Barack Obama und die Zukunft der Atomwaffen:
Drei Schritte vor und mindestens zwei zurück
von Otfried Nassauer
Für Barack Obama stand die erste Hälfte des Aprils ganz im
Zeichen des Atoms. Ein Jahr nach seiner Prager Rede, in der sich der
US-Präsident die Vision einer Welt ohne atomare Waffen zu Eigen
gemacht hatte, wollte Obama demonstrieren, dass er seinen Worten auch
Taten folgen lässt. Unmittelbar nach Ostern legte er den lange erwarteten
„Nuclear Posture Review 2010“ vor, eine Blaupause seiner Nuklearpolitik
für die kommenden Jahre. Nur zwei Tage später unterzeichnete
Obama ein „Neues START-Abkommen“ und einigte sich mit Russland auf neue
Obergrenzen für strategisch-nukleare Waffen. Kurz darauf folgte
auf Einladung Obamas ein „Nuklearer Sicherheitsgipfel“, an dem 47 Staats-
und Regierungschefs teilnahmen und sich zu verbesserten Sicherheitsmaßnahmen
für nukleare Materialien verpflichteten. Ein Feuerwerk der Ereignisse,
das eine genauere Betrachtung verdient.
Deklaratorische Nuklearpolitik – Die atomare Rhetorik
Die gute Nachricht zuerst: Der Nuclear Posture Review (NPR) nimmt das
Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt explizit auf und stellt zudem fest,
dass es „im Interesse der USA und aller anderen Nationen“ liege, wenn
der „fast 65 Jahre andauernde Rekord, Nuklearwaffen nicht einzusetzen,
auf ewige Zeiten ausgedehnt werden“ könne. Solche Töne waren
in der Geschichte der US-Nuklearpolitik selten zu hören und in
der Zeit George W. Bushs ganz sicher gar nicht. Die „fundamentale Aufgabe
und Rolle“ nuklearer Waffen ist es jetzt, „einen nuklearen Angriff
auf die USA, ihre Alliierten und Partner abzuschrecken“. Ziel sei es,
die Rolle nuklearer Waffen weiter zu reduzieren, so dass die Abschreckung
eines Nuklearangriffs künftig die „einzige Aufgabe“ nuklearer
Waffen werde. Vorerst aber müsse an der Option eines Nuklearwaffeneinsatzes
noch festgehalten werden, um „unter extremen Umständen die vitalen
Interessen der USA, ihrer Verbündeten und Partner zu verteidigen.“ Auch die sogenannte Negative Sicherheitsgarantie für die nichtnuklearen
Mitglieder des Atomwaffensperrvertrags wird im NPR neu gefasst und klarer
formuliert: Die “Vereinigten Staaten werden Staaten, die nicht-nukleare
Mitglieder des Nichtverbreitungsvertrages sind und ihre nuklearen Nichtverbreitungsverpflichtungen
erfüllen, nicht mit dem Einsatz nuklearer Waffen drohen oder Nuklearwaffen
gegen Staaten einsetzen.“ Die Garantie gilt explizit auch dann, wenn
einer dieser Staaten biologische oder chemische Waffen einsetzen sollte.
Rechnen müssen mit der nuklearen Drohung Washingtons künftig
also nur noch Nuklearmächte und Staaten, die ihre Verpflichtungen
aus dem NVV nicht einhalten. Im Klartext: Nordkorea und der Iran. Dass
Washington sich gegen diese Staaten auch die Möglichkeit offen hält,
auf einen Chemiewaffensatz mit einem Nuklearwaffeneinsatz zu antworten,
ist einer der wenigen indirekten Hinweise darauf, dass die USA auch künftig
nicht auf die Möglichkeit verzichten, Nuklearwaffen als erste einzusetzen. Der NPR beschreibt die Gefahr, dass Terroristen an das Material für
eine Nuklearwaffe gelangen oder gar eine Nuklearwaffe einsetzen könnten,
als die größte Bedrohung der Gegenwart. Als zweite große
Bedrohung wird die weitere Verbreitung atomarer Waffen an zusätzliche
Staaten betrachtet. Erst an dritter Stelle steht die Wahrung der „strategischen
Stabilität“ im Blick auf die anderen Nuklearmächte, vor allem
Russland und China. Die Wiederbelebung und Stärkung des Nichtverbreitungsregimes
wird deshalb zur ersten Priorität in der Nuklearpolitik Obamas erklärt.
