FriedensForum
Nr. 5, Oktober 2008


Georgiens langer Schatten

von Otfried Nassauer

Georgischen Männern wird nachgesagt, sie seien manchmal heißblütig. Auf Michail Saakaschwili und Alexander Lomaja trifft das scheinbar zu. Der eine ist Präsident in Georgien, der andere Vorsitzende des nationalen Sicherheitsrates. Beide tragen die Verantwortung für den Krieg im August. Sie entschieden, die abtrünnige Republik Südossetien per Blitzkrieg zurückzuerobern.

Militärisch scheiterten sie kläglich. Russland griff ein und blamierte die georgische Armee, die unter Saakaschwili zuvor binnen vier Jahren massiv aufgerüstet worden war. Der Verteidigungshaushalt wuchs nach dessen Amtsantritt von zuvor 29 Mio. Dollar auf 898 Mio. Dollar in diesem Jahr. Militär- und Ausbildungshilfe kamen aus den USA, der Türkei und Israel. Dem UN-Waffenregister wurde der Import Hunderter neuer Großwaffensysteme gemeldet. Trotzdem lag die georgische Armee binnen kürzester Zeit am Boden. Russland hätte nach Tiflis marschieren können, beschränkte sich aber weitgehend darauf, Teile der militärischen Infrastruktur und Waffen Georgiens zu zerstören, die für einen erneuten Angriff auf die abtrünnigen Republiken hätten nützlich werden können.

Saakaschwili und Lomaja nutzten eine Chance, die sie eigentlich nicht hatten. Aus der siegreichen Wiederherstellung der territorialen Integrität und Ordnung Georgiens wurde binnen weniger Stunden der Kampf des georgischen Davids gegen den eroberungswütigen russischen Goliath. Aus der militärisch-taktischen Niederlage sollte ein politisch-strategischer Sieg gemacht werden. Seit die Waffen schweigen, erzielten sie mehrere Punktsiege. Der politische Konflikt weitet sich aus.


Wenn der Westen reagiert

Unisono zeigte die NATO Bestürzung über die russische „Überreaktion“, die Operationen russischer Truppen auf georgischem Territorium und später die „rechtswidrige“ Anerkennung der Republiken Südossetien und Abchasien durch Russland. Georgien dagegen wurde mit Solidaritätsbekundungen und Hilfsversprechen überschüttet. Der Hinweis, dass der NATO-Aspirant den Krieg begann, tauchte nur hinter vorgehaltener Hand auf. Parallelen zur Anerkennung des Kosovos durch NATO-Staaten wurden lautstark unter das Motto „nicht vergleichbar“ gestellt. Der Ruf nach „Sanktionen“ und einer „Bestrafung“ Russlands wurde laut. Georgien müsse ein beschleunigter NATO-Beitritt ermöglicht werden. Bereits im Dezember könne darüber im NATO-Rat entschieden werden, so ein Vorschlag. Die NATO setzte die Zusammenarbeit mit Russland im NATO-Russland-Rat aus. Russland zahlte mit gleicher Münze zurück und verkündete seinerseits das vorläufige Ende der Kooperation. In diesem Gremium werden alle strittigen Themen diskutiert: Die Zukunft der Verträge über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), die umstrittenen Pläne zur Stationierung US-amerikanischer Raketenabwehrsysteme in Europa und die westliche Anerkennung der Unabhängigkeitserklärung des Kosovos. Schnell war von einer Wiederkehr des Kalten Krieges die Rede. Russland zeige sein wahres, imperiales Gesicht.

Den Chor derer, die jedes Augenmaß verloren und auf eine weitere Verschärfung des Tons gegenüber Russland drängten, durchbrach schließlich Außenminister Steinmeier: Es sei wenig sinnvoll, die Strukturen des Dialogs mit Russland außer Kraft zu setzen, wenn man den Dialog wegen der Streitigkeiten am dringendsten benötige.

Auch in der EU zeigten sich ähnliche Argumentationsmuster. Ein Teil der Mitglieder wollte harte Worte und Taten, die Russland zu spüren bekomme. Das Vorhaben einer neuen Strategischen Partnerschaft mit Russland solle aufgegeben, der Dialog mit Moskau eingefroren, wenn nicht beendet werden. Ein Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs beschloss schließlich, Moskaus Militäreinsatz mit deutlichen Worten zu kritisieren und die Verhandlungen über eine neue strategische Partnerschaft zu vertagen. Zugleich wurden Forderungen nach Sanktionen gegen Russland deutlich zurückgewiesen.

Zwei Faktoren verhinderten eine schärfere Reaktion: Zum einen war es die EU-Ratspräsidentschaft, die mit Moskau einen Waffenstillstand für Georgien ausgehandelt hatte und eine EU-Beobachtermission in Georgien durchsetzen wollte. Zum anderen hatte mit Frankreich ein EU-Mitglied diese Präsidentschaft inne, das für eine zweite Gruppe von EU-Staaten steht. Diese verfolgen gegenüber Russland einen stärker dialogorientierten Ansatz und wollen die Perspektive strategischer Kooperation und Verflechtung mit Moskau nicht aufgeben. Kooperation wird als Instrument der Stabilität in Europa betrachtet. Unterstützung erhielt Frankreich vor allem von Deutschland, Spanien und Italien.


Alter Wein in neuen Schläuchen

Mit dem Georgienkonflikt brach ein alter, innerwestlicher Widerspruch neu auf: Soll Europa Sicherheit vor Russland organisieren oder soll es sie gemeinsam mit Russland gestalten? Beide Positionen sind in NATO und EU vertreten. Donald Rumsfeld, George W. Bushs erster Verteidigungsminister, hat diesen Widerspruch gepflegt und geschürt. Er scheint nun recht zu behalten. Seine These vom „alten“ und „neuen Europa“, von der „alten“ und der „neuen NATO“ entwickelt sich zu einer sich selbst erfüllende Prophezeiung. Die Linie verläuft zwischen den europäischen Mitgliedstaaten der NATO und der EU. Damit wirft sie Fragen nach Charakter und Zukunft beider Institutionen auf.

Auf der einen Seite stehen Polen, Tschechien, Ungarn, das Baltikum und oft Großbritannien. Sie suchen den Schulterschluss mit Washington und sehen Institutionen wie die NATO oder die EU instrumentell. Multinationale Institutionen können aus ihrer Sicht ebenso wie bilaterale sicherheitspolitische Verträge dazu beitragen, eigene Interessen besser gegen Dritte durchzusetzen. Sicherheitspolitik wird als nationale Domäne verstanden, in der es interessensgeleitet auch multilaterale Kooperation geben kann. Wenn in der NATO konsultiert wird, bevor nationale Entscheidungen über ein militärisches Agieren im Rahmen von Koalitionen der Willigen fallen, ist das aus dieser Sicht hinreichend. Jedenfalls für all die Krisenfälle, bei denen es nicht um die Bündnisverteidigung geht. Das „do ut des“ ermöglicht es zudem gelegentlich, die Führungsmacht und die Bündnispartner um Unterstützung zu bitten, wenn man sich im Konflikt mit einem starken Dritten befindet. Mit den USA und der NATO im Rücken – so die Kalkulation – kann man sich die ein oder andere Konfrontation auch mit Russland erlauben. Nationale Sicherheit vor Russland zu gestalten, ist das Ziel.

Auf der anderen Seite stehen Länder wie Deutschland, Spanien, Belgien, Italien und Frankreich. Sie sehen in der NATO und der EU Institutionen, die gemeinsam diskutieren, gemeinsam entscheiden und gemeinsam handeln sollen. Ihnen geht es um einen effizienten Multilateralismus. Dieser kann den eigenen Interessen dienen, kann es aber auch erforderlich machen, dass die Nationalstaaten bewusst und freiwillig auf Teile ihrer Souveränität verzichten oder nationale Interessen hintanstellen, um gemeinsames Handeln aller zu ermöglichen. Für jede weitere Vertiefung der europäischen Integration z.B. ist das eine unabdingbare Voraussetzung. Diese Ländergruppe will eine Anbindung Russlands an kooperative europäische Sicherheitsstrukturen. Sie ist an der Schaffung strategischer Verflechtungen interessiert. Sie will Russland zu Kooperation und Dialog verpflichten, weil das im wohlverstandenen Eigeninteresse beider Seiten liegt. Dazu gehört die Bereitschaft, russische Interessen ernst zu nehmen und europäische Sicherheit mit Russland zu gestalten.

In der primär militärisch ausgerichteten NATO kommt das kooperative Interesse deutlich weniger zum Tragen als in der EU, die ein viel breiteres Feld politischer Themen abdeckt. In der NATO kann deshalb – und weil die Führungsmacht USA es oft befördert – viel leichter der Eindruck entstehen, es gehe in Europa auch ohne Russland. Da die Bereiche, in denen am meisten Interesse an einer strategischen Kooperation mit Russland besteht, mangels Zuständigkeit nicht auf der Tagesordnung der NATO stehen, kann leichter unter dem Vorzeichen der „Sicherheit vor Russland“ diskutiert werden.

Die EU dagegen kann nur funktionieren, wenn ihre Mitglieder sie weder dauerhaft für nationale Zwecke instrumentalisieren noch blockieren. Sie fußt auf dem Prinzip der zunehmenden Verrechtlichung der Beziehungen ihrer Mitgliedstaaten und auf der Bereitschaft zu gegenseitigem Souveränitätsverzicht. Sie muss mehr als eine gemeinsame Sicherheits- und Militärpolitik entwickeln. Sie braucht gemeinsame Politiken für viele Politikfelder. Dazu gehört auch die Politik gegenüber den Nachbarn der EU – darunter Russland. Ein Ansatz auf Basis einer Politik der Stärke, die lediglich Sicherheit vor Russland schaffen will, kommt nicht infrage. Entwickelt werden muss eine Politik der Kooperation im Bereich gegenseitiger strategischer Interessen und deshalb muss die EU europäische Sicherheit gemeinsam mit Russland kooperativ ausgestalten. Wenn einzelne EU-Mitglieder die Europäische Union instrumentalisieren und Rückendeckung sowie Solidarität einfordern, weil sie den Konflikt mit Russland suchen, dann müssen die anderen EU-Mitglieder sie notfalls stoppen, weil mit einem solchen Vorgehen die EU selbst funktionsunfähig und jede Vertiefung der Europäischen Integration unmöglich gemacht wird. Selbst die Erweiterung der EU könnte damit infragegestellt werden. Nur die kooperative Ausgestaltung europäischer Sicherheit mit Russland auf Basis einer Verrechtlichung der gegenseitigen Beziehungen ist mit der inneren Verfasstheit der EU und den Interessen ihrer Mitglieder langfristig kompatibel.


Georgien, die NATO, die EU und Russland

Lüde die NATO Georgien im Dezember auf der Überholspur zur NATO-Mitgliedschaft ein, so wäre das ein fatales Signal. Wenn schneller in die NATO kommt, wer Russland in ein militärisches Scharmützel verwickelt, verändern sich Charakter und Selbstverständnis der Allianz. Diese kann auch künftig nur Staaten aufnehmen, die ihre Territorialprobleme zuvor friedlich gelöst haben. Sonst drängt in die NATO, wer solche Probleme hat. Die NATO selbst würde damit zu einem Instabilitätsfaktor in Europa. Denn willige Nachahmer des georgischen Beispiels würde es wohl geben. Im Konflikt Moldawiens mit der Dnejpr-Republik, im armenisch-asserischen Streit um Nagorni Karabach oder auch im Blick auf die Ukraine und deren künftige Diskussionen mit Moskau über die Zukunft der Schwarzmeerflotte sind hinreichend große Konfliktpotentiale beheimatet, um ähnliche Vorgehensweisen auszulösen.

Eine NATO, die zur Destabilisierung europäischer Sicherheit beiträgt, wäre schnell in ihrer inneren Kohärenz massiv geschwächt. Für die EU wäre ein solcher Weg sogar ungangbar, weil existenzgefährdend.

Auch Russland kann an einer solch destabilisierenden Entwicklung kein Interesse haben. Moskau muss schon jetzt in den sauren Apfel beißen, eine stärkere Anbindung der Unruheregionen Südossetiens und Abchasiens an die Russische Föderation zuzulassen, obwohl das nicht in seinem Interesse liegt. Moskau ist gezwungen, sich auch südlich des Kaukasus dauerhaft zu engagieren. Russland kann darüber hinaus kein Interesse daran haben, dass jene Konflikte wieder aufbrechen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden und seither eingefroren sind. In Russlands wohlverstandenem Eigeninteresse liegt ein dauerhaft stabiles, kooperatives Verhältnis zu einem Europa. Die EU-Staaten sind für Russland ein wesentlicher Technologielieferant und wichtige Rohstoffkunden. Das zeigt auch der Vorschlag, den der russische Präsident Medwedew jüngst seinem französischen Amtskollegen Sarkozy machte: Medwedew regte baldige Verhandlungen über eine neue europäische Sicherheitsarchitektur an. Ziel solle ein Vertrag sein, der sicherheitspolitische Kooperation, Konfliktregelungsmechanismen und Rüstungskontrollfragen für Europa zukunftsfähig regelt. Ort der Gespräche könne die OSZE sein.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS