New Kids on the Block?
Die atomare Abrüstung nach Indien und Pakistan
Oliver Meier
Die elf nuklearen Tests im Mai 1998, mehr aber noch die Erklärungen
der indischen und pakistanischen Regierungen, beide Staaten seien jetzt Atommächte
stellen die größte Herausforderung für die nukleare Rüstungskontrolle seit dem
Abschluß des nuklearen Nichtverbreitungs-Vertrages (NPT) 1968 dar. Zwar ist schon
lange bekannt, daß nicht nur die beiden südasiatischen Staaten atomwaffenfähig sind,
sondern daß auch Israel über Atomwaffen verfügt. Die Existenz dieser drei de
facto-Atommächte neben den fünf offiziellen, im NPT erwähnten Kernwaffenstaaten China,
Frankreich, Großbritannien, USA und Rußland (als Nachfolger der Sowjetunion) konnte
bisher aber geduldet werden, weil Indien, Pakistan und Israel weder den NPT
unterschrieben, noch die Anerkennung ihres Atommachtstatus gefordert hatten.
Dieses Stillhalteabkommen ist von der indischen Regierung aufgekündigt
worden. Unter Berufung auf die Nichteinhaltung der Abrüstungsverpflichtung der im NPT
genannten Atommächte hat Indien sich zum Atomwaffenstaat erklärt und verlangt nun auch
von anderen Staaten, als solcher behandelt zu werden. (Pakistan fordert eine solche
Anerkennung nicht, allerdings haben mehrere pakistanische Regierungsmitglieder offen
erklärt, daß Pakistan ein kernwaffenfähiger Staat ist.) Eine formelle Anerkennung
verweigern bisher aber alle Staaten. Sie befürchten, daß ein solcher Schritt das
Ansehen Indiens steigern würde und andere Staaten zur Nachahmung ermutigen könnte. Zudem
wird befürchtet, daß eine Anerkennung Bemühungen zur Eindämmung der Verbreitung von
Atomwaffen erheblich komplizieren würde. Schließlich würde die Aufnahme Indiens und
Pakistans in den Club der Atomwaffenstaaten Ansätze zur Schaffung einer atomwaffenfreien
Zone in Südasien zerstören.
Eine implizite oder explizite Gleichstellung Indiens und Pakistans mit
den alten Atommächten soll also vermieden werden. Zugleich besteht international
ein breiter Konsens, daß eine Isolation der neuen de facto-Kernwaffenstaaten
kontraproduktiv wäre. Die internationale Ächtung Indiens und Pakistans würde
kurzfristig eine Vermittlung im Konflikt über Kaschmir unmöglich machen und so die
Gefahr einer (nuklearen) Eskalation der Krise erhöhen. Außerdem würde die ohnehin
vorhandene Lagermentalität in beiden Gesellschaften verstärkt und die Kooperation mit
solchen Gruppen in Indien und Pakistan erschwert, die eine antinukleare Politik
befürworten. Gemeinsames Ziel der internationalen Bemühungen ist es schließlich,
Indien und Pakistan zur Abrüstung zu bewegen. Dies ist aber nur im Rahmen
internationaler Verträge wie etwa des Teststopp-Abkommens (CTBT) möglich. Von einem
Staat gleichzeitig die rüstungskontrollpolitische Kooperation einzufordern und während
man in gleichzeitig isoliert und sanktioniert ist aber schwierig.
Die Kernfrage im Umgang mit den beiden neuen Atommächten ist also, wie
Indien und Pakistan in die internationale Rüstungskontrolle einbezogen werden können,
ohne daß ihr neuer Status hingenommen wird, oder sie für die Atomtests gar belohnt
werden. Trotz der einmütigen Verurteilung der indischen und pakistanischen Tests
unterscheiden sich die Antworten von Regierungen und Nichtregierungsorganisationen auf
diese Frage erheblich. Ein eher realistisch orientierter Ansatz befürwortet die
implizite (oder gar offene) Anerkennung der Tatsache, daß es acht und nicht nur fünf
Atomwaffenstaaten in der Welt gibt. Eine bunte Mischung aus Vertretern der
amerikanischen "Realpolitik" wie Henry Kissinger aber auch
Abrüstungsbefürworter argumentieren, daß eine Leugnung der realen Entwicklung
kontraproduktiv ist. Erstere meinen, daß internationale Politik sich an Realitäten
(und vor allem militärischen Machtverhältnissen) orientieren müsse, letztere sehen den
Bedarf nach einer breit angelegten Abrüstungspolitik, die alle Atommächte miteinbeziehen
muß. Im Rahmen einer solchen Politik müßten letztendlich alle acht Atomwaffenstaaten
über die Abschaffung von Atomwaffen verhandeln.
In einer solchen Gleichsetzung von alten und neuen Atommächten sehen
andere Staaten und Nichtregierungsorganisationen allerdings bereits eine indirekte
Anerkennung des neuen Status von Indien und Pakistan. Die beiden Staaten hätten dann
genau das erreicht, was zumindest Indien will, nämlich gleichberechtigt in den nuklearen
Club aufgenommen werden. Es sei eine Frage der Prinzipien und der Konsequenzen, den
beiden selbsternannten Atommächten jegliche Belohnungen vorzuenthalten und sie für ihren
Verstoß gegen den internationalen Trend zur Abrüstung auch zu sanktionieren.
Indische und pakistanische nukleare Aufrüstung zu belohnen und gleichzeitig Abrüstung zu
fordern, sei eine so widersprüchliche Politik, daß die Grundfesten des NPT erschüttert
würden, denn dieser Vertrag basiere genau auf der Vereinbarung, daß die
Atomwaffenstaaten sich zur Abschaffung von Atomwaffen verpflichten, während die
Nichtatommächte dafür auf den Kernwaffenbesitz verzichten. Darüber hinaus sei es
erst 1996 mit viel Mühen gelungen, den CTBT zur Unterschrift auszulegen. Wenn den
beiden einzigen Regierungen, die das seit den französischen und chinesischen Atomtests
existierende Moratorium durchbrochen haben, jetzt auch noch das Zuckerbrot der Anerkennung
vor die Nase gehalten werde, so komme das einer Verhöhnung derjenigen Staaten gleich, die
seit Jahrzehnten dem Atomwaffenbesitz abgeschworen haben.
Egal welche Richtung im Umgang mit Indien und Pakistan sich durchsetzen
wird, klar ist schon jetzt, daß die Existenz zweier neuer, selbsterklärter
Nuklearwaffenstaaten in Südasien die alten Fronten in der nuklearen Rüstungskontrolle
kräftig durcheinandergewirbelt hat. Bevor Indien und Pakistan elf atomare
Sprengsätze zündeten, war die Diskussion um die nächsten Schritte in der nuklearen
Abrüstung so festgefahren, daß ein Ausweg kaum ersichtlich war. Bezeichnenderweise
war drei Tage vor den ersten indischen Tests ein Vorbereitungstreffen des nuklearen
Nichtverbreitungs-Vertrages (NPT) im Streit darüber wie mit der dritten, nicht
anerkannten Atommacht Israel umgegangen werden soll, ergebnislos auseinandergegangen.
Mittlerweile mehren sich die Anzeichen, daß sich der internationale Druck auf die
Atomwaffenstaaten, mit der nuklearen Abrüstung ernstzumachen, erhöht. So forderten die
Außenminister von Ägypten, Brasilien, Irland, Mexiko, Neuseeland, Slowenien, Schweden
und Südafrika in einer am 9. Juni vorgelegten gemeinsamen Erklärung, daß eine
Voraussetzung zur Beschleunigung der Abrüstung in "einer klaren Verpflichtung zu der
zügigen, vollständigen und endgültigen Abschaffung ihrer Nuklearwaffen und ihrer
nuklearen Fähigkeit" der fünf Atomwaffenstaaten und der drei atomwaffenfähigen
Staaten besteht. Damit ist ein erster Vorschlag über die Einbeziehung Indiens, Pakistans
und Israels in die Rüstungskontrolle auf dem Tisch.
Für die Friedensbewegung ist es wichtig, in der Frage des Umgangs mit
Indien und Pakistan klare Positionen zu beziehen, wenn sie entscheidet, ob sie derartige
Initiativen unterstützt. Dabei haben es Nichtregierungsorganisationen insofern einfacher,
als das Endziel für sie klar ist: Indien und Pakistan müssen ihre Atomwaffen abschaffen,
wie alle anderen Kernwaffenstaaten auch. Aber in der Frage, wie dieses Ziel erreicht
werden soll, müssen unangenehme Entscheidungen getroffen werden: Darf man der indischen
Argumentation folgen, die Weigerung der Kernwaffenstaaten abzurüsten habe die eigene
Entscheidung, Atomwaffen zu testen, mitverursacht? Oder ist die indische Position genauso
unglaubwürdig wie die der anderen Atomwaffenstaaten, weil tatsächlich innen- und
außenpolitische Machtinteressen den Ausschlag gegeben haben? Sind Sanktionen
gerechtfertigt und welche Funktion können sie haben? Ist der NPT ein wirksames Mittel,
eine weitere Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern? Oder ist dieser Vertrag wirklich
"diskriminierend" wie die indische Regierung argumentiert, weil er der Mehrzahl
von Staaten den Besitz von Atomwaffen verbietet?
Nur wenn es gelingt, das Problem des politischen Umgangs mit den beiden
neuen Atommächten zu lösen, könnten sich die Atomtests möglicherweise als heilsame
Schocks für die atomare Abrüstung herausstellen. Andernfalls drohen sich die politischen
Fronten zwischen Abrüstungsbefürwortern und -gegnern weiter zu verhärten. Die Existenz
zweier neuer Atomwaffenstaaten könnte dann sogar zur Rechtfertigung des eigenes Besitzes
von Nuklearwaffen benutzt werden.
Oliver Meier ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Berliner
Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS)
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