Auch das geschieht zum ersten Mal in einem Dokument zur strategischen
Nuklearpolitik der USA. Deutlich sichtbar wird das Bemühen, sich
von der Politik der Regierung Bush klar abzusetzen und den Boden für
eine konstruktive Atmosphäre bei der Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages
im Mai zu bereiten. Diese deutlichen Änderungen finden allerdings auf der Ebene der
deklaratorischen Politik statt und haben auch den ein oder anderen gefährlichen
Haken. Wer entscheidet zum Beispiel, ob ein Staat seine Nichtverbreitungsverpflichtungen
einhält? Der US-Präsident oder die Vereinten Nationen? Auf
Basis von nachprüfbaren Beweisen oder aufgrund geheimdienstlicher
Hinweise? Zudem müssen Obamas politische Vorgaben erst noch ihren
Niederschlag in Strategiedokumenten, Ziel- und Operationsplänen
des US-Militärs finden. Das kann etliche Jahre dauern und bis dahin
gelten die Vorschriften aus der Zeit George W. Bushs. Die Hoffnung, ein
künftiger republikanischer Präsident könne Obamas deklaratorische
Politik widerrufen, kann zudem erheblich Verzögerungen nach sich
ziehen. Eine Umsetzungsgarantie für die neue Grundausrichtung gibt
es also nicht.
Faktische Nuklearpolitik – Der neue START-Vertrag
Dass solche Befürchtungen nicht unberechtigt sind, verdeutlichen
die Aussagen des NPR zur Zukunft der Nuklearstreitkräfte und die
Ergebnisse der START-Verhandlungen. Für beide war offensichtlich
der Blick auf die Nuklearpotentiale der anderen Nuklearwaffenstaaten
maßgeblich, nicht aber die geänderte Prioritätensetzung
der deklaratorischen Nuklearpolitik Obamas. Der neue START-Vertrag begrenzt die Zahl strategisch-nuklearer Trägersysteme
beider Vertragsparteien auf je 800 Systeme, von denen 700 aktiv sein
dürfen, und die Zahl der anrechenbar stationierten Sprengköpfe
auf je 1.550. Washington und Moskau heben hervor, dass damit die Zahl
der Trägersysteme im Vergleich zum ausgelaufenen START-Vertrag um
mehr als die Hälfte reduziert wird und die Zahl der Sprengköpfe
um 74%. Im Vergleich zum Moskauer SORT-Vertrag von 2002 ergebe sich ein
Minus von 30%. Was wie eine substantielle neue Abrüstungsverpflichtung
aussieht, erfordert faktisch jedoch nur sehr kleine Abrüstungsschritte.
Das liegt zum einen daran, dass beide Seiten schon heute weit unter den
alten START-Grenzen liegen und zum anderen daran, dass veränderte
Zählregeln bei den Langstreckenbombern zu künstlich kleingerechneten
Sprengkopfzahlen führen. Langstreckenbomber mit Marschflugkörpern
zählen künftig nur noch als eine stationierte Nuklearwaffe,
bislang zählten sie als zehn. Faktisch können sie sogar bis
zu 20 Atomwaffen tragen. Im Ergebnis dürfen beide Parteien einige
Hundert Waffen mehr stationieren als die offiziell vereinbarten 1 550.
Wie schon START und SORT, so macht auch der neue Vertrag den Parteien
keine Vorschriften, wie viele nicht-stationierte Sprengköpfe sie
in Reserve halten dürfen, die reaktiviert werden könnten oder
noch nicht delaboriert wurden. Heute besitzen Moskau und Washington zusammen
etwa 4.800 stationierte Nuklearwaffen, insgesamt aber noch rund 22.000
nukleare Sprengköpfe. Auch bei den Trägersystemen ergibt sich
ein enttäuschendes Bild: Die USA müssen nur einige Dutzend
ausmustern, Russland dürfte sogar noch kräftig aufrüsten,
wenn es sich das leisten könnte. Es hat nur noch 566 stationierte
Trägersysteme.
