Georgiens langer Schatten
von Otfried Nassauer
Georgischen Männern wird nachgesagt, sie seien manchmal
heißblütig. Auf Michail Saakaschwili und Alexander Lomaja trifft
das scheinbar zu. Der eine ist Präsident in Georgien, der andere
Vorsitzende des nationalen Sicherheitsrates. Beide tragen die Verantwortung
für den Krieg im August. Sie entschieden, die abtrünnige Republik
Südossetien per Blitzkrieg zurückzuerobern.
Militärisch scheiterten sie kläglich. Russland griff ein und
blamierte die georgische Armee, die unter Saakaschwili zuvor binnen vier
Jahren massiv aufgerüstet worden war. Der Verteidigungshaushalt wuchs
nach dessen Amtsantritt von zuvor 29 Mio. Dollar auf 898 Mio. Dollar in
diesem Jahr. Militär- und Ausbildungshilfe kamen aus den USA, der
Türkei und Israel. Dem UN-Waffenregister wurde der Import Hunderter
neuer Großwaffensysteme gemeldet. Trotzdem lag die georgische Armee
binnen kürzester Zeit am Boden. Russland hätte nach Tiflis marschieren
können, beschränkte sich aber weitgehend darauf, Teile der militärischen
Infrastruktur und Waffen Georgiens zu zerstören, die für einen
erneuten Angriff auf die abtrünnigen Republiken hätten nützlich
werden können.
Saakaschwili und Lomaja nutzten eine Chance, die sie eigentlich nicht
hatten. Aus der siegreichen Wiederherstellung der territorialen Integrität
und Ordnung Georgiens wurde binnen weniger Stunden der Kampf des georgischen
Davids gegen den eroberungswütigen russischen Goliath. Aus der militärisch-taktischen
Niederlage sollte ein politisch-strategischer Sieg gemacht werden. Seit
die Waffen schweigen, erzielten sie mehrere Punktsiege. Der politische
Konflikt weitet sich aus.
Wenn der Westen reagiert
Unisono zeigte die NATO Bestürzung über die russische „Überreaktion“,
die Operationen russischer Truppen auf georgischem Territorium und später
die „rechtswidrige“ Anerkennung der Republiken Südossetien und Abchasien
durch Russland. Georgien dagegen wurde mit Solidaritätsbekundungen
und Hilfsversprechen überschüttet. Der Hinweis, dass der NATO-Aspirant
den Krieg begann, tauchte nur hinter vorgehaltener Hand auf. Parallelen
zur Anerkennung des Kosovos durch NATO-Staaten wurden lautstark unter
das Motto „nicht vergleichbar“ gestellt. Der Ruf nach „Sanktionen“ und
einer „Bestrafung“ Russlands wurde laut. Georgien müsse ein beschleunigter
NATO-Beitritt ermöglicht werden. Bereits im Dezember könne darüber
im NATO-Rat entschieden werden, so ein Vorschlag. Die NATO setzte die
Zusammenarbeit mit Russland im NATO-Russland-Rat aus. Russland zahlte
mit gleicher Münze zurück und verkündete seinerseits das
vorläufige Ende der Kooperation. In diesem Gremium werden alle strittigen
Themen diskutiert: Die Zukunft der Verträge über konventionelle
Streitkräfte in Europa (KSE), die umstrittenen Pläne zur Stationierung
US-amerikanischer Raketenabwehrsysteme in Europa und die westliche Anerkennung
der Unabhängigkeitserklärung des Kosovos. Schnell war von einer
Wiederkehr des Kalten Krieges die Rede. Russland zeige sein wahres, imperiales
Gesicht.
Den Chor derer, die jedes Augenmaß verloren und auf eine weitere
Verschärfung des Tons gegenüber Russland drängten, durchbrach
schließlich Außenminister Steinmeier: Es sei wenig sinnvoll,
die Strukturen des Dialogs mit Russland außer Kraft zu setzen, wenn
man den Dialog wegen der Streitigkeiten am dringendsten benötige.
Auch in der EU zeigten sich ähnliche Argumentationsmuster. Ein
Teil der Mitglieder wollte harte Worte und Taten, die Russland zu spüren
bekomme. Das Vorhaben einer neuen Strategischen Partnerschaft mit Russland
solle aufgegeben, der Dialog mit Moskau eingefroren, wenn nicht beendet
werden. Ein Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs beschloss schließlich,
Moskaus Militäreinsatz mit deutlichen Worten zu kritisieren und die
Verhandlungen über eine neue strategische Partnerschaft zu vertagen.
Zugleich wurden Forderungen nach Sanktionen gegen Russland deutlich zurückgewiesen.
Zwei Faktoren verhinderten eine schärfere Reaktion: Zum einen war
es die EU-Ratspräsidentschaft, die mit Moskau einen Waffenstillstand
für Georgien ausgehandelt hatte und eine EU-Beobachtermission in
Georgien durchsetzen wollte. Zum anderen hatte mit Frankreich ein EU-Mitglied
diese Präsidentschaft inne, das für eine zweite Gruppe von EU-Staaten
steht. Diese verfolgen gegenüber Russland einen stärker dialogorientierten
Ansatz und wollen die Perspektive strategischer Kooperation und Verflechtung
mit Moskau nicht aufgeben. Kooperation wird als Instrument der Stabilität
in Europa betrachtet. Unterstützung erhielt Frankreich vor allem
von Deutschland, Spanien und Italien.
Alter Wein in neuen Schläuchen
Mit dem Georgienkonflikt brach ein alter, innerwestlicher Widerspruch
neu auf: Soll Europa Sicherheit vor Russland organisieren oder soll es
sie gemeinsam mit Russland gestalten? Beide Positionen sind in NATO und
EU vertreten. Donald Rumsfeld, George W. Bushs erster Verteidigungsminister,
hat diesen Widerspruch gepflegt und geschürt. Er scheint nun recht
zu behalten. Seine These vom „alten“ und „neuen Europa“, von der „alten“
und der „neuen NATO“ entwickelt sich zu einer sich selbst erfüllende
Prophezeiung. Die Linie verläuft zwischen den europäischen Mitgliedstaaten
der NATO und der EU. Damit wirft sie Fragen nach Charakter und Zukunft
beider Institutionen auf.
Auf der einen Seite stehen Polen, Tschechien, Ungarn, das Baltikum und
oft Großbritannien. Sie suchen den Schulterschluss mit Washington
und sehen Institutionen wie die NATO oder die EU instrumentell. Multinationale
Institutionen können aus ihrer Sicht ebenso wie bilaterale sicherheitspolitische
Verträge dazu beitragen, eigene Interessen besser gegen Dritte durchzusetzen.
Sicherheitspolitik wird als nationale Domäne verstanden, in der es
interessensgeleitet auch multilaterale Kooperation geben kann. Wenn in
der NATO konsultiert wird, bevor nationale Entscheidungen über ein
militärisches Agieren im Rahmen von Koalitionen der Willigen fallen,
ist das aus dieser Sicht hinreichend. Jedenfalls für all die Krisenfälle,
bei denen es nicht um die Bündnisverteidigung geht. Das „do ut des“
ermöglicht es zudem gelegentlich, die Führungsmacht und die
Bündnispartner um Unterstützung zu bitten, wenn man sich im
Konflikt mit einem starken Dritten befindet. Mit den USA und der NATO
im Rücken – so die Kalkulation – kann man sich die ein oder andere
Konfrontation auch mit Russland erlauben. Nationale Sicherheit vor Russland
zu gestalten, ist das Ziel.
Auf der anderen Seite stehen Länder wie Deutschland, Spanien, Belgien,
Italien und Frankreich. Sie sehen in der NATO und der EU Institutionen,
die gemeinsam diskutieren, gemeinsam entscheiden und gemeinsam handeln
sollen. Ihnen geht es um einen effizienten Multilateralismus. Dieser kann
den eigenen Interessen dienen, kann es aber auch erforderlich machen,
dass die Nationalstaaten bewusst und freiwillig auf Teile ihrer Souveränität
verzichten oder nationale Interessen hintanstellen, um gemeinsames Handeln
aller zu ermöglichen. Für jede weitere Vertiefung der europäischen
Integration z.B. ist das eine unabdingbare Voraussetzung. Diese Ländergruppe
will eine Anbindung Russlands an kooperative europäische Sicherheitsstrukturen.
Sie ist an der Schaffung strategischer Verflechtungen interessiert. Sie
will Russland zu Kooperation und Dialog verpflichten, weil das im wohlverstandenen
Eigeninteresse beider Seiten liegt. Dazu gehört die Bereitschaft,
russische Interessen ernst zu nehmen und europäische Sicherheit mit
Russland zu gestalten.
In der primär militärisch ausgerichteten NATO kommt das kooperative
Interesse deutlich weniger zum Tragen als in der EU, die ein viel breiteres
Feld politischer Themen abdeckt. In der NATO kann deshalb – und weil die
Führungsmacht USA es oft befördert – viel leichter der Eindruck
entstehen, es gehe in Europa auch ohne Russland. Da die Bereiche, in denen
am meisten Interesse an einer strategischen Kooperation mit Russland besteht,
mangels Zuständigkeit nicht auf der Tagesordnung der NATO stehen,
kann leichter unter dem Vorzeichen der „Sicherheit vor Russland“ diskutiert
werden.
Die EU dagegen kann nur funktionieren, wenn ihre Mitglieder sie weder
dauerhaft für nationale Zwecke instrumentalisieren noch blockieren.
Sie fußt auf dem Prinzip der zunehmenden Verrechtlichung der Beziehungen
ihrer Mitgliedstaaten und auf der Bereitschaft zu gegenseitigem Souveränitätsverzicht.
Sie muss mehr als eine gemeinsame Sicherheits- und Militärpolitik
entwickeln. Sie braucht gemeinsame Politiken für viele Politikfelder.
Dazu gehört auch die Politik gegenüber den Nachbarn der EU –
darunter Russland. Ein Ansatz auf Basis einer Politik der Stärke,
die lediglich Sicherheit vor Russland schaffen will, kommt nicht infrage.
Entwickelt werden muss eine Politik der Kooperation im Bereich gegenseitiger
strategischer Interessen und deshalb muss die EU europäische Sicherheit
gemeinsam mit Russland kooperativ ausgestalten. Wenn einzelne EU-Mitglieder
die Europäische Union instrumentalisieren und Rückendeckung
sowie Solidarität einfordern, weil sie den Konflikt mit Russland
suchen, dann müssen die anderen EU-Mitglieder sie notfalls stoppen,
weil mit einem solchen Vorgehen die EU selbst funktionsunfähig und
jede Vertiefung der Europäischen Integration unmöglich gemacht
wird. Selbst die Erweiterung der EU könnte damit infragegestellt
werden. Nur die kooperative Ausgestaltung europäischer Sicherheit
mit Russland auf Basis einer Verrechtlichung der gegenseitigen Beziehungen
ist mit der inneren Verfasstheit der EU und den Interessen ihrer Mitglieder
langfristig kompatibel.
Georgien, die NATO, die EU und Russland
Lüde die NATO Georgien im Dezember auf der Überholspur zur
NATO-Mitgliedschaft ein, so wäre das ein fatales Signal. Wenn schneller
in die NATO kommt, wer Russland in ein militärisches Scharmützel
verwickelt, verändern sich Charakter und Selbstverständnis der
Allianz. Diese kann auch künftig nur Staaten aufnehmen, die ihre
Territorialprobleme zuvor friedlich gelöst haben. Sonst drängt
in die NATO, wer solche Probleme hat. Die NATO selbst würde damit
zu einem Instabilitätsfaktor in Europa. Denn willige Nachahmer des
georgischen Beispiels würde es wohl geben. Im Konflikt Moldawiens
mit der Dnejpr-Republik, im armenisch-asserischen Streit um Nagorni Karabach
oder auch im Blick auf die Ukraine und deren künftige Diskussionen
mit Moskau über die Zukunft der Schwarzmeerflotte sind hinreichend
große Konfliktpotentiale beheimatet, um ähnliche Vorgehensweisen
auszulösen.
Eine NATO, die zur Destabilisierung europäischer Sicherheit beiträgt,
wäre schnell in ihrer inneren Kohärenz massiv geschwächt.
Für die EU wäre ein solcher Weg sogar ungangbar, weil existenzgefährdend.
Auch Russland kann an einer solch destabilisierenden Entwicklung kein
Interesse haben. Moskau muss schon jetzt in den sauren Apfel beißen,
eine stärkere Anbindung der Unruheregionen Südossetiens und
Abchasiens an die Russische Föderation zuzulassen, obwohl das nicht
in seinem Interesse liegt. Moskau ist gezwungen, sich auch südlich
des Kaukasus dauerhaft zu engagieren. Russland kann darüber hinaus
kein Interesse daran haben, dass jene Konflikte wieder aufbrechen, die
nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden und seither eingefroren sind.
In Russlands wohlverstandenem Eigeninteresse liegt ein dauerhaft stabiles,
kooperatives Verhältnis zu einem Europa. Die EU-Staaten sind für
Russland ein wesentlicher Technologielieferant und wichtige Rohstoffkunden.
Das zeigt auch der Vorschlag, den der russische Präsident Medwedew
jüngst seinem französischen Amtskollegen Sarkozy machte: Medwedew
regte baldige Verhandlungen über eine neue europäische Sicherheitsarchitektur
an. Ziel solle ein Vertrag sein, der sicherheitspolitische Kooperation,
Konfliktregelungsmechanismen und Rüstungskontrollfragen für
Europa zukunftsfähig regelt. Ort der Gespräche könne die
OSZE sein.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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