Das Recht und die Stärke
Otfried Nassauer über die Abwertung des
Völkerrechts nach dem Ende des Kalten Kriegs
Die Hoffnung, nach dem Ende des Kalten Krieges könne eine
Weltordnung entstehen, in der die Stärke des Rechts das Recht
des Stärkeren ablöst, erfüllt sich wohl
nicht. Das naturrechtliche, sich selbst ermächtigende Recht
des Stärkeren hat erheblich an Gewicht gewonnen. Gut
möglich ist, dass Historiker den Kalten Krieg und die ersten
Jahre danach bald als die hohe Zeit des internationalen Rechts
beschreiben. Für das beginnende 21. Jahrhundert werden sie das
sicher nicht mehr behaupten. Im Gegenteil: Die Gegenwart
könnte ihnen als Phase der Deregulierung der internationalen
Beziehungen gelten.
Wichtige Akteure beteiligen sich aktiv an diesem Prozess
und
schädigen das völkerrechtliche Acquis, das nach dem
2. Weltkrieg geschaffen wurde: die USA, die großen
europäischen Staaten und seit einigen Jahren auch Russland.
Sie alle haben in unterschiedlicher Weise bereits das
völkerrechtliche Gebot der Nichteinmischung und das Prinzip
der Unverletzlichkeit der Grenzen aus nationalen Interessen verletzt.
Militärisch interveniert, obwohl dies ihren
völkerrechtlichen Verpflichtungen, der Charta der Vereinten
Nationen oder deren Mandaten widersprach. Das weitgehende Gewaltverbot
der Charta gerät immer stärker ins Wanken.
Russland hat mit seinen Interventionen in Georgien 2008
und
während der Ukraine-Krise 2014 auf der Krim zweimal
demonstriert, dass es im nationalen Interesse bereit ist,
militärisch zu agieren, ohne dass ihm das Völkerecht
dazu eine Basis geboten hätte. Dies geschah nach einer langen
Phase, in der Moskau selbst den Westen immer wieder erfolglos gemahnt
hatte, an den völkerrechtlichen Prinzipien aus der Zeit des
Kalten Krieges festzuhalten.
In den USA begann dieser Prozess deutlich
früher und aus einem
anderen Selbstverständnis. Für Washington endete der
Kalte Krieg mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991. In der Logik
konservativer Republikaner war dies ein Sieg, der die USA vor die
Aufgabe stellte, jetzt die globale Nachkriegsordnung neu zu gestalten
und den Abstieg Russlands zur Regionalmacht zu managen.
Diesem Selbstverständnis war jeder
verstärkte
Multilateralismus suspekt. Jeder Versuch anderer Akteure, auf
regionaler oder globaler Ebene Weltordnung mitzugestalten, wurde auch
als Gefahr betrachtet: Der UNO und den großen
Europäern wurden in Bosnien die Grenzen aufgezeigt, der EU
wurde verdeutlicht, dass ihre militärischen
Fähigkeiten primär für die NATO da sein
sollten und mit dem Krieg um das Kosovo wurden die Europäer
erstmals in eine direkte Absage an die UNO eingebunden: Der Krieg fand
ohne UN-Mandat statt.
Die Terroranschläge 2001 boten der Regierung
Bush die Chance,
einen Schritt weiter zu gehen: Sie schlug das Angebot aus, die Reaktion
auf diese Anschläge multilateral im Rahmen der kollektiven
Verteidigung der NATO zu organisieren. Stattdessen wurde die NATO als
militärischer Werkzeugkasten behandelt, aus dem sich
Washington bei Bedarf bediente. Erst als sich die
»hässliche Seite« dieser Kriege deutlich
zeigte, wurde die NATO stärker eingebunden - in die
Verantwortung gegenüber der Weltöffentlichkeit.
Auch Europäer griffen auf das Recht des
Stärkeren
zurück und weichten das Gewaltverbot auf. Frankreich und
Großbritannien nutzen das neue Konzept der
Schutzverantwortung, um über ihr UN-Mandat zum Schutz der
Bevölkerung hinaus einen Regimewechsel in Libyen
militärisch zu erzwingen. Um den blutigen Bürgerkrieg
danach scherten sie sich kaum. Der Umgang mit dem Bürgerkrieg
in Syrien zeigte zudem, dass das Konzept der Schutzverantwortung sehr
willkürlich genutzt wird: Man beruft sich nur darauf, wenn es
genug Starke gibt, die auch intervenieren wollen. Der Schutz der
Menschen und die Unverletzlichkeit der Grenzen werden gegeneinander
ausgespielt. Auch so kann man das Recht des Stärkeren
stärken.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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