Neues Deutschland
04. Oktober 2014


Das Recht und die Stärke

Otfried Nassauer über die Abwertung des Völkerrechts nach dem Ende des Kalten Kriegs


Die Hoffnung, nach dem Ende des Kalten Krieges könne eine Weltordnung entstehen, in der die Stärke des Rechts das Recht des Stärkeren ablöst, erfüllt sich wohl nicht. Das naturrechtliche, sich selbst ermächtigende Recht des Stärkeren hat erheblich an Gewicht gewonnen. Gut möglich ist, dass Historiker den Kalten Krieg und die ersten Jahre danach bald als die hohe Zeit des internationalen Rechts beschreiben. Für das beginnende 21. Jahrhundert werden sie das sicher nicht mehr behaupten. Im Gegenteil: Die Gegenwart könnte ihnen als Phase der Deregulierung der internationalen Beziehungen gelten.

Wichtige Akteure beteiligen sich aktiv an diesem Prozess und schädigen das völkerrechtliche Acquis, das nach dem 2. Weltkrieg geschaffen wurde: die USA, die großen europäischen Staaten und seit einigen Jahren auch Russland. Sie alle haben in unterschiedlicher Weise bereits das völkerrechtliche Gebot der Nichteinmischung und das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen aus nationalen Interessen verletzt. Militärisch interveniert, obwohl dies ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen, der Charta der Vereinten Nationen oder deren Mandaten widersprach. Das weitgehende Gewaltverbot der Charta gerät immer stärker ins Wanken.

Russland hat mit seinen Interventionen in Georgien 2008 und während der Ukraine-Krise 2014 auf der Krim zweimal demonstriert, dass es im nationalen Interesse bereit ist, militärisch zu agieren, ohne dass ihm das Völkerecht dazu eine Basis geboten hätte. Dies geschah nach einer langen Phase, in der Moskau selbst den Westen immer wieder erfolglos gemahnt hatte, an den völkerrechtlichen Prinzipien aus der Zeit des Kalten Krieges festzuhalten.

In den USA begann dieser Prozess deutlich früher und aus einem anderen Selbstverständnis. Für Washington endete der Kalte Krieg mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991. In der Logik konservativer Republikaner war dies ein Sieg, der die USA vor die Aufgabe stellte, jetzt die globale Nachkriegsordnung neu zu gestalten und den Abstieg Russlands zur Regionalmacht zu managen.

Diesem Selbstverständnis war jeder verstärkte Multilateralismus suspekt. Jeder Versuch anderer Akteure, auf regionaler oder globaler Ebene Weltordnung mitzugestalten, wurde auch als Gefahr betrachtet: Der UNO und den großen Europäern wurden in Bosnien die Grenzen aufgezeigt, der EU wurde verdeutlicht, dass ihre militärischen Fähigkeiten primär für die NATO da sein sollten und mit dem Krieg um das Kosovo wurden die Europäer erstmals in eine direkte Absage an die UNO eingebunden: Der Krieg fand ohne UN-Mandat statt.

Die Terroranschläge 2001 boten der Regierung Bush die Chance, einen Schritt weiter zu gehen: Sie schlug das Angebot aus, die Reaktion auf diese Anschläge multilateral im Rahmen der kollektiven Verteidigung der NATO zu organisieren. Stattdessen wurde die NATO als militärischer Werkzeugkasten behandelt, aus dem sich Washington bei Bedarf bediente. Erst als sich die »hässliche Seite« dieser Kriege deutlich zeigte, wurde die NATO stärker eingebunden - in die Verantwortung gegenüber der Weltöffentlichkeit.

Auch Europäer griffen auf das Recht des Stärkeren zurück und weichten das Gewaltverbot auf. Frankreich und Großbritannien nutzen das neue Konzept der Schutzverantwortung, um über ihr UN-Mandat zum Schutz der Bevölkerung hinaus einen Regimewechsel in Libyen militärisch zu erzwingen. Um den blutigen Bürgerkrieg danach scherten sie sich kaum. Der Umgang mit dem Bürgerkrieg in Syrien zeigte zudem, dass das Konzept der Schutzverantwortung sehr willkürlich genutzt wird: Man beruft sich nur darauf, wenn es genug Starke gibt, die auch intervenieren wollen. Der Schutz der Menschen und die Unverletzlichkeit der Grenzen werden gegeneinander ausgespielt. Auch so kann man das Recht des Stärkeren stärken.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS