von Manfred Schünemann
Seit den Massenprotesten im Herbst reißen die Rücktrittsforderungen wegen Amtsmissbrauchs und Verwicklung in politische und Korruptionsskandale nicht mehr ab. Gerade erst haben die Führer der ukrainischen Opposition Julia Tymoschenko, Oleksandr Moros und Petro Symonenko den Beginn einer neuen Etappe der Aktion »Erhebe dich, Ukraine!« mit dem Namen »Befreiung der Ukraine von Kutschma« verkündet. Sie soll am 9. März in einem landesweiten Streik gipfeln. Aber auch die Parteien der einflussreichen Wirtschaftsclans halten im Interesse ihrer Machtsicherung die Zeit für reif, eine personelle Neuorientierung vorzunehmen. Wenn es dazu eines weiteren Anstoßes bedurfte, so zeigte die offene Brüskierung des ukrainischen Präsidenten beim Prager NATO-Gipfel, dass der Westen und vor allem die internationalen Geldgeber wie es der Sozialist Oleksandr Moros nach seiner jüngsten USA-Reise formulierte »jegliches Vertrauen in den ukrainischen Präsidenten verloren und hinter seinen Namen ein Kreuz gesetzt« haben. Anlass für den Vertrauensentzug sind die angeblichen Verwicklungen Kutschmas in die »Koltschuga-Affäre«, in der es um den Verkauf ukrainischer Radarsysteme an Irak geht. Tatsächlich aber geht es um mehr. Kutschma hatte mit seiner Politik des Schaukelns zwischen West- und Ostbindung wiederholt für Irritationen gesorgt. Einerseits ließ er keine Gelegenheit aus, die »europäische« Orientierung der Ukraine zu betonen und formal Schritte zur Annäherung an NATO und EU einzuleiten. Andererseits erklärte er wiederholt, dass die Ukraine die Absicht habe, der von Russland dominierten Euroasiatischen Wirtschaftsgemeinschaft beizutreten. Noch größere Verunsicherung rief aber wohl die Gründung eines Russisch-Ukrainischen Konsortiums für den gemeinsamen Betrieb der Erdgastrassen nach Westeuropa hervor: Mit dieser strategischen Entscheidung wurde Russland nicht nur auf Dauer Teilhaber am lukrativen Energieträgergeschäft mit der EU, sondern Moskau sicherte sich zugleich auch weitgehenden Einfluss in Wirtschaft und Politik der Ukraine. Um die Westorientierung der ukrainischen Politik personell dauerhaft abzusichern Kutschma wird wegen seiner engen Beziehungen zur russischen Führung und zu Teilen der Rüstungsindustrie immer noch als Träger der ukrainisch-russischen Beziehungen gesehen drängen insbesondere die USA auf einen baldigen Amtsverzicht des Präsidenten und untermauern ihre Haltung immer offener mit Restriktionen. Spätestens, wenn im Frühjahr neben den laufenden Zinszahlungen auch Kreditrückzahlungen fällig werden, dürften die Belastungen für die Ukraine so groß werden, dass Kiew ohne neue Umschuldungsvereinbarungen die Zahlungsunfähigkeit erklären müsste. Mit einem Präsidenten Kutschma aber sind solche Vereinbarungen mit dem Internationalen Währungsfonds unwahrscheinlich. In ukrainischen Führungskreisen haben die Überlegungen über einen geeigneten Nachfolger Kutschmas längst begonnen. Der gerade zum Ministerpräsidenten berufene Wirtschaftspragmatiker Viktor Janukowitsch aus Donezk hat erklärt, dass er keine Ambitionen für das Präsidentenamt habe und nicht kandidieren werde. Chancenreicher Kandidat bleibt der Führer der rechtsbürgerlichen Opposition, der frühere Ministerpräsident Viktor Juschtschenko, der die Sympathien des Westens genießt. Sein Ansehen in der Bevölkerung ist allerdings gesunken, weil er sich bei den innenpolitischen Auseinandersetzungen im September nicht eindeutig an die Spitze der Anti-Kutschma-Bewegung gestellt hat, sondern immer wieder einen Ausgleich mit dem Präsidenten und den Parteien der Macht suchte. Mit der Unterstützung der auf Russland orientierten Wirtschaftsclans kann er ohnehin nicht rechnen, die russische Führung hält demonstrativ Distanz zu ihm. Neben Juschtschenko zählen der Chef der Präsidialverwaltung Viktor Medwed-tschuk und dessen Amtsvorgänger, der jetzige Parlamentspräsident Wolodymir Litwin, zu den möglichen Kandidaten. Beide sind in die derzeitigen Machtstrukturen eingebunden und könnten Kontinuität im innenpolitischen System sicherstellen, was Leonid Kutschma einen »geordneten« Rückzug erleichtern würde. Litwin verfügt zudem über gute Kontakte sowohl zu Russland als auch zum Westen und er gilt als persönlich integer. Noch ist der Ausgang der Auseinandersetzungen um die Nachfolge Kutschmas offen. Viel wird davon abhängen, wann und zu welchen Bedingungen der Amtsverzicht erfolgt. Jeder Nachfolger wird sich allerdings an der Grundprämisse realistischer ukrainischer Politik Öffnung nach Westen und Partnerschaft mit Russland orientieren müssen.
Manfred Schünemann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).
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