.

George W. Bush nutzte ihn auf seine Weise. Noch im ersten Amtsjahr reduzierte seine Regierung den Haushaltsüberschuss durch Steuergeschenke für Wohlhabende und Konzerne sowie moderat höhere Ausgaben für militärische Zwecke deutlich. Zudem nahm seine Administration die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 zum willkommenen Anlass, um die Sicherheitspolitik Washingtons neu auszurichten. Unter Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht der UN-Charta begann die Regierung Bush den »globalen Krieg gegen den Terror« (GWOT), der von manchen neokonservativen Sicherheitspolitikern, die Bush und sein Vize Dick Cheney zahl- und einflussreich in ihre Regierung holten, auch als »Vierter Weltkrieg« von langer oder gar unbegrenzter Dauer bezeichnet wurde. Schon bald begannen zudem die Vorbereitungen für einen weiteren Krieg, mit dem eine alte Rechnung beglichen werden sollte: gegen Irak und Saddam Hussein. Beide Konflikte erlaubten es, über Nachtrags- und Ergänzungshaushalte die Staatsverschuldung auszuweiten. Ab 2002 verzeichneten die USA wieder ein rasch wachsendes Haushaltsdefizit.

Die Neo- und Ultrakonservativen präsentierten ihr Projekt der Neuordnung des gesamten Nahen und Mittleren Ostens als umfassende Modernisierung, Demokratisierung und Liberalisierung der arabischen und islamischen Welt. Um Erfolg zu haben, bedürfe es nur des politischen Willens, dauerhaften Drucks und einer Strategie der permanenten auch militärischen Offensive. Aus ihrer Sicht versprach dieser Ansatz mehr Einfluss auf die künftige Verwertung der gewaltigen Energiereserven der Golfregion sowie dauerhaft gute Argumente für dauerhaft hohe Militärausgaben. Sie hofften, langfristig günstige Bedingungen für eine dominante Rolle Washingtons in Asien durchsetzen und offensiv mit jenem großen Problem umgehen zu können, das Andrew Marshall, ein einflussreicher Vordenker für beide Gruppen, als wichtigste Herausforderung für das 21. Jahrhundert identifiziert hatte: In ganz Asien werde es in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts – ähnlich wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa – zur Neuverteilung der Macht kommen. Dafür sei Washington militärisch solange schlecht gerüstet, wie es keine Strategien entwickele, mit der die USA diese Umgestaltung aktiv betreiben könnten, statt nur auf Veränderungen zu reagieren.

Binnen weniger Jahre zeigte sich jedoch, dass das strategische Konzept der Neo- und Ultrakonservativen auf Hybris und allerlei Illusionen beruhte. Der globale Krieg gegen den Terror zeitigte nur wenige Erfolge und geriet deshalb zunehmend in den Hintergrund. In Irak sahen sich die US-Truppen nach der anfänglichen Euphorie über den Sturz des Diktators bald mit einem immer stärker werdenden militanten Widerstand konfrontiert. In Afghanistan erstarkten die Taliban ab 2005 erheblich. Sie konnten einen kontinuierlichen militärischen Widerstand gegen die ausländischen Besatzer organisieren. In beiden Ländern gelang es den von Washington gestützten Regierungen nicht, eine ausreichende Kontrolle oder eine hinreichende Akzeptanz und Unterstützung durch die Bevölkerung zu gewinnen. Die Kosten der Konflikte schossen für Washington in die Höhe.

Unter dem Druck des Militärs schwenkte die Regierung Bush in ihren letzten Amtsjahren um. Sie setzte im Irak verstärkt auf eine Strategie der Aufstandsbekämpfung und der Überleitung der Sicherheitsverantwortung auf die neu aufgebauten irakischen Sicherheitskräfte. So sollte die Option eines Abzugs der US-Truppen ohne den Gesichtsverlust einer militärischen Niederlage gegen die Aufständischen abgesichert werden.

Als Barack Obama Bush Anfang 2009 ablöste, erbte er dessen ungeliebte Kriege und eine horrende Staatsverschuldung. Von 2001 bis 2008 hatte diese sich auf über zehn Billionen Dollar fast verdoppelt – aufgrund der Kriegskosten, steigender Zinslasten und Hunderter Milliarden, die die Regierung Bush noch in den letzten Monaten in die Rettung des Finanzsystem der USA pumpte. Binnen zwei Jahren sollte sie um weitere drei Billionen Dollar steigen.

Obama übernahm also die Führung eines Staates, dessen Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten wieder erheblich eingeschränkt waren. Ihm blieb – auch angesichts der Interessen des US-Militärs – keine andere Möglichkeit, als in Irak die Option eines Abzugs mit möglichst geringem Gesichtsverlust weiter zu verfolgen und das gleiche Ziel auf Afghanistan zu übertragen. Seine Administration entschloss sich, die Aufstandsbekämpfung und -schwächung in Afghanistan auf die Stammesgebiete Pakistans auszudehnen und dies öffentlich als Bekämpfung Al Qaidas zu deklarieren. Seit dem Tod Osama bin Ladens stellt sich die Frage, wann auch dieser unter Bush »erklärte« Krieg offiziell beendet werden kann.

Zurück zu der eingangs aufgeworfenen Frage: Impliziert Obamas Aufforderung zum Nation-Building im eigenen Land, dass die USA ein scheiternder Staat sind oder bald sein könnten? Wohl kaum. Obamas Aufforderung diente dazu, neue Prioritäten einzufordern: Die USA müssen Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten zurückgewinnen, die sie durch die von Größenwahn, Hybris und strategische Unfähigkeit geprägte Zeit der Neo- und Ultrakonservativen während der Bush-Jahre verloren haben. Deren Traum, Washington könne die künftigen Machtverschiebungen in Asien gestaltend dominieren, ist ausgeträumt. Dazu fehlen die Mittel. Würde er erneut geträumt, so geriete Washingtons Rolle als globale Führungsmacht in Gefahr. Darauf verweisen die Vernunft anmahnenden Worte aus China während der jüngsten Diskussion über den drohenden Staatskonkurs der USA.

Und George W. Bush? Mag sein, dass er hoffte, als »Größter Sheriff aller Zeiten (GröShaZ)« in Geschichtsbücher einzugehen. Wie so mancher Sheriff des Wilden Westens glaubte Bush, Recht selbst setzen zu können. Doch schon im Wilden Westen galt: Setzungen dieser Art überdauerten die Lebens- oder Amtszeit des Sheriffs nur äußerst selten.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS