Neues Deutschland
13. August 2003


Ukraine: Missernte zum Wahlkampfstart - Vorzeitiges Ende der politischen Sommerpause in Kiew

von Manfred Schünemann


Gewöhnlich endet die politische Sommerpause in Kiew mit dem Unabhängigkeitstag am 24. August. In diesem Jahr kehrte allerdings gar keine richtige Sommerruhe ein.

Wegen schlechter Ernteaussichten konnten Ministerpräsident Janukowitsch und andere Mitglieder seines Kabinetts ihre Urlaubsresidenzen auf der Krim kaum nutzen: Wie zu sowjetischen Zeiten mussten sie eine möglichst verlustarme Ernte organisieren. Prognosen besagen nämlich, dass in diesem Jahr nur etwa 25 bis 30 Millionen Tonnen Getreide geerntet werden – 15 Millionen Tonnen weniger als 2002. Angesichts erster Hamsterkäufe von Mehl und Brot ordnete die Regierung bereits einen vorläufigen Preisstop an. Doch fragt sich, wie drastische Preiserhöhungen im Herbst verhindert und der soziale Frieden gesichert werden können. Sollte es der Regierung nicht gelingen, die Verbraucherpreise einigermaßen stabil zu halten, wäre Janukowitschs Teilnahme am bevorstehenden Präsidentschaftswahlkampf jedenfalls von vornherein aussichtslos.

Wie so oft in den vergangenen Jahren, wenn lebenswichtige Produkte in der Ukraine knapp und die innenpolitische Situation unwägbar wurden, blieb Kiew auch diesmal keine andere Wahl, als beim großen Nachbarn um Hilfe nachzusuchen. Moskau ließ sich nicht lange bitten. Anfang August wurde die Lieferung von bis zu 1 Mio. Tonnen Getreide vereinbart, wovon 200.000 Tonnen sofort zur Verfügung stehen sollen. Auch bei den Preisverhandlungen zeigte Moskau Entgegenkommen. Über den politischen Preis wurde allerdings nichts berichtet. Die Rechnung dürfte bald nachgereicht werden. Bereits im September soll zwischen Russland, Belaruß, Kasachstan und der Ukraine der Vertrag über die Errichtung eines Gemeinsamen Wirtschaftsraumes unterzeichnet werden und die Ukraine wird wohl – entgegen der erklärten Absicht, vor allem die Westintegration voranzutreiben – nicht umhin kommen, der von Moskau gewünschten engeren wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit zuzustimmen. Zum Ausgleich demonstriert die politische Führung des Landes gerade in diesen Tagen mit der Entsendung des ukrainischen Truppenkontingents in den Irak ihre Verbundenheit mit den USA. Schon im Frühjahr hatte die offene Unterstützung der US-amerikanischen Irak-Politik Präsident Kutschma geholfen, seine außenpolitische Isolation zu überwinden, das Wohlwollen der Bush-Regierung wiederzugewinnen und sein politisches Überleben zu sichern.

Die Getreidelieferungen verdeutlichen aber nicht nur die Abhängigkeit der Ukraine von der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland und dem GUS-Raum (auch Kasachstan liefert Getreide). Russland sichert sich auf diese Weise auch Einfluß auf die Innenpolitik der Ukraine. Immerhin hat das Ringen um die Nachfolge von Präsident Kutschma, dessen Amtszeit im Herbst 2004 ausläuft, schon begonnen.

Bisher haben sich als mögliche Erben Kutschmas neben Ministerpräsident Viktor Janukowitsch mehr oder weniger deutlich der national-liberale Oppositionsführer Viktor Juschtschenko der Chef der Präsidialverwaltung Viktor Medwedtschuk, Parlamentspräsident Wolodymir Litwin und Nationalbankpräsident Serghej Tigipko profiliert. Sie werden ab Herbst zusammen mit dem national-liberalen Expremier Viktor Juschtschenko, den wahrscheinlichen Kandidaten der Linken Petro Simonenko (Kommunisten), Olexandr Moroz (Sozialisten) und eventuell der links-zentristischen Politikerin Julia Timotschenko die Auseinandersetzungen um den Weg der Ukraine bestimmen. Dabei werden die Westorientierung und das Verhältnis zu Russland erneut wesentliche Aspekte sein.

Die russischen Getreidelieferungen stabilisieren die Positionen der Machtgruppierungen um Kutschma und Janukowitsch, die zwar für eine Fortsetzung der (West-)Europa-Orientierung versprechen, aber auch als Garanten der traditionellen Bindungen an Russland gelten. Wenn es der Regierung im Herbst und Winter gelingt, die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen und drastische Preiserhöhungen zu verhindern, stehen die Chancen für Janukowitsch nicht schlecht. Die Opposition hätte nur reale Erfolgsaussichten, wenn sie sich – zumindest im zweiten Wahlgang – auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen könnte. Das allerdings ist zweifelhaft, da die Unterschiede zwischen den Oppositionsparteien erheblich sind und Viktor Juschtschenko, der in Umfragen vorne liegt, bisher keine Initiativen unternimmt, auf das Wählerpotenzial der linken Parteien zuzugehen. Im Gegenteil: Eher lässt er Bereitschaft zu Kompromissen mit dem Regierungslager erkennen.

Seit Monaten wird beispielsweise über eine Verfassungsreform gestritten. Während Präsident Kutschma und die "Parteien der Macht" nur eine vorsichtige Eingrenzung der Machtbefugnisse des Präsidenten beabsichtigen, fordern Oppositionsparteien eine wesentliche Stärkung der Rolle des Parlaments, den Übergang zum reinen Verhältniswahlrecht und die Beschränkung der Machtbefugnisse des Präsidenten auf weitgehend repräsentative Funktionen. Mit Zustimmung des Juschtschenko-Blocks "Unsere Ukraine" wurde eine Parlamentsentscheidung vertagt. So gewann nicht nur das Kutschma-Lager Zeit, sondern auch Juschtschenko, der sich offenbar die Möglichkeit, selbst ein "starker Präsident" zu werden, offen halten will. Dieses Vorgehen ruft nicht nur Misstrauen bei den Linken hervor, sondern verunsichert auch das zentristisch-liberale Wähler. Zumindest bleibt nicht auszuschließen, dass sich die "Parteien der Macht" und der Juschtschenko-Block doch noch auf einen Kompromisskandidaten einigen, der eine Fortführung der bisherigen politischen Grundlinie nach Innen und Außen sicherstellen würde. Aber vor der Wahl im nächsten Jahr liegt noch ein langer, harter Winter mit vielen Unwägbarkeiten.


ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BITS.