Friedensforum
5/1996

 Atomwaffen in Europa oder europäische Atomwaffen?
Eine Bestandsaufnahme

 von Oliver Meier

"Jeder Kernwaffenstaat, der Vertragspartei ist, verpflichtet sich, Kernwaffen und sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden unmittelbar oder mittelbar weiterzugeben und einen Nichtkernwaffenstaat weder zu unterstützen noch zu ermutigen noch zu veranlassen, Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper herzustellen oder sonstwie zu erwerben oder Verfügungsgewalt darüber zu erlangen.

(Artikel I, Nichtverbreitungs-Vertrag)


"Maastricht II", so lautet das Stichwort für den Versuch der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Rahmen einer 1996/97 stattfindenden Regierungskonferenz die Integration der europäischen Staaten voranzutreiben. Damit sollen über die bereits im Vertrag von Maastricht vereinbarte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union (GASP) auch die Grundlagen für eine gemeinsame Verteidigungspolitik geschaffen werden. Zwangsläufig wird sich in diesem Kontext die Frage nach der künftigen Rolle der französischen und britischen Atomwaffen stellen. Die nationale Verfügungsgewalt über diese Waffen ist mit einer wirklich vergemeinschafteten europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik letztlich nicht vereinbar - entweder werden die Waffen also abgeschafft oder ihre Kontrolle wird "europäisiert". Aus Frankreich kamen in den vergangen Jahren deshalb verschiedentlich Denkanstöße zur künftigen Rolle der britischen und französischen Atomwaffen. Im September 1995 erneuerte und präzisierte der französische Premierminister Alain Juppé das Angebot die französischen Atomwaffen in einen europäischen Kontext zu stellen. Juppé sprach von "konzertierter Abschreckung", also der Möglichkeit, die Force de frappe nicht mehr ausschließlich im Kontext der französischen Sicherheitspolitik einzusetzen. Ein Jahr nach der Rede Juppés ist es an der Zeit, eine erste Zwischenbilanz zu ziehen und zu fragen, in welche Richtung sich die Atomwaffenpolitiken der westlichen Kernwaffenstaaten entwickeln.

 

Atomwaffen in Europa: Abrüstung und Modernisierung

In Westeuropa bleiben auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Hunderte amerikanischer, französischer und britischer Atomwaffen stationiert. Zwar haben alle drei Staaten ihre nuklearen Arsenale verkleinert, sie konsolidieren und modernisieren aber ihre Bestände auf niedrigerem Niveau.

Die USA stationieren zur Zeit mindestens 200 und maximal noch 400 luftgestützte Atombomben des Typs B-61 in Europa. Auf See stationierte Marschflugkörper vom Typ Tomahawk könnten in Krisenzeiten der NATO zusätzlich zugeordnet und in Europa eingesetzt werden. Die Zahl amerikanischer taktischer Kernwaffen im NATO-Bestand sank seit 1988 um 91%.

Großbritannien verlor seine landgestützten Kernwaffen, als die USA beschlossen, alle Atomsprengköpfe für atomare Kurzstreckenwaffen außer Dienst zu stellen. Zur Zeit ist das Vereinigte Königreich dabei, seine Atombomben bis 1998 außer Dienst zu stellen. Gleichzeitig wird die atomare U-Boot-Flotte modernisiert. Vier hochmoderne Unterseeboote der Vanguard-Klasse sollen ab dem Jahr 2000 einsatzbereit sein; das erste ist bereits in Dienst gestellt worden. Sie werden mit amerikanischen Trident II-Raketen ausgestattet sein und nach Regierungsangaben maximal 192 Sprengköpfe tragen und künftig sowohl die strategische Aufgabe der Abschreckung als auch substrategische, taktische Aufgaben erfüllen. Damit wird die Sprengkraft des britischen Nukleararsenals insgesamt um 21% reduziert und die Anzahl der Sprengköpfe um 59% geringer sein als in den siebziger Jahren.

Frankreich gibt seine landgestützten Atomwaffen ebenfalls vollständig auf, modernisiert aber zugleich seine luftgestützten und auf U-Booten stationierten Kernwaffen. Vier neue strategische U-Boote der Triomphant-Klasse sollen die fünf alten Schiffe der Redoutable-Klasse bis zum Jahr 2005 ersetzen. Diese U-Boote werden mit verbesserten Raketen des Typs M45 ausgerüstet. Pläne zur Entwicklung einer vollständig neuen strategischen Rakete mit der Typenbezeichnung M51 wurden zwar gestreckt, aber nicht aufgegeben. Diese Rakete soll erst nach dem Jahr 2005 einsatzbereit werden. Zudem sollen 80 relativ neue, luftgestützte Abstandswaffen modernisiert und mit einer größerer Reichweite ausgestattet werden. Frankreich hat die Anzahl seiner Atomwaffen seit 1991 um 15% verringert und die Ausgaben für Atomwaffen von 1993 bis 1995 um 25% gekürzt.

 

Stationierte Atomwaffen der NATO-Staaten

  USA 1996

(Taktische Waffen)

USA 1995

(Strategische Waffen)

USA nach START II

(Strategische Waffen)

Frankreich 1995

(Gesamte Waffen)

Frankreich n. Umstruktur-
ierung (Gesamte Waffen)
UK 1995

(Gesamte Waffen)

UK nach Umstruktur-
ierung (Gesamte Waffen)
Landgestützte Raketen              
Raketen   575 500 48 0 0 0
Sprengköpfe   2.075 500 48 0 0 0
SLBMs              
U-Boote   16 14 5 4 4 4
Raketen   384 336 64 64 48 48
Sprengköpfe 350 a 3.072 1.680 384 384 160 192
Bomber              
Flugzeuge   166 70 83 83 96 0
Sprengköpfe 600 b 2.800 1.320 80 80 45-100 0
Gesamtzahl Sprengköpfe 950 7.947 3.500 512 464 205-260 192

a Dies sind seegestützte Marschflugkörper (SLCM), die in Friedenszeiten zu einem Großteil an Land gelagert werden.
b Dies sind B61 taktische Atombomben.
Quellen: The British American Security Information Council: "Nuclear Futures: The Role of Nuclear Weapons in Security Policy", London/ Washington: BASIC Report 96.1, April 1996, S. 10, The Bulletin of Atomic Scientists, July/ August 1996, S. 63.

 

Strategien und Rüstungskontrolle: Business as usual

Über Rolle und Funktion ihrer atomarer Waffen machen alle drei westlichen Atommächte nur äußerst dürftige Angaben. Zwar haben die detaillierten und ausgefeilten atomaren Zielplanungen aus der Zeit des Kalten Krieges keine Gültigkeit mehr, doch öffentliche Angaben auf welche Ziele diese Waffen künftig gerichtet werden sollen, werden nicht gemacht. Allgemeine Zweckbestimmungen wie jene, daß Nuklearwaffen weiterhin zur Abschreckung benötigt werden, sind alles, was das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Auch die neue, anläßlich der NATO-Ratstagung am 3.Juni 1996 in Berlin verabschiedete NATO-Strategie MC 400/1 wurde nicht veröffentlicht. Erste Umrisse ihres Inhaltes zeichnen sich aber bereits ab.

Angesichts fehlender konkreter Bedrohungsszenarien und militärischer Aufgabenstellungen sollen die der NATO zugeordneten Atomwaffen weiterhin neben ihrer Abschreckungsfunktion vor allem eine politische Aufgabe erfüllen und als "Bindeglied" zwischen den Kernwaffenstaaten und Nichtkernwaffenstaaten innerhalb der Allianz dienen. Gerade deshalb wird an der Stationierung dieser Waffen in sieben NATO-Staaten und an der nuklearen Teilhabe festgehalten. Zudem sollen Atomwaffen insbesondere jene Länder des Südens, die über Massenvernichtungswaffen verfügen, abschrecken. Vor allem von amerikanischen Politikern wird ihnen auch eine Rolle im Rahmen der Counterproliferation zugewiesen. Alle Kernwaffenstaaten der NATO lehnen es auch weiterhin ab, vollständig auf den Ersteinsatz von Atomwaffen zu verzichten.

Der atomare Abrüstungsprozeß, der Anfang der neunziger Jahre zu den beiden START-Verträgen über strategische Waffen und zum Rückzug der taktischen Atomwaffen aus Europa führte, ist dagegen inzwischen zum Stillstand gekommen. Alle drei NATO-Kernwaffenstaaten stehen weiteren Abrüstungsschritten skeptisch gegenüber. Dabei sind die Kernwaffenarsenale Frankreichs und Großbritanniens bislang überhaupt keinen vertraglichen Beschränkungen unterworfen. Da viele der bisher vorgenommen Reduzierungen einseitig und ohne nachträgliche vertragliche Fixierung erfolgten, können sie auch jederzeit wieder rückgängig gemacht werden.

