Déjà-vu für Kalte Krieger
von Otfried Nassauer
Die USA planen, Teile des Raketenabwehrsystems, das Washington vor atomaren
Langstreckenraketen schützen soll, in Europa aufzustellen. Tschechien will ein Radar
beherbergen, Polen zehn Abfangraketen. Es richte sich gegen die Bedrohung aus dem Iran.
Wie sein großes Vorbild, Ronald Reagan, ist George W. Bush überzeugt, dass solche
Waffen für die Sicherheit der USA unabdingbar und technisch machbar sind. SDI, Star Wars
reloaded. Ein weltweites Raketenabwehrsystem, das angreifende Raketen in jeder Phase des
Fluges bekämpfen kann, steht bei Bush für den amerikanischen Traum. Den Traum von der
Unverwundbarkeit Amerikas.
Im Traum ist es unerheblich, ob der Iran oder Nordkorea tatsächlich bald in der Lage
sind, Raketen zu bauen, die die USA erreichen können. Oder ob das Abwehrsystem wirklich
funktioniert. Es muss gebaut werden, damit weiter geträumt werden kann. Träume müssen
nicht logisch sein. Heikel wird es nur, wenn Politiker mit träumerischer Logik reale
militärische Potenziale begründen.
China und Russland haben zur Kenntnis genommen, dass ein Teil ihrer atomaren
Langstreckenwaffen im Wirkungsbereich der US-Raketenabwehr liegen könnte. Beide sehen,
dass dieses Vorhaben Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit ihres Abschreckungspotenzials
haben könnte. Bei China schon heute und für Russland langfristig, wenn das System weiter
ausgebaut werden würde. Russlands Präsident Putin kritisiert Bushs Traum von der
Unverwundbarkeit, weil dieser Teil des russischen Albtraums einer globalen unilateralen
Vorherrschaft Washingtons ist. Er befürchtet, dass schon der scheiternde Versuch die Welt
instabiler macht. Sein Verteidigungsminister, Sergej Iwanow, ließ erkennen, dass Moskau
sich zu wehren wisse.
Wie Russland sich wehren könnte, verriet kurz darauf der Chef der Strategischen
Raketenstreitkräfte Russlands: Moskau werde den bilateralen Vertrag mit Washington über
ein Verbot von Mittelstreckenraketen mit 500 bis 5500 km Reichweite (INF-Vertrag)
kündigen und dann die Raketenabwehrbasen in Osteuropa mit neuen Mittelstreckenraketen
bedrohen. Ein brillanter Einfall, um Washington zu erschrecken! Viele Hardliner in den USA
wollen grade diesen Vertrag bereits seit Jahren kündigen.
Wenn Russland und die USA konventionelle und atomare Mittelstreckenraketen
wiederentdecken, dann beginnen sie erneut die großen Diskussionen über verkürzte
Vorwarn- und Entscheidungszeiten, präemptive und präventive Schläge und An- und
Abkopplung. Willkommen in der Vergangenheit bei den Lieblingsthemen der Kalten
Krieger seit der Cuba-Krise! Bei diesem Déjà-vu darf einer nicht fehlen Tony
Blair: Der britische Knappe bittet darum, auch auf seiner Scholle ein paar der neuen
Wunderwaffen aufzustellen. Ganz offensichtlich fürchtet er um seine Sonderrolle bei Hofe.
Doch es geht noch um etwas anderes: Als die NATO 1997 erweitert wurde, versprach sie
Russland, keine Truppen und Atomwaffen in den neuen Mitgliedsländern zu stationieren.
Eine vertrauensbildende Maßnahme. Diese will die NATO-Führungsmacht zehn Jahre später
einseitig aufkündigen. Das ist ein Politikum mit drei Signalwirkungen für Moskau:
Vertrauensbildung hat Washington nicht mehr nötig. Die amerikanischen Basen kommen
näher. Und die bange Frage: Gehört der Zerfall Russlands zum amerikanischen Traum?
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
|