Neue (Militär-)Strategien
Obwohl die Duma-Wahlen (Anfang Dezember 2003) nur bedingt Einfluss auf den künftigen innen- und außenpolitischen Kurs Russlands haben, wurden von den Wahlstrategen Putins medienwirksame Schritte unternommen, um diese Stimmungen in der Bevölkerung "zu bedienen" und Wählerstimmen zu mobilisieren. Zugleich entsprachen sie den längerfristigen Zielsetzungen Putins. Die Verhaftung des Großindustriellen Chodorkowski wurde vom größten Teil der Bevölkerung mit Genugtuung und als richtiger Schritt zur Bekämpfung der allgegenwärtigen Korruption und der ungehemmten Bereicherung einer kleiner Gruppe von Nutznießern der Jelzinschen Privatisierungspolitik nach dem Ende des sowjetischen Staatskommunismus aufgenommen. Dass sich die Putin-Administration mit dieser Aktion zugleich den Zugriff auf die finanziellen Mittel der gewinnträchtigen russischen Erdölindustrie sicherte, die Aktivitäten potentieller politischer Konkurrenten damit einschränkte und die ohnehin schwach entwickelte Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit sichtbar in Frage stellte, stieß in Russland dagegen nur bei der liberalen Opposition und bei kritischen Intellektuellen auf Ablehnung. Ähnlich waren die Reaktionen auf die von Putin und der militärischen Führung in jüngster Zeit mit patriotischem Pathos bekräftigten Thesen zu den Aufgaben und Zielen der russischen Militärpolitik. Nicht nur Militärs begrüßten die Absicht, die Modernisierung der Russischen Streitkräfte zu forcieren und die Strategie und Taktik den neuen globalen Herausforderungen anzupassen. Auch der größte Teil der Bevölkerung hält eine Betonung der militärischen Stärke Russlands für opportun und angesichts der immer noch als Bedrohung empfundenen wachsenden Militärpräsens der USA und der NATO in der unmittelbaren Nachbarschaft für zwingend erforderlich. Im Ausland waren die Reaktionen ganz anders. Sowohl die Inhaftierung Chodorkowskis als auch die militärpolitischen Überlegungen weckten im Westen neue Zweifel am Reformwillen Putins und verstärkten das latente Misstrauen gegenüber den strategischen Zielen Russlands. Dabei bleibt zumindest fraglich, ob für die z.T. heftigen Reaktionen auf das Vorgehen gegen das russische Großkapital nicht eher eigene wirtschaftliche Interessen ausschlaggebend waren, als die Sorge um die russische Demokratie. Auch die in jüngster Zeit zweifellos deutlicher als in der Vergangenheit von Putin und der russischen Militärführung betonten militärpolitischen Zielstellungen lassen sich nicht vereinfachend als Ausdruck eines neuen Großmachtstrebens charakterisieren, sondern bedürfen einer genaueren Analyse. Vergleicht man z.B. die Aussagen zur Möglichkeit präventiver nuklearer Schläge in der seit April 2000 geltenden Militärdoktrin mit denen in einer von westlichen Medien fälschlich als neue Militärdoktrin interpretierten Broschüre zu den Aufgaben der Russischen Streitkräfte vom Oktober 2003, so ist keine Änderung der Einsatzkriterien feststellbar. Das machte auch nochmals Verteidigungsminister Sergej Iwanow beim informellen Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Colorado Springs deutlich, als er zu Medienberichten über eine angebliche neue Erstschlagsdoktrin erklärte: "Russland erwägt in keinen Szenarien und Varianten einen Ersteinsatz von strategischen Kernwaffen. ... Theoretisch schließen wir einen Einsatz von Kernwaffen jedoch nicht aus, wenn durch keinerlei andere Maßnahmen die Gefahren für die Sicherheit Russlands ... abgewendet werden können." Gleichwohl lassen sich gewisse Modifizierungen in der russischen Militärpolitik aus anderen Aussagen der schon erwähnten Broschüre sowie entsprechenden Erklärungen Präsident Putins und Verteidigungsministers Iwanow ableiten. Allein die Tatsache, dass Putin seit Sommer d.J. bereits auf drei Konferenzen des Verteidigungsministeriums aufgetreten ist, verdeutlicht den gewachsenen Stellenwert des Militärs in der russischen Politik. Nach den Jahren der materiellen und ideellen Vernachlässigung der Streitkräfte, sollen nunmehr offensichtlich ernsthafte Anstrengungen zur Modernisierung der Streitkräfte, ihrer Ausrüstungen und Führungsstrukturen unternommen werden. Hintergrund für diese Veränderung sind vor allem zwei Aspekte. Zum einen erhebt die Militärführung immer lauter Kritik, dass eine weitere Schwächung des russischen Militärpotentials zu einer ernsthaften Gefährdung der Sicherheit des Landes führen würde. "NATO-Flugzeuge", so betonte Verteidigungsminister Iwanow mit Blick auf die nach wie vor angriffsorientierte NATO-Militärdoktrin und dem Beitritt ehemaliger Sowjetrepubliken und Warschauer Paktstaaten zur NATO, "können innerhalb von drei bis fünf Minuten St. Petersburg erreichen, was die militärisch-politische Führung Russlands selbstverständlich nicht ruhig lassen". könne. Zum anderen trug zu den Veränderungen wohl auch die wachsende Sorge der politischen Führung bei, die inneren Konfliktpotentiale könnten sich noch enger mit dem internationalen Terrorismus verflechten. Daneben spielt sicherlich auch die Erkenntnis eine Rolle, dass sich russische Interessen in den angrenzenden Regionen und gegenüber dem Westen nur durchsetzen lassen, wenn die Russischen Streitkräfte ein Ernst zu nehmender Faktor bleiben bzw. wieder werden. Und nicht zuletzt lassen sich gegenwärtig die enormen Kosten für die militärischen Modernisierungsprogramme angesichts hoher Staatseinnahmen aus den Erdöl/Erdgasgeschäften leichter vor der Bevölkerung begründen. Die forcierten Bemühungen zur Modernisierung des russischen Militärpotentials zielen hauptsächlich auf die konsequente Fortführung der begonnenen Militärreform (Verringerung der Truppenstärke auf ca. 1 Million, Modernisierung der Streitkräfte- und Führungsstrukturen), auf die Vervollkommnung der Bewaffnung und Ausrüstung sowie auf die Anpassung der Militärpolitik an die neuen globalen Herausforderungen. Während es bezüglich der Militärreform um eine vollständige Umsetzung der bereits seit Jahren verfolgten Konzeptionen geht, lassen Äußerungen von Präsident Putin und russischer Militärs zur waffentechnischen Komponente der Streitkräftemodernisierung die Absicht erkennen, vor allem die strategischen Waffensysteme zu modernisieren und durch die Entwicklung neuer Komponenten effektiver zu machen. So ist z.B. vorgesehen, die TU 160 zu einem multifunktionalen Flugzeug so weiter zu entwickeln, dass es sowohl zur elektronischen Luftaufklärung als auch für den Einsatz von Marschflugkörpern und lenkbaren Fliegerbomben tauglich wird. Auch die Arbeiten zur Schaffung qualitativ neuer Raketensysteme, tief wirkender konventioneller Bomben und nuklearer Kleinstwaffen sollen zügig zum Abschluß gebracht werden, um den waffentechnischen Rückstand gegenüber den USA und der NATO nicht noch sichtbarer werden zu lassen. Wohl weniger, um militärisch zu drohen, sondern eher, um der Unruhe bei Militärs und in der Bevölkerung über die im Irak-Krieg besonders deutlich gewordene technische und technologische Überlegenheit der USA entgegen zu wirken, verwies Präsident Putin erst kürzlich auf das große Arsenal landgestützter strategischer SS-19-Raketen. Sie wurden zwar schon vor über 20 Jahren eingelagert, könnten jedoch - wie Putin erklärte - jederzeit in Dienst gestellt werden, so dass "genügend Zeit bleibe ..., an der Schaffung der neuen Waffensysteme des 21. Jahrhunderts" zu arbeiten. Wesentlich weniger Beachtung als der Hinweis auf das Raketenpotential fand in der russischen und internationalen Öffentlichkeit die Beschreibung der aktuellen Bedrohungen für Russland. Erstmalig wird bei der Aufzählung der wichtigsten Gefahrenkomplexe für Russlands Sicherheit eine besondere Kategorie von sog. grenzübergreifenden Gefahren definiert. In der Broschüre des russischen Verteidigungsministeriums werden dazu u.a. Aktivitäten gezählt, die ihrer Erscheinungsform nach zwar eine innere Ursache haben, deren Wurzeln, Mittel und Personen aber von außen kommen bzw. vom Ausland unterstützt und gelenkt werden. Die Auflistung einer solchen Bedrohungskategorie richtet sich aber ausdrücklich nicht nur gegen Aktivitäten internationaler Terroristenorganisationen, Verbrecher- und Drogenhändlersyndikate, sondern auch gegen "die Führung feindseliger informeller (informations-technischer, informations-psychologischer u.a.m.) Aktionen gegen Russland und seine Verbündeten". Damit öffnet sich ein weites Interpretationsfeld für angebliche und tatsächliche Bedrohungen. Nicht zuletzt werden durch eine solche Interpretation die ständige Beobachtung und ggf. repressive Bevormundung in- und ausländischer Medien, kritischer Journalisten und anderer öffentlich Tätiger zumindest ideologisch sanktioniert. Sowohl die Duma-Wahlen als auch die bevorstehende Präsidentenwahl finden in einer Phase wirtschaftlichen Aufschwungs (jährliche Wachstumsraten des BIP von ca. 7 Prozent) statt, der es ermöglicht, die dringendsten sozialen Probleme (regelmäßige Gehaltszahlungen, Stabilisierung der Sozialsysteme) in Angriff zu nehmen und die innenpolitische Situation in Russland weiter zu stabilisieren. Zusammen mit dem nicht zuletzt durch die Militärpolitik Putins wiedergewonnenen russischen Selbstbewusstsein in der internationalen Politik bildet diese innere Stabilität die Grundlage für den zu erwartenden Wahlsieg der "Parteien der Macht" und für die Wiederwahl Putins zum Präsidenten Russlands bis zum Jahr 2008.
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BITS.
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