Faktische Nuklearpolitik – Die Modernisierung des Waffenpotentials
Die Aussagen des NPR zur Zukunft der US-Nuklearstreitkräfte spiegeln
Obamas Vision einer atomwaffenfreien Welt kaum. Der NPR befürwortet
eine umfassende Modernisierung der nuklearen Sprengköpfe. Das laufende
Programm zur Überarbeitung der U-Bootsprengköpfe vom Typ W-76
soll zu Ende geführt werden. Die Modernisierungsmöglichkeiten
für die Raketensprengköpfe vom Typ W-78 sollen untersucht werden
und eine umfassende Modernisierung der Atombomben der B-61-Familie soll
eingeleitet werden: Dabei soll ein neues Modell, die B-61-12, entstehen,
das alle Bomben der Typen B-61-3, -4, -7 und –10 ersetzt. Die USA werden auch an der Triade ihrer nuklearen Trägersysteme,
also an Interkontinentalraketen, seegestützten Langstreckenraketen
und Langstreckenbombern, festhalten. Hier soll sich nur wenig verändern.
Alle 450 Interkontinentalraketen sollen künftig nur noch einen Sprengkopf
tragen. Ob in Zukunft deren Zahl verringert wird, ob weitere Langstreckenbomber
ausschließlich konventionelle Aufgaben erfüllen sollen und
ob zwei weitere Raketen-U-Boote außer Dienst gestellt werden, das
wird erst im Zusammenhang mit der Aufstellung des Verteidigungshaushalts
2012 entschieden. Zuvor soll geklärt werden, mit welchen konventionellen
Langstreckenträgern die US-Streitkräfte künftig das Konzept
der Prompt Global Strikes umsetzen wollen.
Die wesentlichen Modernisierungsvorhaben für die Trägersysteme
werden deshalb weitergeführt. Die 450 Interkontinentalraketen vom
Typ Minuteman 3 sollen weitere Jahrzehnte einsatzbereit bleiben. „Praktisch
jedes Inch“ der Rakete werde deshalb modernisiert und ein Teil der Raketen
erhalte zudem modernere Wiedereintrittsflugkörper aus MX-Raketen,
erläuterte Generalleutnant Frank G. Klotz dem Senat. Die Trident-Raketen
der U-Boote sollen modernisiert bis 2042 im Dienst bleiben. Alle Bombertypen
werden technisch aktualisiert, und Vorarbeiten für völlig neue
Trägersysteme werden vorangetrieben. Dazu gehören ein neuer
weitreichender Marschflugkörper und erste Konzepte für einen
neuen Bomber. Die Konzeption eines neuen Raketen-U-Boots ist bereits
angelaufen. Der Bau soll 2019 beginnen und eine „ununterbrochene strategische
Abschreckung in die 2080er Jahre“ sicherstellen, so Stephen Johnson,
der zuständige Admiral. Diese Entscheidungen stehen in deutlichem Kontrast zu den Äußerungen
im politisch-deklaratorischen Teil des NPR. Sie signalisieren, dass die
Vereinigten Staaten auch bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts über
modernste Nuklearstreitkräfte verfügen wollen und vermitteln
den Eindruck, als sei die Vision einer atomwaffenfreien Welt eine Vision
für das 22. Jahrhundert. Innenpolitische Notwendigkeiten dürften wesentlich dazu beigetragen
haben, dass sich im Nuklearwaffenpotential der USA nur wenig ändert.
Zum einen machte der Kongress Obama bereits im Haushaltsgesetz 2010 enge
Vorgaben für die START-Verhandlungen, zum anderen braucht der Präsident
für die Ratifizierung des neuen START-Vertrages mindestens acht
Stimmen der Republikaner im Senat. Dass er sie bekommt, ist nicht gesichert
– trotz der gravierenden Zugeständnisse, die Obama mit START und
dem NPR gemacht hat. Auf dem Weg zu einer nuklearwaffenfreien Welt sind
ihm eher drei Schritte vor und mindestens zwei zurück gelungen –
ein Ergebnis, dass letztlich deutlich an seiner Glaubwürdigkeit
zehren wird.
Auswirkungen auf Europa
Der deutsche Außenminister, Guido Westerwelle, ist und bleibt Minister
ohne Fortune. Er erleidet derzeit den nächsten politischen Rückschlag.
Seinem Vorhaben, in Gesprächen über das künftige Strategische
Konzept der NATO einen Abzug der letzten verbliebenen Nuklearwaffen aus
Europa durchzusetzen, droht ein jähes Ende. Ganz so wie 1998 der
Idee seines Vorgängers Joschka Fischer, der versuchte, die NATO
auf einen Ersteinsatzverzicht für Nuklearwaffen einzuschwören.
Ironischerweise steht beiden Außenministern dieselbe US-Politikerin
im Wege: Madeleine Albright, unter US-Präsident Bill Clinton Außenministerin,
ist heute Vorsitzende der Expertengruppe für das neue strategische
Konzept der NAT0. Sie wird in Kürze Anders Fogh Rassmussen, dem
Generalsekretär der Allianz, einen Bericht mit Empfehlungen für
die künftige NATO-Strategie überreichen. Die Empfehlung, auf
die letzten in Europa stationierten Nuklearwaffen zu verzichten, wird
in ihrem Bericht nicht enthalten sein.
Albright wird dem Vernehmen nach vorschlagen, diese Waffen vorläufig
in Europa zu belassen. Sie sollen zum Gegenstand von Gesprächen
mit Russland über weitere nukleare Abrüstungsschritte gemacht
werden. Hillary Clinton, die Außenministerin der USA, argumentiert
auf der gleichen Linie: „Bei allen künftigen Reduzierungen sollte
es unser Ziel sein, (...) die nicht-strategischen Nuklearwaffen in die
nächste Runde amerikanisch-russischer Abrüstungsdiskussionen
einzubeziehen, zusammen mit den nicht-stationierten strategischen Nuklearwaffen“,
erklärte Clinton den NATO-Außenministern in Tallin am 22.
April. Diese Sichtweise findet sich auch im neuen NPR. Guido Westerwelle
relativierte daraufhin seine Abzugsforderung: „Niemand hat je die Devise
ausgegeben, dass dies in wenigen Jahren erreichbar wäre. Keiner
ist naiv.“ Der NPR sieht dagegen auch eine Modernisierung der sub-strategischen
Nuklearwaffen vor. Begründet wird auch dieses Vorhaben mit Barack
Obamas Prager Rede: „So lange es diese Waffen gibt, werden die Vereinigten
Staaten ein sicheres und wirksames Arsenal zur Abschreckung potenzieller
Feinde aufrechterhalten und die Verteidigung ihrer Verbündeten garantieren.“
Oder in Außenministerin Clintons Worten beim NATO-Treffen in Tallin:
„Solange Nuklearwaffen existieren, wird die NATO eine nukleare Allianz
bleiben.“ Vorgesehen ist eine Modernisierung der beiden wesentlichen Komponenten:
Für die nuklearfähigen F-16 und F-15E-Jagdbomber der US-Luftwaffe
soll ein Nachfolger entwickelt werden, eine doppelt verwendbare Version
des Joint Strike Fighters (JSF). Die in fünf europäischen Ländern,
darunter in Deutschland gelagerten US-Atombomben der Versionen B-61-3
und B-61-4 sollen gründlich modernisiert werden. Gemeinsam mit der
strategischen Version B-61-7 und einer weiteren taktischen Version, der
B61-10, sollen sie durch ein neues Modell, die B-61-12 abgelöst
werden, über das der Kongress bereits im letzten Jahr heftig stritt.
Fast 2 Milliarden US-Dollar sind derzeit für die Haushaltsjahre
2011-2015 für eine Machbarkeitsstudie und den Einstieg in die Entwicklung
der neuen Version eingestellt. Weitere Milliarden müssen in den
Jahren danach fließen, denn erst ab 2018 kann die neue Bombe als
Bewaffnung für Jagdbomber und Langstreckenbomber hergestellt werden.
Mit ihr würde der bisher bestehende Unterschied zwischen taktischen
und strategischen Versionen der B-61-hinfällig.
Die als Lebensdauerverlängerung bezeichnete Maßnahme ist jedoch
weit mehr als der Name verrät. Vorgesehen ist eine Modernisierung
der meisten nicht-nuklearen Komponenten. Nach gesonderter Autorisierung
durch den US-Präsidenten ist auch eine Überarbeitung der nuklearen
Komponenten, des sogenannten „physics package“ möglich, vorausgesetzt,
dass dadurch entweder die Sicherheit oder die Funktionssicherheit gesteigert
bzw. die Notwendigkeit nuklearen Testens verringert werden kann. Unterschiede
zu den Plänen für eine neue Generation verlässlicher Ersatzsprengköpfe
(RRWs), die Verteidigungsminister Robert Gates und der Chef der zuständigen
NNSA, Thomas d’Agostino unter George W. Bush verfolgten, sind kaum auszumachen.
Barack Obamas Vorgabe, keine neuen Nuklearwaffen, keine Nuklearwaffen
mit neuen Fähigkeiten und keine Atomwaffen für neue Aufgaben
zu entwickeln steht mit diesem Vorhaben auf dem Prüfstand. Mit diesen Entscheidungen werde sichergestellt, dass „die USA die Fähigkeit
beibehalten, Nuklearwaffen in Erfüllung ihrer Bündnisverpflichtungen
vorgeschoben zu stationieren“, hält der NPR fest. Diese „nimmt die
Ergebnisse künftiger Entscheidungen in der NATO über die Notwendigkeit
der nuklearen Abschreckung und der nuklearen Teilhabe nicht vorweg“,
sondern halte „alle Optionen offen“. Washington stelle seinen Alliierten
einen „glaubwürdigen US-Nuklearschirm“ bereit, der aus den „strategischen
Kräften der Triade, vorgeschoben-stationierten Nuklearwaffen in
Schlüsselregionen und Nuklearwaffen in den USA besteht, die schnell
vorgeschoben stationiert werden können“. Auch wenn die Gefahr eines
nuklearen Angriffs sich auf „einem historischen Tiefstand“ befínde´,
trage „die Präsenz von US-Nuklearwaffen in Verbindung mit den einzigartigen
Arrangements der nuklearen Teilhabe (...) zum Zusammenhalt der Allianz
bei“ und stelle „eine Rückversicherung für Verbündete
und Partner dar, die sich regionalen Bedrohungen ausgesetzt fühlen.“ Änderungen
sollen nur nach Diskussion in und „auf Entscheidung der Allianz“ erfolgen.
Das erfordert Einstimmigkeit und gibt jedem NATO-Mitglied die Möglichkeit,
einen Abzug der Nuklearwaffen aus Europa durch sein Veto zu verhindern.
Die Modernisierung von Trägerflugzeugen und nuklearen Bomben soll
unabhängig davon erfolgen, wie die NATO sich entscheidet. Verbesserte regionale Sicherheitsarchitekturen, zu denen eine effiziente
Raketenverteidigung, Fähigkeiten, den Einsatz von Massenvernichtungswaffen
zu bekämpfen, konventionelle Fähigkeiten zur Machtprojektion
und eine integrierte Kommandostruktur gehören, seien „entscheidend,
wenn man sich auf eine Welt ohne Nuklearwaffen zu bewegt“. Diese Verknüpfung hatte sich bereits im Ballistic Missile Defense
Review (BMDR) angedeutet, einem weiteren aktuellen Planungspapier aus
dem Pentagon. Dort stellte die Regierung Obama ausführlich dar,
wie sie sich den stufenweisen Ausbau einer Raketenabwehr in Europa im
kommenden Jahrzehnt vorstellt. Im BMDR wird für eine europäische
Raketenabwehr geworben: „Gegen nuklear bewaffnete Staaten wird die regionale
Abschreckung notwendigerweise auch [künftig] eine nukleare Komponente
erfordern. Aber die Rolle der US-Atomwaffen in diesen regionalen Abschreckungsstrukturen
kann durch eine Stärkung der Rolle der Raketenabwehr und anderer
Fähigkeiten reduziert werden.“ Zur Erinnerung: Seit George W. Bushs Nuclear Posture Review 2002 sind
die Raketenabwehr und die Fähigkeit zu raschen konventionellen strategischen
Angriffen auf Ziele rund um den Globus (Prompt Global Strikes) - Bestandteil
der Gesamtabschreckung. Obamas NPR und der BMDR befürworten beides
explizit. Letzteren wird unter Obama die Aufgabe zugewiesen, einige Aufgaben
zu übernehmen, für die sich die Regierung Bush die nukleare
Option offen hielt: die Reaktion auf Angriffe mit B- und C-Waffen oder
von Versuchen nichtstaatlicher Akteure, zu Terrorzwecken an nukleares
Material oder nukleare Waffen zu gelangen. Unter Obama wird das Konzept einer Gesamtabschreckung auf regionale Abschreckungssysteme,
also auf Europa und die NATO, den Nahem und Mittleren Osten und den Fernen
Osten übertragen. Das bringt Konsequenzen mit sich, positive wie
negative. Positiv ist die Reduzierung der Rolle und der Zahl atomarer
Waffen, die angestrebt wird. Da auch Japan zustimmte, wurde die im NPR
angekündigte Außerdienststellung der letzten seegestützten
nuklearen Marschflugkörper möglich. Problematisch sind dagegen etliche andere Aspekte: Wird eine weitere
Reduzierung der Zahl und Rolle nuklearer Waffen in der NATO vom vorherigen
Aufbau einer Raketenabwehr der USA und der NATO in Europa abhängig
gemacht, so könnten die europäischen NATO-Staaten tief in den
russisch-amerikanischen Disput über die US-Raketenabwehr und deren
Risiken für die strategische Stabilität hineingezogen werden.
Das ist eine Aussicht, die den meisten europäischen Staaten nicht
gelegen kommen kann. Russland wird auf Dauer auch die modifizierte Raketenabwehr
der USA kaum akzeptieren können. Spätestens in der vierten
Phase des Aufbaus der umstrukturierten Raketenabwehr ab 2018/20 sieht
auch Obamas Konzept die Stationierung von Abfangraketen gegen Interkontinentalraketen
„im Norden Europas“ vor. Moskau dürfte darin erneut eine Gefährdung
seiner Abschreckungsfähigkeit sehen oder das Vorhaben gar als Indiz
für eine geheime Erstschlagsplanung der USA werten. Zudem enthält
das veränderte Raketenabwehrkonzept eine neue problematische Komponente.
Im BMDR wird angekündigt, dass die USA Technologien zum „frühzeitigen
Abfangen“ gegnerischer Raketen entwickeln wollen. Dieses Teilkonzept
wird als „Early Intercept“ bezeichnet. Gemeint sind Technologien, mit
denen gegnerische Raketen schon kurz nach dem Start oder sogar noch bevor
sie abgeschossen wurden, zerstört werden können. Mit anderen
Worten: Technologien, die in der NATO eine neue Diskussion über
präventive Einsätze auslösen dürften. Wenn der Aufbau größerer konventioneller Angriffsfähigkeiten
zur Voraussetzung für nukleare Abrüstung gemacht wird, so ist
das ebenfalls problematisch. Zum einen könnte Russland solche Fähigkeiten
als weiteren Teil einer Erstschlagskonzeption werten. Zum anderen wäre
unklar, ob die NATO sich in das Konzept der Prompt Global Strikes einbinden
lässt. Die Gefahr besteht, dass hieraus ein grundsätzliches
Hindernis für nukleare Abrüstung in Europa wird.
Noch komplexer ist ein anderes Problem: Wird die NATO als regionales
Abschreckungssystem mit regionaler Sicherheitsarchitektur betrachtet,
so muss das in Europa ungute Erinnerungen an die NATO-Diskussion der
70er Jahre wachrufen. Damals wollten gerade die europäischen NATO-Staaten
kein regionales Abschreckungssystem, um sicherzustellen, dass die globale
Abschreckung unteilbar war. Sie fürchteten, ein regionaler, auf
Europa begrenzbarer Nuklearkrieg werde sonst denkbar. Dass solche Überlegungen
auch heute in Washington noch existieren, bewies der ehemaligen Verteidigungsminister
James Schlesinger Ende 2008. In einer ausführlichen Studie für
das Pentagon befürwortete er mit Blick auf die erweiterte (also
regionale) Abschreckung eine Wiederbelebung des Konzeptes der begrenzten
nuklearen Optionen, der Limited Nuclear Options. Mit genau diesem Konzept
hatte Schlesinger als Verteidigungsminister Mitte der 70er Jahre die
Befürchtungen über einen begrenzten Atomkrieges mit ausgelöst. Schließlich droht mit der Ankündigung, einen Abzug der nicht-strategischen
Nuklearwaffen aus Europa von Verhandlungen mit Russland abhängig
zu machen, möglicherweise eine jahrelange Hängepartie. Es kann
Washington und seinen NATO-Partnern nicht entgangen sein, dass Moskau
seit Jahren über diese Waffen erst dann reden will, wenn die USA
sie auf ihrem eigenen Territorium lagern. So entsteht nur ein neues diplomatisches
Mikadospiel: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Klar wird: Die Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages
erhält kein starkes positives Abrüstungssignal. Weder durch
den NPR, noch durch den neuen START-Vertrag und auch nicht seitens der
NATO. Mangelnder Fortschritt bei der Abrüstung bedeutet aber wohl
auch mangelnden Fortschritt bei der Verhinderung von Weiterverbreitung.
Kein gutes Omen für New York.
ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für
Transatlantische Sicherheit - BITS.
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