Die Regierungen in London und Paris wollen, daß dies auch weiterhin so bleibt. Eine Teilnahme an Rüstungskontrollverhandlungen wird mit der Begründung abgelehnt, daß die USA und Rußland ungleich mehr Atomwaffen als sie selbst besitzen und zunächst einmal auf das französische, bzw. britische Niveau herunterrüsten sollten. Die Vereinigten Staaten lehnen eine weitere Reduzierung ihrer Atomwaffen hingegen mit dem Hinweis auf den unsicheren außenpolitischen Kurs in Rußland ab und wollen zuerst das START II-Abkommen verwirklicht sehen.

Eine atomwaffenfreie Welt wird von den Regierungen aller drei westlichen Kernwaffenstaaten als nicht wünschenswert gesehen. "Solange andere Länder Atomwaffen besitzen, wird Frankreich selbstverständlich auch welche haben," stellte der französische Premierminister Juppé lapidar in einer sicherheitspolitischen Grundsatzrede fest. Auch in Zukunft sollen Atomwaffen der Abschreckung eines Angriffs auf Europa dienen: "Die nukleare Abschreckung bildet die Basis europäischer Sicherheit. Eine europäische Sicherheitspolitik ohne nukleare Abschreckung wäre tatsächlich eine schwache Politik", so John Major und Francois Mitterand auf einem französisch-britischen Gipfeltreffen 1994.

 

Gemeinsam sind wir stark

In der Tat sollen Atomwaffen den Prozeß der europäischen Einigung voranbringen, ihn zumindest aber nicht behindern. Unter dem Druck der Öffentlichkeit rücken die europäischen Atomwaffenmächte enger zusammen. Seit dem November 1992 arbeiten beispielsweise Frankreich und Großbritannien im militärischen Nuklearbereich zusammen. In der "Französisch-Britischen Kommission für Nukleare Politik und Grundsatzfragen" werden die Atomwaffendoktrinen und die Rüstungskontrollpolitiken der beiden Staaten abgestimmt. Gemeinsam sollen so weitere Abrüstungsabkommen verhindert werden: "Die Briten müssen verstehen, daß wenn wir nicht kooperieren, keiner von uns dem Druck widerstehen können wird, weitere Abrüstungsmaßnahmen durchzuführen, und wir werden es uns nicht leisten können, die Abschreckung aufrechtzuerhalten," so ein französischer Diplomat über die Gründe für die Zusammenarbeit.

Nach britischen Presseberichten sollen auch deutsche Vertreter an den französisch-britischen Gesprächen teilnehmen. Ein Motiv der Kernwaffenstaaten für die Beteiligung Deutschlands an den Gespräche könnte der Versuch sein, die internationale Akzeptanz für die eigene Politik zu verbreitern. So sollte zum Beispiel deutsche Kritik an einer Wiederaufnahme von Atomwaffentests verhindert werden, indem die Bundesregierung schon frühzeitig über derartige Planungen informiert wurde: "Wenn die Deutschen erst einmal in den Gedankenprozeß der Abschreckung eingebunden sind, dann werden sie kaum scheinheilig bei den Atomtests reagieren," erklärte ein britischer Beamter des Außenministeriums.

 

Eine europäische Atommacht?

Die britisch-französisch-deutsche Kooperation könnte aber auch den Versuch darstellen, erste Grundlagen und Konzeptionen für eine europäische Atomwaffenpolitik zu diskutieren und zu entwickeln. Überlegungen über eine Vergemeinschaftung der französischen und englischen Atomwaffen im Rahmen einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union gewinnen nicht erst seit dem französischen Angebot, eine "konzertierte Abschreckung" aufzubauen, neue Aktualität und Dringlichkeit. Alain Juppé hatte am 7. September 1995 die Frage nach der Zukunft der französischen Atomwaffen gestellt: "Wir sollten uns alle mit dem Gedanken anfreunden, daß die europäischen Länder ihre Verteidigungspolitik überdenken müssen und daß in diesem Prozeß die Rolle der Atomwaffen, über die zwei europäische Länder verfügen, auch überprüft werden muß." Schon im Oktober 1994, ein Jahr zuvor hatte der französische Generalstabschef Jacques Lanxade die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß Frankreich, die eigenen Atomwaffen zur Verteidigung Westeuropas, beispielsweise im Rahmen der Westeuropäischen Union (WEU), einsetzt.

Mit diesen Überlegungen steht Frankreich keineswegs allein da. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen manche Politiker im Europäischen Parlament. In dem Entwurf eines Entschließungsantrages des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten, Sicherheit und Verteidigungspolitik des Europäischen Parlaments wurde eine Vergemeinschaftung der französischen und britischen Atomwaffen kürzlich befürwortet: Das Europäische Parlament - so der Entwurf - sei "der Ansicht, daß Frankreich und das Vereinigte Königreich, denen für die europäische Sicherheit aufgrund ihrer Stellung als Atommacht und ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine besondere Verantwortung zukommt, langfristig in Aussicht nehmen sollten, ihre Atomstreitmacht in den Dienst der Europäischen Union zu stellen, (...)." Die Vorlage scheiterte, ähnliche Überlegungen sind aber auch aus den Reihen der parlamentarischen Versammlung der WEU laut geworden. "Die Europäer in der Westeuropäischen Union können es sich nicht länger leisten, das Thema der nuklearen Abschreckung zu ignorieren, selbst wenn sie gegenwärtig nicht bereit sein sollten, eine Europäische Abschreckungsmacht aufzubauen. Die nukleare Abschreckung spielt eine Rolle in der Verteidigungspolitik Europas und sie wird dies auf absehbare Zeit tun, ob einem dies gefällt oder nicht," heißt es beispielsweise in einem Bericht des Verteidigungsausschusses der parlamentarischen Versammlung der WEU vom Mai 1996.

Noch sind die politischen und militärischen Probleme zu groß, die mit einer solchen Vergemeinschaftung von Atomwaffen einhergehen, als daß sie schon auf die politische Tagesordnung gesetzt werden könnte. Die Frage kann allerdings nur verschoben, nicht aber vermieden werden, wenn tatsächlich eine Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik das Ziel des europäischen Einigungsprozesses ist. Nukleare Privilegien für zwei Staaten innerhalb einer EU, die ansonsten eine umfassende politische Einheit bildet, sind kaum vorstellbar.

 

Die Europäische Option und die atomare Nichtverbreitung

Einer solchen Vergemeinschaftung stehen allerdings auch rechtliche Hürden entgegen: Im Rahmen des Nichtverbreitungs-Vertrages (NVV), der erst im letzten Frühjahr in New York auf unbegrenzte Zeit verlängert wurde, haben sich die nuklearen Mitgliedsstaaten verpflichtet, keine Atomwaffen, oder zu ihrer Herstellung notwendiges Wissen an Nichtkernwaffenstaaten weiterzugeben sowie die Kontrolle über diese Waffen nicht mit anderen Staaten zu teilen. Genau dies wäre aber der Fall, wenn beispielsweise Deutschland über britische oder französische Atomwaffen und deren Einsatz mitentscheiden würde. Andererseits hat die Bundesrepublik schon bei der Unterzeichnung des NVV 1969 die Problematik der "nuklearen Teilhabe" (die es bereits im Rahmen der NATO gibt) vorausgesehen und festgestellt, daß der NVV nicht zu einer Behinderung des Prozesses der europäischen Einigung führen dürfe. Umstritten ist nicht nur, ob eine "Nuklearmacht Europa" gegenüber dem NVV vertragskonform wäre, sondern besonders, ob der Weg zu einer solchen einheitlichen Atomwaffenpolitik der EU-Mitglieder überhaupt so gestaltet werden kann, daß der NVV nicht verletzt wird.

Die politische Wirkung eines solchen Versuchs, die französischen und britischen Atomwaffen in den Dienst einer europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu stellen, wären jedenfalls fatal. Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen in der Welt wird in allen westlichen Hauptstädten als eine der größten Gefahren für den internationalen Frieden gesehen. Gleichzeitig wird aber darüber nachgedacht, wie die eigenen Atomwaffen für die Zukunft neu legitimiert werden können. Statt neue Abrüstungsschritte in die Wege zu leiten und wie schon bei biologischen und chemischen Waffen, eine internationale Ächtung auch der Kernwaffen zu erreichen, soll den Atomwaffen eine neue Daseinsberechtigung geschaffen werden. Die Abschaffung der französischen, britischen und aller anderen Atomwaffen wäre der beste Weg, um den Weg zu einem friedlichen Gesamteuropa freizumachen.

 

Dipl.-Pol. Oliver Meier hat an der Freien Universität Berlin zur amerikanischen Atomwaffenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts promoviert und ist am Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) als Wissenschaftlicher Mitarbeiter sowie am Fachbereich Politische Wisssenschaften der FU Berlin als Lehrbeauftragter tätig. Der Autor dankt der W. Alton Jones Foundation und der Ford Foundation für ihre Unterstützung.